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Das Schönes-Wochenende-Ticket

Ohne das Schönes-Wochenende-Ticket der Bahn hätte ich in den 1990ern viel weniger Zeit in Berlin verbracht, hätte die Stadt nicht so und nicht so ausdauernd kennengelernt, ohne Wochenendticket der Bahn wäre ich vielleicht nie nach Berlin gezogen. Ohne Wochenendticket hätte meine Jugend rund um Stuttgart nicht einmal annähernd an die von Punks im Allgäu herangereicht.

Irgendwie hatten sich im Sommer 1994 ein paar Berliner in unser kleines schwäbisches Städtchen verlaufen. Nach ein paar langen Nächten entstanden Freundschaften und die wollte ich pflegen. Gar nicht so einfach über 650 Kilometer und ohne viel Geld in der Tasche.
Dann führte die Bahn im Februar 1995 diese tolle Fahrkarte ein: 15 Mark, für bis zu fünf Personen, das ganze Wochenende, quer durch Deutschland mit Nahverkehrszügen.
Mit ein wenig Kursbuchlesen (von wegen Fahrplan im Netz abfragen) und kreativer Zusammenstellung der Reisegruppen kam man so beinahe kostenlos vom Neckar an die Spree. Am günstigsten war es, nie zu fünft zu reisen, sondern von Teilstrecke zu Teilstrecke neue Mitreisende für eine Mark oder zwei mitzunehmen. Manchmal war so schon die Reiseverpflegung mitfinanziert.

Als Ende der 1990er das Ticket schon viel teurer war, gab es Verbindungen von der schwäbischen Heimat ins schwäbische Exil im märkischen Sand, die nur zehn bis elf Stunden dauerten. Da fuhren wir dann auf den Abend in die Disco nach Berlin und am Sonntagmittag wieder zurück.
Anfangs dauerte die Fahrt Stuttgart-Berlin aber noch um die 14 Stunden und war Beginn und Abschluss von vielen Berlinurlauben. Oft waren die Züge so voll, dass ich nach Berlin im Stehen kam. Spätestens ab Würzburg waren Loks und Waggons altersschwach, hinter der noch deutlich sichtbaren ehemaligen Zonengrenze galt dies auch für Schienen und Bahnhöfe.
Wurde irgendwo in den Aufbau Ost investiert (und dazu gehörte auch das fränkische Schienennetz), wurde die Fahrt durch ungewisse Schienenersatzverkehrpassagen abenteuerlich. Abenteuerlich waren als langhaariger Hippie mit Palituch auch Aufenthalte an Provinzbahnhöfen in Sachsen-Anhalt, national befreites Gleis und so.

Andererseits, richtig Stress gab es in all den Jahren nur einmal. In Karlsruhe. Und die eigentlichen Fahrten (also im Zug und nicht am Bahnsteig) durch den Osten gestalteten sich im positiven Sinne sehr anarchisch. Die Studenten der Ostunistädte waren entweder noch sparsamer oder mittelloser als ich und kamen einfach in den Zug, wo sie versuchten, möglichst durch nette Unterhaltung kostenlos auf einem Ticket mitzufahren. Jeder gab, was er hatte.
Die Schaffner gaben das Kontrollieren schnell auf. Hatten sie mal jemanden gefunden, der keinem Ticket zuzuordnen war, riefen meist mehrere: Der kann bei mir mitfahren. Gelebte Solidarität.

Mein schönstes Schönes-Wochenende-Ticket-Erlebnis war eine Heimreise von Berlin nach Stuttgart. Ich stieg am Bahnhof Zoo ein und fand Platz neben einem bleichen, dicklichen Teenager, der Landserheftchen las. Er kam aus Marzahn und fuhr das erste Mal zu seiner Lehrstelle als Koch irgendwo hinter Heilbronn und klopfte Faschosprüche.
Ein sympathischer Kerl. Viel mehr als seine braunen Lebensweisheiten mochte ich seine Neugier an all dem, was er noch nie gesehen hatte. Und er konnte einen Mitfahrer brauchen, der Wochenendticketerfahrung hatte. Also reisten wir zusammen.
Irgendwann landeten wir in einem Fahrradwaggon zusammen mit einer älteren Dame, ihrem Rollator, ihrem Schoßhündchen und ihren zwei Stangen Zigaretten. Und: einer circa zehnköpfigen Truppe Punks mit großen Hunden und Ghettoblaster.

Mein Mitfahrer wurde bleich und leise. Sehr leise. Die Punks waren laut. Lauter waren Wizo- und Slime, die aus dem Punkerghettoblaster schrien.

