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Ein Märchen (4 von 4)

(Hier ist der erste, zweite, dritte Teil)

Der König war in seinen seltenen klaren Momenten sehr gespannt auf die Rückkehr des dritten Sohnes, Rüdiger. Was er wohl gefunden haben würde? Noch mehr Spaß, Spiel und Entspannung? Bisher war der König mehr als zufrieden mit seinen Söhnen und den Ergebnissen ihrer Suche nach dem Sinn des Lebens, er fühlte sich so wunderbar ausgelastet und zufrieden wie nie zuvor.

Vier Monate später (Rüdiger war schon immer ein etwas merkwürdiges Kind gewesen) erreichte der letzte der drei ausgesandten Söhne den königlichen Hof. Rüdiger traute seinen Augen nicht. Entsetzt betrachtete er das in den letzten Monaten völlig heruntergekommene Anwesen, seine Brüder und seinen Vater im Vollrausch und angeekelt nahm er die unzähligen, spärlich bekleideten, ebenfalls nicht wirklich nüchternen und insgesamt vom Patriarchat unterdrückten Frauen wahr. Er zerrte seinen Vater in den bis dato nie genutzten Ausnüchterungssaal, den es noch von den Vormietern gab und ließ ihn dort allein. Nach drei Tagen (so merkwürdig war Rüdiger dann doch wieder nicht) schien der König aufnahmefähig zu sein.

Mit ruhiger Stimme sprach Rüdiger zu seinem Vater: „Vater“, sprach Rüdiger mit ruhiger Stimme zu seinem Vater, „wir haben zu reden. Ich weiß nicht, was in euch gefahren ist und was hier in den vergangenen Monaten vorgefallen ist, aber ich habe eine Ahnung, dass es mit den Erkenntnissen zu tun haben könnte, die Hans und Franz von ihren Reisen mitgebracht haben. Höre nun gut zu, Vater, was ich dir zu berichten habe, denn es dürfte sich nicht unerheblich von den bisherigen Nachrichten unterscheiden.“

Der König nickte mit weit aufgerissenen Augen, was weniger mit Aufmerksamkeit als mit den Exzessen der letzten Monate zu tun hatte.

Rüdiger setzte sich auf den Boden vor seinen Vater, verschränkte die Beine auf eine Art, die seinen Vater schon beim Zusehen überforderte und sprach mit noch ruhigerer Stimme als bisher weiter:

„Meine Reise führte mich in die umliegenden Wälder, Vater, in denen ich Menschen begegnete, die teils von ihren Dörfern verstoßen wurden, diese aber teils auch aus freiwilligen Stücken verlassen hatten. Diese Menschen strahlten eine mir bis dahin unbekannte Ruhe und Zufriedenheit aus. Sie waren glücklich. Sie hatten vielen Dingen, die für mich zu dieser Zeit noch selbstverständliche Lebensbestandteile waren, den Rücken zugekehrt; so ernährten sie sich ausschließlich von den Früchten des Waldes und führten ein Leben im gemeinsamen Einklang mit den Tieren, denen sie Freiheit schenkten und die deshalb freiwillig und ohne Furcht vor der Schlachtung beim ihnen lebten. Diese Menschen entsagten auch jeglichem Tauschhandel, sie teilten die anfallende Arbeit und halfen sich gegenseitig, jeder tat, was er konnte und trug seinen Teil zum Gemeinwesen bei. Auch das Radio oder den Fernseher schalteten diese Menschen niemals ein, in erster Linie natürlich, weil wir weder Radio noch Fernsehen erfunden haben, aber selbst wenn wir es erfunden hätten, würden sie es nicht nutzen, das haben mir alle versichert. Zur Entspannung pflegten sich diese Menschen völlig ohne Rauschmittel mittels einer Übung namens ‚Meditation‘ in einen Zustand zu versetzen, in dem sie praktisch nicht mehr ansprechbar waren, der sie aber nach Beendigung der Übung gekräftigt, gestärkt und den Widrigkeiten des Lebens gelassen entgegensehend zurückließ. Diese Menschen, oh liebster Vater, haben den wahren Sinn des Lebens erkannt und ihn mir in neun Monaten (denn einen brauchte ich, um zum Wald zu kommen und damit liege ich wieder in der Quote) gelehrt. Ich bin nun dank dieser Menschen glücklicher als je zuvor. Und nun sitze ich hier mit merkwürdig verschränkten Beinen vor dir, Vater, um auch dich an meinem neugefundenen Glück teilhaben zu lassen und dich in die offenen Geheimnisse des wirklich richtigen Lebens einzuweihen.“

