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Mikrokosmos Fußball

worldcup_facepalm

Es ist vielleicht doch kein Zufall, dass das diesjährige Logo der WM einem Facepalm gleicht. Denn es ist eine WM, die fad schmeckt. Die Partien sind bisher größtenteils klasse und machen Spaß, für das erste England-Spiel habe ich mir die Nacht um die Ohren gehauen und es nicht bereut, und dennoch sitzt das Gefühl tief, dass ich diese WM eigentlich nicht genießen darf.

Abgesehen von den widerlichen Geschichten rund um die FIFA protestieren Hunderttausende vor den Stadien, Einsatzkräfte gehen brutal gegen Demonstrantinnen und Demonstranten vor. Kleinste Versuche, Aufmerksamkeit für die Sorgen und Nöte Brasiliens auch in die Stadien zu tragen, werden mit dem eisernen Besen unter den Teppich gekehrt. Nirgends zeigt sich die weit geöffnete Schere zwischen Arm und Reich auf dieser Welt derzeit deutlicher als bei der Fußball-WM in Brasilien.

Das oben beschriebene Dilemma, in dem zur Zeit sicher jeder WM-Fan mit etwas Grips in der Birne steckt, zeigt sich auf Twitter und Facebook in teils drastischen Stellungskriegen: Wer die WM schaut, interessiert sich nicht für das Schicksal der benachteiligten brasilianischen Bevölkerung, so der Vorwurf. Wer Gerechtigkeit liebt, muss die WM boykottieren, so die Forderung.

Und so ist Fußball einmal mehr ein Mikrokosmos, eine Konzentration dessen, was uns als verwöhnte Westeuropäer täglich in vielen Bereichen unseres Lebens umtreiben muss.

Meine Hoffnung ist dabei, dass die Proteste in Brasilien insoweit erfolgreich sind, als dass die Berichterstattung besonders in den Halbzeiten nicht abbricht und somit das Ziel der weltweiten Aufmerksamkeit erreicht wird. Meine Hoffnung ist, dass die politischen Schweinereien, die auf die Konten der FIFA, ihrer Mitstreiter und der brasilianischen Regierung gehen, in den Wochen der WM mehr Beachtung finden als in den Wochen, Monaten und Jahren zuvor. Und mein größter Wunsch ist es, dass die Proteste doch noch ihren Weg ins Stadion und somit auf die TV-Monitore der Welt finden.

Es braucht dafür nur einen mutigen Spieler, eine mutige Mannschaft, denen das sportliche Spiel wichtiger ist als das politische. Ein hochgerissenes Trikot mit der entsprechenden Botschaft darunter würde als Foto um die Welt gehen und allen anderen Beteiligten Anlass geben, die Machenschaften der Strippenzieher hinter einem der größten Sportevents der Welt endlich gezielt anzugehen. Unterstützung gäbe es massenhaft, denn ich bin sicher, dass es den meisten Journalistinnen und Journalisten vor Ort nicht besser geht als uns vor den Fernsehern. Alle wissen, dass hier etwas nicht stimmt, und alle wissen, dass die Fußballweltmeisterschaften der Zukunft für immer zerstört werden, wenn es einfach so weitergeht wie bisher. Wenn uns die WM 2014 schon Magenschmerzen bereitet, könnten uns die nächsten beiden nur noch kotzen lassen.

Ich glaube nicht, dass es besonders viel bringt, die WM 2014 zu boykottieren, indem man den Fernseher ausgeschaltet lässt. Ich glaube, dass es sehr viel mehr bringt, wenn der Fernseher eingeschaltet bleibt und dort neben den Spielen auch die politische Situation, die Proteste und die Demonstrationen dokumentiert werden. Auf dass sich dadurch etwas bewegt.

Es wäre nämlich schön, wenn sich die Weltöffentlichkeit die Fußballweltmeisterschaft nicht wegnehmen lässt, sondern sie sich zurückholt.

23 Kommentare

  1. 01

    ich weiß nicht mehr, von wem das kam, aber irgendwer verglich die wm mit den hungergames. und so fühlt man sich beim betrachten. wie die abgehobene elite, die sich an den spielen erfreut, während draußen die unterprivilegierten die revolution anzetteln.

  2. 02

    @#917094: Ja, so geht mir das leider auch. Ging mir aber auch schon bei den letzten Olympischen Spielen so, und das ist ja auch Sinn und Zwecke der Bücher/der Filme, das genauso ins Gedächtnis zu rufen. „Brot und Spiele“ ist ja auch nichts Neues.

    Wie man damit umgeht, ohne in Depression zu erstarren, weiß ich aber nicht.

  3. 03

    Die WM hat viele verschiedene Zielgruppen. Ich schaue nur alle paar Jahre mal ein Endspiel, aber soweit ich weiß sind die TV-Sender was Fußball betrifft alle gleich aufgestellt. Es wird das Spiel übertragen und drum herum gibt es viel Analyse-Interviews und noch mehr Werbung.

    Ich fände es interessant einen TV-Sender zu haben, der zum einen einfach nur das Spiel überträgt, aber sich vorher, nachher und in der Halbzeit auf die Proteste und Politik konzentriert. Man könnte einerseits Bericht erstatten und ebenfalls Talk-Runden veranstalten, aber mit Fussballern, Organisatoren, Aktivisten und den Lokalen Politikern. Vielleicht würde ich dann öfter mal Fussball schauen.