Als erstes freundeten sich die Hunde an. Intensivst. Dann brach die alte Dame das Eis zwischen uns Zweibeinern und schlug einen Deal vor:
Ob die jungen Menschen mit den bunten Haaren nicht auch andere Musik dabei hätten, die ihr mehr zusagen würde. Sie würde auch gern Zigaretten ausgeben. Eins der Mädchen fand tatsächlich ein Smetana-Tape. Die Moldau, so verzerrt und gebrüllt, wie es die Batterien des Ghettoblaster zuließen.
Ich machte Kekse und Butterbrote locker, die Punks Karlskrone und auch der bleiche Junge aus Marzahn öffnete seinen Fressbeutel für die Runde.
Als wir alle getrennte Wege gingen, sagte er zum Abschied: Eigentlich ganz nett, die Zecken.

Neulich sind wir (ein anderes wir als damals) wieder Wochenendticket gefahren. Kostet jetzt umgerechnet über 70 Mark und gilt nur noch einen Tag. Die Züge sind moderner, unbequemer, nicht mehr ganz so voll, aber so langsam wie vor zehn Jahren. Es bleibt die Zeit, sich und andere kennen zu lernen. Es bleiben diese Umstiege genannten Nichtaufenthalte an Bahnhöfen von Städten, die man nie sehen wollte. Kassel zum Beispiel. Es fühlt sich immer noch nach Reisen statt nach Transfer an.
Nicht schlecht.

24 Kommentare

  1. 01

    Achja, Zugfahren und Punks. Das ist wirklich eine völlig andere Welt. Ich erinnere mich. Sommer, heiß, voll, Punks, kurze Hosen, niesende Hunde, feuchte Waden (nein kein schweiß, denke an die Hunde).

    Schlimmer sind eigentlich nur provinzelle Fussballvereine oder Eishokeyclubs mit gefühlten 200liter Sporttaschen/Person, im Gang hausen. Das einzig gute dabei ist wenn alles überfüllt ist, man kann einen Teller vors Klo stellen, wenn man schon davor sitzen muss, bekommt man so wenigstens die Unkosten wieder rein.

    Wie kommt man eigentlich sonst an die Ostsee wenn nicht durchs SchönesWochenEndTicket?

  2. 02

    Zu der Tatsache, dass das Ticket mehr als 4x so teuer ist wie „damals“ solltest du noch erwähnen, daas das mit dem „Ticketsharing“ auch nicht mehr so einfach ist: Mittlerweile muss man die Fahrkarte unterschreiben. Das hat zur Folge dass, wenn man an den falschen Schaffner gerät“ 40€+ Einfache Fahrt+Anzeige mindestens wegen Betrug fällig sind, wenn man das Ticket mit der „falschen“ Unterschrift hat. Bei den Ländertickets ist das nicht anders.

  3. 03
    Stirle

    Kurz nochmal zum mitschreiben … du bist FREIWILLIG stundenlang von Stuttgart nach Berlin getingelt? Huh! Mich bläht das ja schon an, wenn ich nur mal für 1-2 Tage dienstlich mitm Flieger nach Berlin muss. Nun ja, jeder nach seiner Fasson – ich kann es aber beim besten Willen nicht nachvollziehen.

  4. 04
    Philipp@schett.de

    Ey, Kassel ist toll ;) Gut, die Gegend um den Hauptbahnhof herum mit Sicherheit nicht, aber in welcher Stadt ist sie das schon.

    Und ich dachte bisher auch, dass 6 Stunden von Kassel mit dem Bummelzug nach Berlin schon lang sind. Aber gut, es geht anscheinend noch länger ;)

  5. 05
    Kaffchris

    Erwähnt werden sollte auch noch das Zustiege weiterer Mitreisende während der Fahrt zu allergischen Reaktionen seitens der Zugbegleiter führen. Aber ansonsten immer wieder amüsant, solche „Gammelticket“-Fahrten ^^

  6. 06

    In Kempten im Allgäu schließt der Bahnhof nachts. Gott sei Dank gibt es aber eine nette Tankstelle, in der man als Bahnfahrer auf dem Fußboden schlafen darf. Guten Kaffee machen die auch …

  7. 07
    schuelerticket_besitzer

    Ist schon ein lustiges Stückchen Lebensgefühl. Ich kann gar nicht verstehen, wenn manche Leute über die Bahn und die Leute dort meckern – ich find es zur Not einfach nur sehr interessant.

  8. 08

    danke für den artikel. wundervoll.

  9. 09
    Cora

    Ach ja… ohne das Wochenend-Ticket wär Niederbayern in den 90ern nur halb so schön gewesen. Habs damit bis auf (Punk-)Konzerte im Hunsrück und in Offenburg geschafft. Nach Berlin auch gelegentlich. Aber mein Berlin war eher Köln.

  10. 10

    Früher war zwar zugegebenermaßen alles besser, aber Wochenendticket rockt immer noch. Sehr schade ist in den modernen Bombadier Zügen, dass die tollen Springfedersofas nicht mehr existieren :-(

  11. 11

    Hab Lust auf´s Bahnreisen bekommen. Muss mir nur noch ein Ziel überlegen. Aber der Plan steht für die nächsten Ferien ;)

  12. 12
    steffen

    so schlecht ist Kassel nun auch wieder nicht „¦

  13. 13
    daniel

    …wundert(e) es Dich, als Stuttgarter/Schwabe keinen angenehmen Aufenthalt in KA zu haben? ;-)

  14. 14

    interessante story, schwaches ende.