Der König war während der langen Rede seines Sohnes sehr nüchtern geworden. Er hatte sich ebenfalls auf den Boden gesetzt, allerdings ohne das Zeug mit den Beinen. Nun stand er auf und begann sehr langsam durch den Raum zu schreiten. Seine Arme hatte er auf dem Rücken verschränkt, sein Kopf hing nachdenklich nach unten und nickte von Zeit zu Zeit. Er seufzte. Als er langsam schreitend am Fenster zum Hof (aus dieser Szene wurde sehr viel später ein berühmter Film) angelangt war, blickte er hinaus und blieb einige Minuten lang schweigend stehen. Dann seufzte er erneut, aber noch tiefer als zuvor.

Rüdiger beobachtete seinen Vater mit einem inneren Lächeln. Seine Augen verfolgten den alten Mann ohne Anzeichen von Ungeduld. Rüdiger wusste, dass der wirkliche Sinn des Lebens Zeit und Geduld auf allen Seiten brauchte.

Der König schritt zu Rüdiger und sah in mit ernster Miene an. Dann beugte er sich hinab und schloss Rüdigers Hände in die seinen.

„Rüdiger, mein geliebter Sohn, ich danke dir von ganzem Herzen. Keiner meiner anderen Söhne, die ich nach dem Sinn des Lebens ausgeschickt hatte, hat mich so berührt und bewegt wie du es eben getan hast.“

Rüdiger lächelte.

„Und jetzt“, der König klatschte einmal laut in die Hände, „lass uns reiten gehen, ja? Los, die Weiber kommen auch mit!“

20 Kommentare

  1. 01

    kapitän, kapitän! das schiff ist voll, viel zu voll. und der fluss, er mäandert, er läuft über und nimmt uns nicht mehr mit! kapitän, ach kapitän… so´ne pause ist vielleicht ganz gut. auch wenn dieser kommentar etwas von hochverrat und majestätsverleidigung hat.

  2. 02
    tilman

    Ahhjaaaaa…
    Ene mene eins zwei drei – komm herbei Kartoffelbrei. Hexx hexx…
    Wir haben soeben alle die Bodenhaftung verloren…

  3. 03

    Yeah. Wie geil ist das bitte ?! Mehr davon !! Weee was isn das fürn knuffiges Plugin fürs WordPress (Preview).

  4. 04

    na ja, falls du zweifel hattest,
    ob dich immer alle so verstehn,
    wie du es meinst: so jedenfalls wird das nicht besser…

    ich jedenfalls werde meine söhne sicherheitshalber
    gar nicht erst losschicken, so!

  5. 05

    habt ihr alle seltsame pilze geraucht, oder wieso sind die spreeblick-kommentare bzw -kommentierer in letzter zeit so heistickerniveauverdächtig?

    zum thema: toll. das märchen. bitte irgendwo auf totem holz gedruckt unterbringen bzw. einem verlag anbieten. ernsthaft.

  6. 06
    Christian

    Kann mich Franks Meinung zum Kommentarniveau nur anschließen.