  4. 04
    dré

    Vielgehörtes Zitat der letzten Tage: „Eigentlich dürfte man gar nicht gucken.“

  5. 05

    So komplex das alles, wo nur anfangen? Eine globale Party, auf die Milliarden Menschen nicht verzichten wollen, hat auf lange Sicht schlecht Karten, wenn der Veranstalter so sehr nervt, dass die Stimmung kippt. Oder anders: Wenn Fußball eine Religion ist (und das ist es oft genug:), dann muss halt irgendwann eine Abspaltung und Neugründung her. Am Ende könnte dann ein neue WM stehen, die nicht mehr von der FIFA organisiert wird. Dafür müssten aber mehrere große Landesverbände (allen voran der DFB als der größte von allen) die FIFA verlassen, um gemeinsam mit anderen von scratch wieder anzufangen.

    FIFA-Bashing allein trifft es natürlich nicht, aber es ist nun mal so, dass sie ein massiver Teil des Problems ist. Und irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass diese Institution in absehbarer Zeit zu den notwendigen Reformen fähig wäre.

    Bis dahin: Den Fußball ruhig genießen, feiern und stetig den Druck erhöhen. Is halt mehr so ein Langzeitprojekt.

  6. 06
    cervo

    Passt nicht ganz zum Thema (aber ein bisschen):
    Brazil 2014: Visualising ancestral and international connections between teams. http://codehesive.com/wc-ancestry/

  7. 07
    jetro

    Ein möglicher Ansatz: Druck auf die Öffentlich-Rechtlichen Sender ausüben, damit keine Gebühren für die Übertragungsrechte der beiden kommenden – gelinde gesagt umstrittenen – Weltmeisterschaften in Russland und Qatar ausgegeben werden.

    @Matthias (05): im Prinzip richtig, aber beim aktuellen Zustand des DFB (Niersbach vs. Zwanziger etc.) leider kurzfristig nicht zu erwarten

  8. 08
    Arne Boecker

    Ich bin ja inhaltlich gar nicht weit weg, aber diese Frage muss dann doch sein: Vor welchen Stadien protestieren denn „Hunderttausende“?

  9. 09
    martin

    John Oliver nennt es ‚das Wurstprinzip‘: http://youtu.be/DlJEt2KU33I

  10. 10
    Barney

    Abschalten scheint mir auch nicht das Richtige. Das würde höchstens funktionieren, wenn das alle machen und ist wohl mehr als utopisch. Am sinnvollsten scheint mir die Sponsoren der WM zu boykottieren. Hätten die tatsächlich signifikante Umsatzeinbrüche, würde keiner mehr gerne sein Logo dort haben und die FIFA wäre zu Reformern gezwungen.

  11. 11
    Jürgen Braatz

    Was ist denn eigentlich Ziel des Beitrages? Ein Land in dem Armut herrscht, darf keine WM veranstalten? Im Baugewerbe herrscht Korruption, deshalb dürfen keine Fußballstadien gebaut werden? Wir Deutschen sollen durch Demos die Lage der Armen in Brasilien verbessern? Oder die Brutalität der Polizei bekämpfen? Ich finde diese Gedanken hochmütig. Brasilien bzw. die brasilianische Bevölkerung und die Regierungen der letzten 20 Jahre machen das ganz prima selbst. Die brauchen uns nicht. Wer alt genug wird (ca. 20 Jahre noch) , wird noch erleben, dass Brasilien uns in der Wirtschaftsleistung überholt.
    In den letzten 10-15 Jahren sind ca. 35 Millionen Brasilianer aus der bitteren Armut in die Mittelklasse aufgestiegen. Brasilien ist eines der wenigen Länder der Welt, in denen die Schere zwischen Arm und Reich sich schließt. Brasilien ist in vielem Vorbild.
    https://www.kas.de/brasilien/de/publications/33999/

  12. 12
  13. 13
    Jürgen Braatz

    Nur noch mal zur Klarheit: Es protestieren nicht die Armen (die geben aber die „schönsten“ Bilder für deutsche Medien her) sondern gerade die aufgestiegene Mittelklasse.

  14. 14
    jetro

    Der Pixelökonom erklärt hier anschaulich das prinzipielle Problem mit einem Verband wie der FIFA: http://pixeloekonom.de/2014/06/17/macht-machtiger-fifa-warum-den-weltfusballverband-nur-einer-bandigen-kann/

  15. 15
    Scott

    @#918489: Brasilien ist, trotz der Verbesserung für die Armen und die Mittelschicht in den letzten zehn Jahren, immer noch ein absurd korruptes und vor allem sozial extrem ungleiches Land. Das Bildungs- und Gesundheitssystem sind ein Witz.
    Es ist gut, daß durch die WM die Probleme Brasiliens an die Öffentlichkeit kommen. Die Proteste richten sich ja nicht nur gegen die FIFA, sondern zeigen auch auf dei Probleme, die das Land seit Jahrzehnten hat.

  16. 16
    Jürgen Braatz

    @Scott Wofür ist es gut, dass du jetzt mehr über Brasilien weißt? Öffentlich ist alles schon lange. Die Brasilianer lösen ihre Probleme selbst, die brauchen uns Deutsche nicht.

  17. 17
    Scott

    @#919227: Das war lediglich eine Anmerkung bzw. eine andere Sichtweise zu Deinem „die Regierungen der letzten 20 Jahre machen das ganz prima selbst“-Post.