  15. 15
    Schmitt Sebastian

    Bin gerade letztens mit dem „Quer-durchs-Land-Ticket“ (und der Name ist Programm; soll aber wohl abgeschafft werden) von Hamburg nach Karlsruhe getuckert. Mit mir noch ein Fahrrad und ca. 40kg Gepäck. Umteigen durch die hohen Züge nur mit Hilfe möglich…
    Aber definitv war es eine interessante Erfahrung ;-) Kann also die Eindrücke nur bestärken!

  16. 16

    Die Bahn müsste solche Geschichten sammeln und ein Buch daraus machen. Eine bessere Werbung gäbe es nicht. Und keine bessere Möglichkeit, ihre Kunden kennenzulernen. Aber sie ist zu blöd dazu.
    Ein Bekannter von mir organisiert mit seinen Pfadfinderkollegen zusammen jährlich eine Schnitzeljagd durch ganz Deutschland – per Bahn. Die Anfrage, ob es dafür vielleicht einen Zuschuss oder wenigstens günstigere Tickets gibt, wurde nicht einmal beantwortet.

  17. 17

    was gibt es nur immer gegen kassel zusagen :D die haben immerhin einen ice bahnhof und toiletten. wenn man andere städte anschaut die anschlüsse an solche züge haben und noch nichtmal eine toilette dann ist das schlimm. kassel hingegen ist eigentlich ganz gut.

  18. 18
    Jochen

    Ach ja, Deinem ersten Satz kann ich nur beipflichten (bis auf das nach Berlin ziehen, leider) – Freiburg-Berlin in 15 Stunden, und es war immer kurzweilig ! Danke für den Flashback !

  19. 19
    MixMasterU

    Naja, meine letzten „Schönes-Wochenende-Ticket“ Erfahrungen sind nicht ganz so dolle:
    Dieses Jahr, Anfang des Sommers von Stralsund nach Berlin, Sonntag.

    Der Zug war schon am Start extrem voll und dank mangelnder Klimaanlage auf geschätzte 35° angewärmt.

    Während der Fahrt dann das volle Programm:

    – dicke Frau steigt zu, deren Schweißgeruch alle im Waggon erfreut
    – antiautoritäres Kind, macht was es will
    – Rentner versuchen die Fenster zu schließen (die einzige Fischluftzufuhr)
    – in Prenzlau steigen ca. 150 Hertha-Fans ein, inkl. Bundespolizei
    – vor Angermünde, erster Funktionstest der Notbremse
    – 2 Stationen später steigt ein Junggesellenabschiedstrupp von ca. 12 Mann ein, es gibt Stress mit den Herthanern
    – vor Bernau nochmal 20 min Stillstand zwecks Baustelle

    Ankunft in Gesundbrunnen, 1 Woche Urlaub fürn Arsch! Nächste mal wirds dann doch wohl lieber der IC…

  20. 20

    Während ich eben die zwanzig Minuten nach Hause pendelte, dabei den Artikel auf dem Notebook auf dem Schoss auf dem Springfedersofa las, musste ich die ganze Zeit fett grinsen. Danke, sehr unterhaltsam!

  21. 21

    Die Hässlichkeit des Kasseler ICE Bahnhof Wilhelmshöhe wird eigentlich nur noch durch den neuen Berliner HBF übertroffen.

  22. 22
    Sergej

    Sommer 1994.

    Mit dem Wochenendeticket von Chemnitz bis runter nach Straßbourg, an der französischen Grenze ein „richtiges“ Ticket gekauft.
    14 Stunden Fahrt, 13 mal Umsteigen, türkische Großfamilienen, andere Mitreisende („sagmal, hast Du ein Wochenendticket? Kann ich mitfahren?“), ältere Ehepaare, geteilte Reiseverpflegung.

    Vor dem Fenster goldgelbe Felder, den Walkman auf den Ohren, den Geruch von Freiheit in der Nase. Ich möchte diese Erfahrung in meinem Leben nicht missen. Am Ende der Fahrt hatte ich mehr eingenommen von Mitfahrern, als mich das Ticket gekostet hat.

    Und – um mich meinem Vorredner anzuschließen: aus dieser Art von Geschichten sollte die Bahn mal Werbung machen. Die menschliche Komponente des Reisens wird zu oft vergessen.

  23. 23

    Allen Freunden des „alten“ „Schönen Wochenende Ticket“, der Bahn mit Heizung und Abteilen statt Klimaanlage und Großraumdoppelstockwaggons, und da kann ich an den Vorschreiber anschließen: Den Regionalzug von Prag nach Nürnberg nehmen. Großes Kino.

  24. 24
    LaHaine

    Das Lied dazu kommt von der Terrorgruppe: http://www.youtube.com/watch?v=TxvWqGV3oBs