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Wie fühlt sich das eigentlich an: Weltmeister?

Die Jungs von Vokale Küche waren 1990 ja noch zu klein, um etwas von der Weltmeisterschaft mitzubekommen.
Für sie und alle anderen Leser, die noch ein längeres Haltbarkeitsdatum haben als ich, erzählt der Opa jetzt mal, wie das war, damals.
Also zunächst mal: Wir hatten ja nichts. Kerner quatschte damals noch ältere Männer am Hamburger Hauptbahnhof an, wir waren also im Vorfeld völlig uninformiert und wussten gar nicht, was das war, so ein Fußball.
Zu allem Überfluss verschleppten mich meine Eltern während der WM auf das Rentnerparadies Ischia, um sich dort in geheizten Pools zu räkeln. Dort war es mit Informationen dann ganz aus, denn es gab noch keine Internetcafés, keine Short Messages, keine Bilder von den Spielen per Handy. Nur abends konnte man im Fernsehraum des Hotels ein Spiel anschauen. Wie gesagt, wir hatten nichts.

Für mich kam verschärfend hinzu, dass ich meine erste große Liebe zuhause in Aachen lassen musste, das Telefonieren vom Hotel aus hätte mehr gekostet als der Aufenthalt selbst und so war ich die Personifizierung des Falscher-Ort- falsche-Zeit-Prinzips.
Das Spiel gegen die Tschechen verdöste ich am Pool, keiner wird behaupten, ich hätte etwas verpasst.
Ich musste am Pool dösen, denn in keiner Nacht konnte ich schlafen.
Italiener sind bekanntermaßen Lärmneurotiker, aber während einer WM schraubt sich das ins Absurde. Ein einziges mehrwöchiges Hupkonzert, Gesänge die ganze Nacht durch, Toootoooo Schillaci in allen Tonlagen. Das Alles erstarb plötzlich, als Aldo Serena den Ball nicht im Tor unterbringen konnte, und Argentinien ins Finale einzog.
Stattdessen ein Weinen aus Millionen Kehlen, eigens aus Marokko eingeflogene Klageweiber taten ihr Übriges.
Zum Spiel gegen England, das sich gegen Kamerun durchgesetzt hatte, welches widerum einen Fußball gespielt hatte aus der Zeit vor der Erfindung der Taktik, fand ich mich pünktlich im Fernsehraum ein.
fußball Und was für ein Spiel war das. Den Bildschirm füllte ein antikes Schlachtengemälde.
So haben sich die Zuschauer bei der Begegnung Ben Hur vs Messala gefühlt.
In jeder Minute des Spiels krachte ein Ball gegen die Latte und wenn der Schweizer Dienst Schiedsrichter gewesen wäre, hätte das Spiel 25:25 ausgehen können. Peter Shilton semmelte jeden Abschlag ins Aus, Gascoigne pflügte das Feld um, alte Männer sanken auf der Tribüne in den ewigen Schlaf, Frauen gebaren Kinder, die mit dem Schweiß von Lineker getauft wurden.
Niemand weiß, wie viele Engländer und wie viele Deutsche starben, aber in der Pause sangen sie zusammen Weihnachtslieder.
Schließlich wurde das Spiel im Kampf Mann gegen Mann entschieden.
Bodo Illgner auf der einen, Peter Shilton auf der anderen.
Die Engländer fingen an, Lineker traf.
Dann Brehme, der gar nicht weiß, wie man daneben schießt.
Beardsley, Matthäus, