14

1977

I live by the river!

– Werbung in eigener Sache –
Der folgende Text und 14 weitere Kracher der Unterhaltungsliteratur befinden sich in dem eBook „I live by the river!“, das man hier für lächerliche € 0,99 kaufen kann und auch soll! Infos dazu gibt es auch hier.
– Ende der Werbung in eigener Sache –

Der zweite Teil der sehr zusammenhanglos geschriebenen und veröffentlichten Plan B Historie ist fertig. Und ist wohl eher ein erster Teil. Und hat zunächst gar nichts mit Plan B zu tun.

Wir schreiben das Jahr 1977.

Ich bin ich dreizehn Jahre alt.

Die Kleinen, frisch am Gymnasium und quer über den Hof verteilt, sind mit Einkriegespielen beschäftigt.

Die Mittleren, schon eine Weile dabei, befinden sich mitten in der Stilfindungsphase. Besondere Merkmale: Sehen komplett scheiße aus und versuchen erfolglos cool zu sein.

Die Älteren. Dürfen in der Raucherecke stehen, rauchen daher auch alle und tragen alle ausnahmslos Pali-Tücher und Parkas, sehen somit wirklich cool aus. Glauben sie wenigstens.

Die Kleinen himmeln die Mittleren an, die natürlich die Älteren bewundern. Ich gehöre zu den Mittleren und jeder hat einen Spitznamen, der fast immer aus der erste Silbe des Nachnamens und einem angehängten „-ie“ besteht. Meine besten Kumpels heißen „Stiffie“ (Jörg Stiffel) und „Skolie“ (Andreas Skolaster), ich bin „Häussie“ (das „ae“ lassen wir mal weg).

Wir wissen zu dieser Zeit noch nicht, dass man seine gesamte Freizeit mit Masturbieren verbringen kann, aber wir haben eine Vorahnung und sie trägt den Namen Suzi Quatro. Ansonsten hören wir Queen (die harten Sachen), Supertramp (wegen der Mädchen), Status Quo (die engen Jeans!) und ein wenig Glitterrock. Sweet und Slade sind noch übriggblieben und Kiss schießen auf der Bühne Bravo-Berichten zufolge Feuer aus ihren Gitarren, entsprechen also Göttern. Led Zeppelin, Black Sabbath: Alles etwas zu heavy für uns kleinen Pimpfe.

Andreas Hartmann, der als Ausnahme der Regel und ob seines beneidenswerten Namens eher selten „Hartie“, sondern „Hartmann“ genannt wird, sieht nicht nur aus wie Freddie Mercury. Er kennt alle Queen-Texte, hat vor allem auch die Platten dazu und ist mit seiner Performance der Hit jeder Party, bei der er zum Playback durch die Wohzimmer unserer Eltern springt, inklusive Ausfallschritt nach vorn mit lanzenartig nach vorn gerecktem Mikroständer und Oberkiefer überhängen lassen. Ein Jahr später wird Hartmann außerdem der Erste sein, der beim Abtrocknen nach dem Schwimmen nicht dicht an den Kleiderschrank gedrängt mit dem Rücken zu den Kumpels steht, sondern mitten in der Umkleidekabine. Denn er hat jetzt Haare am Sack.

Mein Blick wandert über den Schulhof und bleibt in der Raucherecke stehen. Ich kenne alle Älteren (vom Sehen), aber den da nicht. Zwischen den langhaarigen Parkas steht ein Typ mit einer Motorradlederjacke, wie sie Rocker tragen. Seine Frisur erinnert an Filme von James Dean (Filme sind nicht „mit“, sie sind immer „von“, und zwar ihrem Hauptdarsteller), aber das Wichtigste, das Unfassbare, das, was diesen Moment zu dem macht, was er für immer sein wird:

Er trägt knallenge Jeans, die am Knie zerrissen sind.

