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Velvet Revolver

Es gibt zwei Arten von Rockmusik, die ich mag.

Die erste, meine große Liebe, kommt meist (aber nicht ausschließlich) aus Großbrittannien, ist auf der Suche nach der oder irgendeiner Wahrheit, ist sich nie zu schade, auch mal große Töne und Worte zu spucken oder zu säuseln, nimmt sich und mich (manchmal zu) ernst, plant die Weltverbesserung und schafft es, mich wirklich zu bewegen.

The Clash allen voran und mit Ihnen The Specials, Billy Bragg, Johnny Cash, Elvis Costello, Bob Marley, The Libertines, Hüsker Dü, New Order, The Jam und so viele andere machen diese Art von Rockmusik und dafür bin ich Ihnen für immer dankbar.

Die zweite Art von Rockmusik, die ich mag, wird R.O.C.K. geschrieben und manchmal auch Z.I.R.K.U.S., kommt meist (aber nicht immer) aus den USA, plant so ziemlich gar nichts Bestimmtes außer die Erfüllung sämtlicher ROCK-Klischees und setzt dies mit großen Gesten, Tätowierungen und Jack Daniel’s-Flaschen um. In denen oft Apfelsaft ist.

Jederzeit würde ich ein zweistündiges ROCK Konzert für einen dreiminütigen Auftritt von Mick Jones an der Triangel sausen lassen, da Mick Jones gestern Abend aber nicht in Berlin Triangel spielte, ging ich stattdessen zu Velvet Revolver.

Als vor einiger Zeit angekündigt wurde, drei ehemalige Guns’n’Roses Mitglieder (Slash, Duff und Matt Sorum) hätten gemeinsam mit Dave Kushner (irgendwann mal bei Infectious Grooves und auch bei Danzig) und Scott Weiland (früher bei den Stone Temple Pilots) eine neue Band gegründet, war zunächst das Gelächter in der Branche groß: Wie sollten die Jungs jemals einen gemeinsamen Studiotermin finden, es war doch schließlich hinreichend bekannt, dass man aus der Rehabilitationsklinik nicht so einfach rauskommt?

Als dann jedoch mit „Contraband“ das Velvet Revolver Debüt erschien, wurde das hämische Lachen schnell erstickt. Eine makellose ROCK Platte lag da vor, ein Album das klang, als wären die letzten 15 Jahre nicht passiert, als wäre es kurz nach „Welcome To The Jungle“ erschienen. Aus dem Lachen wurde ein Lächeln. „Contraband“ macht einfach enormen Spaß. ZIRKUS eben, aber guter.

Genau das, einen Zirkus nämlich, erwartete ich also gestern Abend in der Columbiahalle und wurde nicht enttäuscht. Vorweg für die Eiligen: Ja, am Ende spielten alle mit freiem Oberkörper und ja, es gab einige Guns’n’Roses Songs zu hören.

Aber der Reihe nach.

Etwa 1.500 Menschen wollten wie ich dabei sein, als der Zirkus in die Stadt kam. Darunter einige Altrocker, ebenso viele Jungrocker, viele hübsch anzuschauende Alt- und Jungrockerinnen, eine ziemlich sehr dicke Frau mit einem ganz kurzen, etwa vier Nummern zu kleinen, schwarzen Kleid und einem ganz großen Zylinderhut auf dem Kopf (es gilt natürlich wie immer: Jedem das Seine, und ich beurteile Menschen nicht nach ihrem Gewicht, wohl aber nach Ihrer ästhetischen Selbsteinschätzungsfähigkeit und daher darf die Frage erlaubt sein: „Warum?“) sowie vier junge Herren, die sich als Guns’n’Roses verkleidet hatten und durch recht aggressives Verhalten gepaart mit bereits vor dem Konzert sehr hohem Alkoholspiegel auffielen. Letzteres ging offensichtlich nicht nur mir auf den Wecker, denn als zwei der vier Jungs kurz vor dem Auftritt von Velvet Revolver von den Ordnungskräften sehr (sehr) unsanft, aber scheinbar zu Recht unter dem Applaus der übrigen Besucher aus den vorderen Reihen entfernt und aus dem Saal geschmissen wurden, reckten sich etwa 150 Mittelfinger in ihre Richtung. Da freut man sich wahrscheinlich jahrelang darauf, endlich mal die eigenen Helden live sehen zu können (denn die Typen waren zu jung, um G’n’R erlebt zu haben), verkleidet sich extra und betrinkt sich amtlich, um dann vor dem Gig vor der Tür zu landen. Pech gehabt, nächstes Mal eben nicht wie ein Arschloch aufführen.

Die Backyard Babies waren als Support Act ausgefallen, stattdessen spielte eine mir nicht bekannte Band, die sich nuschelnd als „Wir sind mnmhmn aus Hamburg“ vorstellte und aus meiner Sicht eher eine Art Emo-Rock spielte, zumindest die zwei Stücke lang, die ich ertrug. Begeistert war wohl niemand so recht, als die drei jungen Männer inklusive sehr, sehr (also zu) schüchternem Sänger mit sehr weiblicher Stimme anfingen, bedeutete dies doch nur noch längeres Warten.

Und gewartet haben wir. Bis 22.30h genau gesagt, und das bei einem Konzert, das um 20h angesetzt war. Natürlich wurden die Buh-Rufe und fliegenden Becher, die ab 22h eingesetzt hatten, mit dem Erlöschen des Saallichtes sofort eingestellt und wichen, zumindest bei mir, ungläubigem Staunen.