    Ich habe jeweils begierig auf den nächsten Teil gewartet + finde das Märchen wirklich seeehr gelungen, insbesondere die vielen kleinen sprachlichen Schmankerl. Und die „Moral“, so es denn eine ist/sein soll, ist doch auch sehr schön. Denn wer würde heute schon seine Pferde/Autos/Flugzeuge oder whatever stehen lassen, um sich meditierilierend in den Wald zu hocken. Vom Verzicht auf die Weiber mal ganz zu schweigen…

  7. 07
    julia

    chapeau! mehr mehr mehr!

  8. 08

    Ein schönes Märchen.
    Erinnert mich zwar ein bißchen an Khalil Gibran & Wahome Whispers Mutahi, aber trotzdem recht nett. Der König war sicherlich 42 Jahre alt :–)

  9. 09

    @frank et christian – ja ja, das niveau. und vor allem der horizont. wenn es da mal drüber soll, wird es manchmal eng. da wird der max headroom ganz schnell zur 1-raumwohnung.

  10. 10

    Hatte ja schon vorgemuckt bei Teil 3 – darum jetzt zurückhaltend:
    Der metaphorische Symbolismus der Allegorie – einfach viel zu genial für den Pöbel. Selbst die flachsten Stellen zeigen erhabenen Tiefgang („Sie zogen Los.“ oder „Der König fur fort.“). Am allerbesten aber die völlig überraschende Pointe am Schluss, die aus ihrem völligen Fehlen besteht.
    Das erhebt das Ganze zu dem längsten Zen-Koan, dem ich je teilhaftig wurde.
    Schönen Urlaub.

  11. 11

    EuRo: das völlige Fehlen. Danke. Und ich hab die ganze Zeit überlegt, warum ich mich auf einmal so alleingelassen fühle.

    Johnny: netter Ansatz, brillante Wortwitze. Sehr konsequent :)

    Gruß,
    Samantha

  12. 12

    Sehr schön. Vor Allem der Spannungsaufbau durch tagelanges Warten. Wann kommt das nächste Märchen?

  13. 13

    Mhm, die brillianten Wortwitze sind dann doch eher sehr flach. Schuldigung, aber mit Literatur hat das nichts zu tun. Ich will hier garnicht behaupten, dass ichs besser könnte. Aber Johnny-Schuster, bleib bei deinen Leisten. Märchen-Schreiben sollte man denen überlassen, die NUR das machen. Politikern oder so ;-)

  14. 14

    *g* ich liebe solche Geschichten. Etwas abgedreht, völlig sinnfrei, skurril. Habe mich köstlich amüsiert. :-))

  15. 15

    Hurra! Wir haben einen neuen Grimm! Mir gefällt das „Märchen“ sehr gut. Rüdiger ist ja auch nur auf einer Schnipseljagd

  16. 16
    Christian

    @Hans v.: Die Sprachbilder in deinem letzten Kommentar funktionieren ja gar nicht. Zuerst dachte ich ja noch: „Gut ausgeteilt, chapeau.“ Aber dann war rasch klar, dass sich das nur elegant anhört, aber gar keinen Sinn ergibt. Macht aber nix – so werde ich gern kritisiert. Viel Spaß weiterhin beim Versuch, über den Horizont zu klettern…

  17. 17

    Gutes Märchen, sehr schön trotz aller Kritik hier. Pratchett-sque Ansätze der Narrativen Kausalität^^

  18. 18
    martin_

    Hat sich gelohnt ne Weile nicht zu spreeblicken, so konnte ich alle
    Teile nacheinander lesen.
    Ich fand das gut und witzig, und die ganzen „profi“schreiberlinge von denen sich im blogdings ja so viele rumtreiben sollen mal nicht so viel
    rumanalysieren.
    greetz2myriva

  19. 19

    Herrlich, ich habe mich königlich amüsiert!

  20. 20
    franky

    das ging zum ende hin wie in honig.
    ehrlich, das is aber trotzdem gut.
    aber trotzdem back to nature und weg mit
    der zivilisation ohne die wir gar nicht mehr überleben würden.
    zur zivilisation gehören aber auch leider die unangenehmen
    begleiterscheinungen wie in II & III