„Der is‘ Punker“, attestiert ausgerechnet Christoph Rohner, dessen Musikwissen eher nicht existent ist. Die folgenden Wochen verbringe ich mit intensivem Studium sämtlicher BRAVO Ausgaben zum Thema. Die Sex Pistols spucken auf Bildern in die Kamera und tragen zerrissene Pink Floyd T-Shirts. Das imponiert mir enorm, denn ich hasse Pink Floyd und bin froh über Menschen, die älter als ich sind und mir dennoch Recht geben. The Clash sehen unglaublich aufregend aus mit ihren selbst besprühten Hemden und ihren Posen. Die Sache mit den Sicherheitsnadeln in der Wange macht mir zu schaffen, aber da ich sie immer nur bei den Fans und nicht bei den Bands sehe, gibt es Hoffnung. Die Tatsache, dass offensichtlich die gesamte bestehende Musikwelt Punk hasst und dass das den Punkern selbst komplett egal ist, trägt weiterhin dazu bei, dass ich mehr wissen will.

Es gibt nur einen Weg, der Sache näher zu kommen. Ich muss den Typ mit den zerissenen Jeans kennen lernen.

Er heißt Raymond Ebert. Man behauptet, er würde in der ersten Punkband Deutschlands spielen, deren Name allein bei mir Herzklopfen auslöst: PVC. Die drei Buchstaben als Bandname bedeuten für mich zeitgleich Revolution, Gesellschaftskritik und verbotener (und vor allem noch völlig unbekannter) Sex.

Raymond ist der Sohn des Hausmeisters der Schule, was ihn zu dem Privileg eines eigenen, mysteriösen Raums in den Kellern der Schule verholfen hat, in welchem sich von ihm authorisierte Teile der oberen Semester in den großen Pausen treffen. Der Zugang zum Punkrock, soviel steht fest, ist baugleich mit der Tür zu Raymonds Privatraum im Keller unserer Schule.

Meine Mutter ist begeistert, als ich von meiner Kurzhaar-Idee berichte und im Gegensatz zu mir ist sie vom Resultat der Umsetzung begeistert. Endlich mal was Anständiges. Ich selbst fühle mich wie der Igel aus dem Werbefiguren-Sortiment der Salamander-Schuhgeschäftkette, denn das, was ich nun auf dem Kopf trage, nennt man „Meckie-Schnitt“. Nicht sehr Punk attestiere ich mir selber, sehe es aber als ersten Schritt, dem dringen weitere folgen müssen.

Vor allem muss dieser Schritt reichen, um an die heilige Pforte klopfen zu dürfen. Was ich eines Tages tue.

Die Tür eröffnet den Blick auf einen sehr kleinen Raum, zugequarzt bis zum Ende. Hinter den Rauchwolken vermute ich etwa vier Personen und bereue meinen Mut gleich bei der ersten Musterung meiner Person durch Raymond, begleitet von dem gastfreundlichen Satz:

„Watt willstn DU hier?“

„Öhm…. ich…. also… Hast du Punkplatten?“

Schallendes Gelächter aus dem Raum, na klar. Aber auch ein wenig Respekt vor dem kleinen Hosenscheißer, der sich was traut.

„Ick hab ALLE Punkplatten, Alter.“

Die Tatsache, dass Raymond sich wieder in den Raum verzieht, ohne mir die Tür vor der Nase zuzuknallen, verstehe ich als Einladung. Schweigend sitze ich als Nochnichtraucher in dem engen Raum, während Raymond in seiner tatsächlich beachtlichen Plattensammlung blättert.

„Ditt musste haben, Alter. Und ditte hier und ditte. Ditt is Punk.“

Das knallgelbe Sex Pistols Album, das im Fotokopie-Stil gehaltene erste Clash Album sowie die erste Vibrators LP liegen vor mir und brennen sich in meine Gedächtnis ein, als ginge es darum, sich den PIN-Code für die eigene EC-Karte zu merken (wobei es zu dieser Zeit noch gar keine PIN-Codes für EC-Karten gab, schon gar nicht für Dreizehnjährige, was den Vergleich ziemlich hinken lässt).

„Sex Pistols kenn‘ ick schon!“, gebe ich an. Viel mehr kann ich nicht sagen, denn als nächstes legt Raymond eine der Scheiben auf und mir donnern Gitarren, Schlagzeuge und Stimmen um die Ohren, die mein gesamtes bis dahin mühsam erarbeitetes und zugebener Maßen nicht sehr umfangreiches musikalisches Weltbild zerstören.

Etwa zehn Minuten später klingelt es und ich muss zurück. „Kannst ruich wieda vorbeikomm, ick hab dauernd neuet Zeug“, ermutigt mich ein grinsender Raymond.

Als ich wenig später meine Klasse betrete, bin ich etwa fünf Jahre älter und – zumindest im Geiste – ein Punkrocker. Mit der Schere aus meinem Stifte-Etui beginne ich, an den Knien meiner Jeans entlang zu schaben und am Nachmittag des gleichen Tages werfe ich meine bisherige, etwa fünfzehn Vinylscheiben umfassende Plattensammlung in die Mülltonne auf unserem Hof. The Sweet, Supertramp, Alan Parsons, Status Quo…. Ich will sie nicht einmal verkaufen.

Sie werden nicht mehr gebraucht.

Von niemandem.

14 Kommentare

  1. 01
    David

    Was du alles schon gemacht hast als ich gerade mal versuchte den Schliessmuskel so zu trainieren, dass ich Mami im richtigen Augenblick gluecklich machen konnte…

  2. 02
    mausetot

    ach ja, damals… damals passierte wenigstens noch was neues.

  3. 03
    der alex

    Ich erinnere mich noch, wie die diese Story mal im Soundgarden (oder bei Kuttner?) erzähltest.. sehr groß … gibts eigentlich Bilder aus dieser Zeit? ;o)

  4. 04
    johnny

    >>gibts eigentlich Bilder aus dieser Zeit?

    Hoffentlich nicht!

  5. 05

    coole Story! – bei mir waren es die (heute) verhassten Ärzte, die dann erst den Ramones und schließlich Plan B wichen *gg* – sind nicht in der Tonne gelandet aber schnell vom Plattenspieler (so ein Ding mit dem man mal Musik hören konnte) meines Bruders verschwunden. So löst gutes eben … ab.
    Mein Bruder war es auch, der mir dann endlich meine erste Plan B Platte schenkte und, hm, schon wieder ohne ‚Gimme the reason‘ aus dem ‚Johnny Guitar‘ Film. Doch wow, so viel gibt es schon von Plan B!? – ich muß damals so um die 13 gewesen sein mit Duracellkopf weil ich das heimlich aufgetragene Färbemittel zu kurz drin gelassen hatte, hehe…

  6. 06
    Karsten

    richy guitar hiess der film *klugscheiss*

  7. 07
  8. 08
    Karsten

    och fand den damals sehr amüsant.. und wenn er ab und an im tv läuft und ich beim zappen hängen bleib, seh ich es mir auch wieder an.. und finds nach wie vor amüsant ;)

  9. 09

    ja, vor allem Plan B. Auf DVD gibts noch extra Szenen. Ich muß nochmal reinschauen, ob auch extra Plan B dabei ist (hatte beim anschauen ein Bierlie, oder 2 getrunken).

  10. 10
    Katharina II.