Lächerlicher hätte der spindeldürre Scott Weiland wohl kaum auf die Bühne kommen können. Schwarze Lederhose, schwarze Lederjacke und dazu eine vermutlich frisch und nicht selbst gekaufte DDR-Grenzsoldaten-Mütze ließen ihn aussehen wie die ausgehungerte Version von Rob Halford, Gestik und Bühnengehabe dagegen waren eine Axl Rose Persiflage. Ich habe mir von MC Lücke, den ich auf dem Konzert traf und der immerhin beim ersten Berliner Stone Temple Pilots Gig eine von Scott Weiland geworfene Bierdose an den Kopf bekommen hatte, bestätigen lassen, dass Weiland sich bei seiner früheren Band nicht so bewegte.

Der grandiose Album-Opener „Sucker Train Blues“ (iTMS Link) musste logischer Weise auch als erstes Stück des Live Sets herhalten. Ist jemandem außer mir mal aufgefallen, dass die Strophen genauso klingen wie die von „Guten Tag“ von Wir sind Helden, was aber daran liegt, dass sich beide Stücke an „Subterranean Homesick Blues“ von Bob Dylan orientieren und Velvet Revolver das ja sogar im Titel des Songs andeuten, während Wir Sind Helden das vielleicht ganz unbewusst gemacht haben? Ja? Schön.

Ich hatte mich nach etwa drei Nummern noch immer nicht an Scott Weiland gewöhnt, selbst wenn er inzwischen die alberne Mütze abgenommen hatte, und vermied den Blick auf ihn. Das Gepose vom Rest der Kapelle war auch viel schöner. Schweißüberströmt, die Gitarren und den Bass tief auf den Knien hängend und zwischendurch gerne mal auf den Monitorboxen balancierend hüpften Slash (etwas runder geworden, steht ihm aber ganz gut), Duff (sieht erschreckend aus, man glaubt jede Drogengeschichte sofort) und Dave (ich bleib jetzt mal bei den Vornamen), der am trainiertesten erschien, über die Bühne als würden sie einen Workshop mit dem Titel „How to pose in Rawck and Rawl“ präsentieren. Gemeinsam mit der unglaublichen Lautstärke war es also genau so, wie man es haben wollte. Ich fand es wirklich erwähnenswert laut, begrüßte das aber, denn erstens hört man ja in meinem Alter nicht mehr so gut und zweitens sehe ich nicht ein, warum es nachfolgenden Generationen in dieser Hinsicht besser gehen soll.

Matt Sorum gab übrigens auch eine recht gute Figur als Trommler und konstanter Backingsänger ab, jede Band steht und fällt mit ihrem Drummer und diese Band stand definitiv.

Dennoch, und das muss ja auch nichts Schlechtes sein, fühlte man sich zuweilen wie in einem Tarantino Film, in dem eine Zombie-Band auf der Bühne spielt. Das ewige Faszinosum rockender Drogenabhängiger bleibt ein Rätsel, zeigte aber mal wieder seine Wirkung nicht nur beim Publikum, denn die Auswahl von „Mr. Brownstone“ (iTMS Link) als eine der drei G’n’R Coverversionen war wohl auch nicht zufällig. „It’s so easy“ (iTMS Link) war übrigens eine der anderen beiden.

Das dritte übernommene Stück, das Velvet Revolver dann im Zugabenblock spielten, war einer meiner G’n’R Favoriten: „I used to love her (but I had to kill her)“ (iTMS Link), einer der bescheuertsten und sexistischsten Songtexte, der jedoch in seiner ambivalenten Paarung mit einem Countrysong witzig und fantastisch wird und sich damit meilenweit von dumpfen, offensichtlichen und damit wertlosen Provokationen durch Tabuthemen mit ganz doll lauter und hui hui super brutaler Musik im Stile von Rammstein absetzt. Falls es jemand wissen wollte.

Ebenfalls in einem der zwei Zugabensets: „Sex Type Thing“ (iTMS Link) vom ersten Stone Temple Pilots Album, voll in Ordnung. Und als sich Velvet Revolver als bekennende Hardrock Freunde der alten Schule mit dem Cheap Trick Song „Surrender“ (iTMS Link) verabschiedeten, waren alle so zufrieden, dass sie nicht einmal nach mehr verlangten.

Es gab Zeiten, in denen ich mich vor mir selbst zu rechtfertigen suchte, wenn ich entdeckte, dass ich solchen Rock’n Roll Zirkus manchmal mochte. Ich sollte es schließlich besser wissen, die ganzen Posen und Klischees durchschauen, intellektuell darüber stehen und auf das Theater pfeifen.

Bei der nicht zu übersehenden Menge an Totenkopf-Tüchern, -Hemden und -Emblemen am gestrigen Abend musste ich jedoch an meinen älteren Sohn (jetzt fünf Jahre alt) und seine derzeitige Vorliebe für Piraten und Totenköpfe denken und fand diesen Zusammenhang die eindeutigste Erklärung für die Faszination, die solche Art von ROCK ausstrahlt: Sie lässt jeden und jede, egal wie alt, wieder Kind sein. Verbotene Dinge tun, Krach machen, wild und blöd rumhampeln, sich verkleiden, wie man will (auch wenn’s farblich nicht zusammenpasst) und essen und trinken, worauf man gerade Lust hat.

Tief im Herzen, mein Kind, sind Erwachsene nämlich auch manchmal gerne Piraten.

1 Kommentar

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    Hey…super artikel!!..nich nur wunderschön zu lesen, auch bei dieser länge…sondern gefällt mir auch von deiner auffassunf vonVR, als fan, sehr gut!
    Hehe, eigentlich lese ich solche sachen im net nie…aber hier bin ich hängen geblieben!
    check it out…www.neurotic-underground.de ….Rockkapelle aus Duisburg
    Gruß, Patrick