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Go ahead, London

Die Titelzeile stammt aus dem Song „B.A.D.“ von Big Audio Dynamite.

Obwohl es in der „Guten Woche“ nie darum ging, das Leben schön zu reden (nicht mal meine ganz persönliche Woche war das wirklich, doch das Ziel der „Guten Woche“ war ja auch kein „Carpe diem“- oder „Alles wird gut“-Gewäsch sondern der Versuch einer persönlichen Neufokussierung und Blickwinkel-Änderung), könnte es im Moment missverstanden werden, vor jedes Posting ein „DGW“ zu setzen. Was wiederum nicht bedeutet, dass die erwähnten Neufokussierungsversuche keine Spuren hinterlassen hätten, aber dazu später mehr.

Die Gründe für die gestrige Stille meinerseits waren weniger die Anschläge in London als ganz profane, aber wichtige private Ereignisse, die persönlichen Vorrang hatten. Täglich sterben Menschen durch Gewalt, Schweigen ist sicher nicht die richtige Reaktion darauf.

Abgesehen davon passt es manchmal aber dennoch, für ein paar Stunden die Klappe zu halten. Zuhören und Lesen erschien sinnvoller: Blogs aus London mit emotionalen Äußerungen und persönlichen Eindrücken teilten sich meine Browser-Tabs mit denjenigen Nachrichtenquellen, die direkten Zugriff auf Agenturmeldungen haben und ansonsten gibt es auch noch gute Radiosender. Mir egal übrigens, ob Blogs „wichtig“ sind oder eine „Macht“ besitzen, die sie meistens gar nicht anstreben: ich brauche diese Quellen mittlerweile mindestens ebenso wie andere Medien. Das Fernsehen explizit ausgeschlossen. Television is dead, but the screen comes out alive.

CNN-Screenshots auf Flickr zu posten dürfte jedoch die ultimate Bandbreitenverschwendung sein und ansonsten gilt wie immer: nicht zu wichtig nehmen, y’all. Aber auch nicht zu unwichtig. Selbst wenn das Inter- bzw. Arpanet u.a. für genau solche Fälle konzipiert wurde, kann und wird auch das Netz mal ausfallen und dann brauchen wir Kommunikationslösungen ohne Ethernet. Mund-zu-Mund-Beatmung.

Es bleibt das Kopfschütteln über Tony Blairs Reaktion voller weiterer „if they think they can…“- und „we will not let them…“-Kriegserklärungen, die aus der emotional geladenen Tastatur von Bloggern verständlich und mit dem Zusatz „Right now, a million kettles are boiling“ sympathisch sein mögen, nicht jedoch aus dem Mund eines Staatmannes. Populismus hin oder her.

Und es bleiben zwei persönliche Wünsche.

Ich würde gerne sehen, dass von Seiten „unserer“ Politik endlich Ursachen angegangen werden, und nicht mehr nur Symptome. Und ich wünsche mir offizielle Distanzierungen der muslimischen Gemeinden von terroristischen Gewaltakten. Dem aktuellen, täglichen Zusammenleben würde beides enorm helfen.

„You must not become a monster to defeat a monster.“
Bono, ebenfalls populistisch, doch mit anderem Unterton, beim gestrigen U2-Konzert in Berlin.

Das gilt für alle.

19 Kommentare

  1. 01

    Mit der fehlenden Distanzierung von Muslimischen Gemeinden vom islamistischen Terror gebe ich dir völlig recht.

    Islamisten werden heute automatisch im Kontext mit Terror gesehen. Das muss die doch auch stören, oder?

  2. 02

    „You must not become a monster to defeat a monster.“

    Das erinnert mich an einen Spruch einer damaligen Mitschülerin, den sie während einer Party in einen Holztisch ritzte: „War against violence is like fucking for virginity!“

    Nun, derartige Aussagen sind eben das, was man im QWERTZwerk unter Schulhof-Solidarität versteht. Immer alles schön den übersensiblen Pädogogen nachplappern (wenn auch nicht in diesem Ton), aber auch nicht wirklich fähig sein, eigene Lösungsansätze zu entwickeln oder über den Tellerrand zu schauen. Man nehme zwei Länder/Weltanschauungen als Symbole, darunter zwei Menschen als Symbole.

    Land A — PENG! —> Land B (aua! aua!)

    Ein wenig Kollateralschaden hier, ein bisschen Streuwirkung dort – unterm Strich ist der Schaden innerhalb der Größenrelationen gering(er). Da man sich als Einwohner eins betroffenen Landes nicht wirklich zu den Getroffenen zählen kann (sofern man auch nicht wirklich getroffen worden ist), bleibt lediglich ein kleiner gefühlter stechender Schmerz im Herzen übrig, der längst nicht groß genug ist, um zu sagen: „Jetzt schlag ich zurück, Bastard!“ Alles ist also noch nicht so schlimm, um sagen zu dürfen, dass man nicht zum Monster werden sollte. „Das kriegt man bestimmt auch anders geregelt“, heißt es dann. Die andere Seite:

    Mensch A — PENG! —> Mensch B (aua!)