    Nette Story, danke! Und viele Erinnerungsfetzen kommen mir da – ich wechselte damals ziemlich nahtlos vom Langhaar-PLO-Tuch-Parka-Look zum buntgesprühten Lederjackenlook („Who killed Bambi“ und „Legal -Illegal -Scheissegal“) samt „Crazy Colour Pink“ Kurzhaar (äusserst mühevoll, jedem einzelne Haar eine andere Länge zu verpassen, um den „braven Igel“ zu vermeiden, und dann natürlich nie mehr waschen, damit sie auch alle gut stehen!). Nach ca. einer Woche sah die Haarfarbe wie Rote Grütze mit Vanillesauce aus, es gab ständig rosa Kopfkissen, Handtücher, etc. – aber das gehörte zweifelsohne dazu. Leider verwechselte ich damals den Wunsch nach echter Freiheit und Unabhängigkeit, die mir Punk zu verheissen schienen, mit dem Wunsch, möglichst viele schädliche Substanzen von Alkohol bis Zokain in mein System zu integrieren, um dann gelegentlich wirren Krach mit meiner E-Gitarre zu fabrizieren und möglichst sarkastische, gesellschaftskritische, revolutionäre oder gar destruktive Gedichte zu schreiben, alles natürlich innerhalb einer coolen WG und Clique (ich war 17/18 und es war 78/79). Ein Grossteil der vermeintlichen Freiheit verwandelte sich später in äusserst unangenehme Abhängigkeitsverhältnisse, die alles andere als frei waren. Ich sehe heute die Rolle der Medien und Statements von Rockstars in diesem Zusammenhang äusserst kritisch, egal, ob hippie-, rock-, techno- oder punkorientiert, und kann zumindest von mir selbst sagen, dass ich damals unbedingt „das“ haben wollte, was „die“ (Bowie, Reed, VU, später dann Sex Pistols, PIL, Clash, Gang of Four, Bauhaus, Tuxedomoon, etc.) hatten, und da sie alle ausnahmslos ziemlich fertig aussahen, schien mein Verständnis von der allumfassenden Freiheit die richtige zu sein, denn schon bald – oh Wunder – sah auch ich so richtig schön abgefuckt und fertig aus. Leider blieb meine Kreativität dabei völlig auf der Strecke und verwandelte sich in pure Destruktivität mir selbst und anderen gegenüber. – Heute brauche ich glücklicherweise keinerlei Substanzen zum „Freisein“ mehr, und kreatives Potential hat mich zum Glück nur vorübergehend verlassen. Ich schätze inzwischen die Erfahrungen unzähliger abstruser Highlights und jeder Menge Spass aus den „guten alten Zeiten“, die ich keinesfalls missen möchte. Z.B. unsere radikalen Weihnachtsfeiern mit dem Sex Pistols Film „The Great Rockn‘ Roll Swindle“ im Kant-Kino / Gang of Four Konzert im SO36, bis zu den Dr. Martin’s Waden in Beer und Wee, weil ja die Klos nie funktionierten…der mühsame Weg, sich durch die Hinterhöfe mit Aldi-Sixpacks bewaffnet den Eintritt zu erschleichen war das eigentliche Abenteuer vor’m Gig / jeden Tag neue Mode zu kreiren, in dem alles ein bisschen bunter und abgeranzter gestaltet wird / als ich mir beim Sport-Abi eine üble Sehnenverletzung am Fuss zuzog, aber trotzdem eisern jedes Wochenende im „Excess“ in wildem Pogo abtanzte und somit jeden Montagmorgen mit gebrochenem Gips beim Arzt auf der Matte stand…
    Danke für das Zurückbringen all dieser Erinnerungen – freue mich schon auf deine Memoiren :)

  11. 11
    Katrin

    mein erstes Konzert war Ramones mit Vorband Plan B. Mein Bruder (5 Jahre älter) erklärte mir wie man sich auf sein erstes Konzert vorbereitet: die Platten der Vorband kaufen und auswendig lernen. Das tat ich auch mit meinen 13 Jahren. Er ging dann mit seinen Freunden feiern und stellte mich im Hamburger Docks oben auf der Galerie ab – ich sanh aus vollen Halse mit und die Punker um mich rum guckten mich alle mürrisch an… Aber seitdem bin ich aus tiefsten Herzen Plan B Fan.

  12. 12

    Hallo, ich werde auf meiner Webseite in Kürze einen Blog einfügen lassen. Da mich das Thema Ausmusterung nicht nur interessiert, sondern ich da auch unterstütze möchte ich gerne die Trackback Funktion nutzen, kenne mich da aber nicht aus. Weißt Du wie ich einen Trackback von Deinem Blog zu meiner Seite http://www.ausmusterung.biz setzen kann? Viele Grüße von Martin aus Köln