    Klar, hier ist das Leben direkt betroffen und bevor mich einer über den Haufen schießt, also direkt mit mir mit gezogener Waffe konfrontiert ist, schieße lieber ich zuerst, um mein Leben zu retten. Ich MUSS also zum Monster mutieren, um selbst die Monster zu töten. Es bleibt keine andere Wahl, denn die Größenrelation beschränkt sich auf das eigene kleine Ich. Gott, wie wichtig DAS ist! Tony Blair ist also London, London ist Großbritannien. … usw.

    So, die Mittagspause ist nun rum, und ihr wisst, was ich meine. Kriege sind leicht mit Gegenangriffen zu bekämpfen, aber genauso leicht und naiv ist es zu sagen, Gewalt solle nicht mit Gewalt gelöst werden. Es bleibt also nichts weiter übrig, als die Ursachen anzugehen, wie Johnny schon sagte.

    Um die Sache mit einem Zitat von Nietzsche abzuschließen:
    „Eure Arbeit sei ein Kampf, euer Friede sei ein Sieg!“

    Listen carefully.

  3. 03
    tanja

    Zum Thema „Distanzierung“ hat sich Wolfgang Schäuble gestern bei Maybritt Illner sehr vorsichtig geäußert, indem er davor warnte, die islamische Gemeinschaft vorschnell anzufeinden, es aber diesbezüglich als hilfreich und wünschenswert sähe, wenn sich diese deutlich und öffentlich von den Anschlägen islamistischer Gruppierungen distanzierten.
    Auch wenn der Vergleich hinkt, erinnere ich mich doch an die Nazi Anschläge auf Ausländerwohnheime in Deutschland, die massive Gegenbewegung auch bislang unpolitischer Menschen hervorriefen.
    Und das sicher auch aus der Motivation heraus, daß man als Deutscher nicht mit einer handvoll jugendlicher Faschos vermengt werden möchte, die es schaffen, internationale Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
    Nun ist die Al-Qaida sicher nicht mit einem Haufen rechter, krimineller Brüllaffen zu vergleichen, dennoch oder eben drum wünsche ich mir ein klares, lautes „Ohne mich!“ meiner moslemischen Nachbarn.
    Auch, um „Ausländer raus“ Rufern den Mund zu stopfen.

  4. 04

    > Und ich wünsche mir offizielle Distanzierungen der muslimischen
    > Gemeinden von terroristischen Gewaltakten. Dem aktuellen, täglichen
    > Zusammenleben würde beides enorm helfen.

    Hat bisher auch noch keinmal gefehlt.

    http://www.diyanet.org/de/startseite/index.php
    http://www.igmg.de/index.php?module=ContentExpress&func=display&ceid=1706&itmid=1

    um nur mal zwei der größeren in Deutschland zu nennen.
    Und dashier:
    http://www.wdr.de/themen/politik/veranstaltung/muslime_demonstration/index.jhtml
    hat auch nicht viele gejuckt, die immer flott sind mit solchen Forderungen. Sind ja lustigerweise manchmal auch dieselben, die immer meinen es müsse mal gut sein, mit dem als Deutsch-sprechender von Greueltaten gegen die Juden distanzieren-zu-müssen. Man habe ja nichts mit denen zutun gehabt.

    @Bjørn: Wer schon nicht mal zwischen Islamisten und Muslimen differenzieren kann, zeigt -für mich – das man sich nie mit dem Thema beschäftigt hat, und dass man sich auch nicht für die Menschen interessiert die man da so bequem anprangert.

  5. 05

    Dem kann ich zustimmen, absolut. Was genau so wichtig wäre wie der „Kapf gegen den Terrorismus“ wäre ein „Umgang mit dem Terorismus“. Und gewiss nicht aus Resignation sondern vielmehr aus dem Verständnis heraus, dass sich Terrorsismus in einer freien Gesellschaft niemals hundert Prozent verhindern lässt, es sei denn, die Freiheit wird aufgegeben.
    Bleibt zu hoffen, dass aus diesem Wahnsinn heraus wenigstens die Chance wächst, sich innereuropäisch ein wenig zubesinnen

  6. 06

    Sencer, vielen Dank für diese Links, die ein weiteres interessantes Licht auf die öffentliche Darstellung in den Medien (der auch ich unterliege) werfen.

    Woran liegt es, dass solche Statements, solche Demonstrationen nicht in den Nachrichten auftauchen?

  7. 07

    @ Sencer: Du hast natürlich recht.
    Es sollte Muslimen heißen und nicht „Islamisten“.

  8. 08

    Sie sind ja aufgetaucht, wenn auch meistens nur in einem Nebensatz. Ich denke einfach mal, es passt nicht ganz so gut in das schwarz/weiß-Bild was viele Mainstreammedien heute gerne verkaufen (nicht nur bei diesem Thema); deswegen nur eine kurze Erwähnung, wenn überhaupt.

  9. 09

    Die „Islamische Gemeinschaft Mili Görüs“, die oben im Kommentar von Sencer verlinkt wird, stand oder steht noch auf der Liste der vom Verfassungsschutz beobachteten tendenziell als verfassungsfeindlich angesehenen Gruppierungen mit islamischem bzw. islamistischem Background.

    Dies als Info aus einer Diskussionsgruppe bei jonet.org.

    Ein 119-Seiten-PDF mit dem Titel „Islamismus – Diskussion eines vielschichtigen Phänomens“ vom Verfassungsschutz gibt es hier, dank auch für diesen Link ans jonet.

  10. 10

    Völlig richtig, Johnny. Ich hätte es wohl erwähnen sollen, wollte aber vermeiden, dass daraus eine Nebendiskussion entsteht. Habe mich mit der Organisation aber selbst nie beschäftigt, außer dem was man halt mal in den Nachrichten dazu hört.

    Man sollte sich übrigens klarmachen, dass die (mit Abstand) überweigende Mehrheit der Muslime in Deutschland in gar keiner Form organisiert sind – sprich dass sie durch niemanden „repräsentiert“ werden können. Hier herrscht glaube ich bei vielen falsche Vorstellungen davon wie solche offiziellen Distanzierungen aussehen könnten. Wenn man von „Wir sind Deutschland“-Kampagnen verwöhnt ist, dann dürfte man das tatsächliche echo wohl eher unter „ferner liefen“ registrieren.

  11. 11

    Sencer, war auch nur als Ergänzung gemeint. Ich selbst bin absolut überfordert mit der Thematik und hüte mich vor halbwissenden Wertungen. Abgesehen von den auf der Hand liegenden, die eher wenig Sachkennntis brauchen.

    Ich lebe aber (gerne) in einem Bezirk, in dem viele Kulturen und Religionen (meist leider nebeneinander her) leben und versuche daher im Rahmen meiner Möglichkeiten immer mehr zu verstehen oder wenigstens zu erfahren.

  12. 12

    You’re right, Johnny! Und „Go ahead“ passt gut zu „jetzt erst recht„.

  13. 13

    das zitat von bono ist nicht ganz richtig. er hat gesagt:

    „We have a prayer, (that) we don¹t become a monster in order to defeat a monster.“

    so zumindest steht es auf u2.com und so hab ich es auch verstanden. und diesem „gebet“ oder einfach auch nur wunsch, kann ich mich zu 100% prozent anschliessen. denn die herren bush, blair, beckstein & schily werden wieder nur die symptome und nicht die ursachen des terrors bekämpfen.

  14. 14

    War aus Reihe 7.647 nicht richtig zu hören offensichtlich. Mit dem Beten halt‘ ich’s ja nicht so, aber guter Gedanke trotzdem.

    U2-Bericht kommt hier auch gleich.

  15. 15
    oxymoron

    Ohne hier zu wissenschaftlich werden zu wollen, aber die Dynamik zwischen Minderheiten und Mehrheiten ist verdammt komplex und wenn man sich mal eine Weile damit beschäftigt hat, dann merkt man, dass wir in Deutschland momentan in die völlig falsche Richtung steuern, wie ich finde.

    Die Theorie der Sozialen Identität erklärt die Beziehungen zwischen verschiedenen Gruppen (auf kleinster Ebene bis hin zu den großen Gruppierungen nach Religion, Nation, Ideologie usw.) relativ gut. Jeder Mensch verfügt über verschiedene soziale Identitäten oder ausgeprägte Zugehörigkeitsgefühle zu einer Gruppe. Für mich ist bspw. meine deutsche Identität nicht als besonders bedeutsam, aber nachdem ich in den USA und London gelebt hab und selbst mit Vorurteilen kämpfen musste, war sie plötzlich sehr präsent, ob ich wollte oder nicht und ich habe auch angefangen, sie zu verteidigen, inklusive derer, für die ich sonst kein gutes Wörtchen übrig habe. Daher ist es verständlich, dass unpolitische Deutsche nach Naziübergriffen auf die Strasse gehen, immerhin zerrt es die eigene Identität in ein schlechtes Licht. Um das aber mal auf die muslimische Gemeinde in Deutschland zu beziehen: Je größer der Anpassungsdruck der Mehrheit auf die Minderheit wird, desto bewusster wird der Minderheit zunächst die eigene Identität (in dem Falle also hinsichtlich der religiösen Kategorie bzw. der Abstammung). Der Anpassungsdruck stellt zudem zusätzlich eine reale Bedrohung der Identität dar und die natürliche Reaktion darauf ist es, die Identität zu schützen. Bspw. wird man sich in Werten, Einstellungen und Verhalten mehr dem stereotypen Idealbild der Identität anpassen und vor allem die Mitglieder der eigenen Gruppe deutlich positiver und unkritischer bewerten. Salopp gesagt, rücken alle enger zusammen.

    Das kann man bei Deutsch-Türken häufig (wobei ich hier nicht generalisieren will!) beobachten, denn in unserer Wahrnehmung scheinen sie deutlich traditioneller in ihren islamischen Werten zu sein, als die Muslime in ihrer alten Heimat. Immerhin hatte die Türkei schon einmal eine MinisterpräsidentIN. Dabei haben wir Deutsche bislang gerade mal eine KanzlerkanditatIN (die zu allem Überfluss die Frauenfeindlichkeit in der Türkei öffentlich anprangert). Ich stecke auch nicht tief in der Materie über die muslimische Welt drin, aber mir erscheint der lautstarke Ruf nach mehr Integrationswillen unserer muslimischen Mitbürger übertrieben aktionistisch und etwas kontraproduktiv. Aus theoretischer Sicht kann man solche Konflikte zwischen verschiedenen Identitäten am besten durch eine verbindende übergeordnete Identiät verringern. Die USA ist da (trotz sicher oft berechtigter, wenn auch europäisch stark überzogener Kritik – wieder so ein Identitätsproblem) ein Beispiel, denn der ‚Amerikanische Traum‘ des kulturellen Schmelztiegels hat eigene Werte, die jeder kulturellen Gruppe einen Bezugspunkt liefert, ohne dass sie ihre Identität verleugnen muss. Deutschland aber kehrt häufig nationale oder christliche Werte hervor. Wir sollten anfangen, einen europäischen Traum zu haben, in dem auch Platz für Muslime ist, die schon längst ein Bestandteil der europäsichen Gesellschaft sind. Es wäre daher abgesehen von ökonomischen Argumenten wahrscheinlich sinnvoll, die Türkei in die EU aufzunehmen, zumindest sollte es nicht an ihren Werten scheitern.

    Ich bin allerdings auch kein Träumer, a la „Multikulti ist toll, wir sollten nichts ändern“. Aber nicht nur die Minderheit muss sich ändern, es gilt ebenso für die Mehrheit. Bisher geben wir anderen kulturellen Gruppen meist das Gefühl anders zu sein und nur halb dazuzugehören.
    Das sollte jetzt auch eigentlich nicht der moralische Vortrag werden, nachdem er klingt, eigentlich wollte ich mal ein paar Denkanstöße geben. Immerhin schafft es eine türkisch-stämmige Freundin aus Köln, mich ob meiner ‚Zonen-Identität‘ zu diskriminieren, so unwestlich war das gar nicht ;o)

    PS: ich bin auch kein Mitglied einer Partei und weiß auch nicht wen ich wählen soll, falls jemand hier Wahlkampf riechen sollte

  16. 16
  17. 17

    oxymoron:

    „Wir sollten anfangen, einen europäischen Traum zu haben, in dem auch Platz für Muslime ist, die schon längst ein Bestandteil der europäischen Gesellschaft sind.

    Dankeschön. Nur so kann es gehen, wenn es auch lange dauern wird.

  18. 18
    oxymoron

    Ich sollte an dieser Stelle vielleicht richtigstellen, dass der europäische Traum (leider! :o) ) nicht von mir ersonnen wurde. Jeremy Rifkin hat ein Buch unter diesem Titel geschrieben. Er ist Amerikaner und bekennender Fan des europäischen Gedankens. „Er träumt von Europa, als altem Kontinent mit seiner Kooperativität, mit seiner Polyperspektivität, mit seinem Gemisch aus Individualismus und Mehrfachidentitäten – europäisch, national, regional – gehört die Zukunft. “ (Zitat aus der Buchbesprechung unter:
    http://www.migrationsrecht.net/modules.php?name=News&file=article&sid=236

    Ich hab es selbst noch nicht gelesen, aber schon ein Interview mit ihm fand ich sehr inspirierend. Zumindest hilft es, den sehr deutschen Pessimismus mal kurz abzulegen und ein paar Kategorien weiter zu denken. Vielleicht liegt die Antwort auf die Integrationsprobleme ja wirklich im Umgang mit den Identitäten verborgen.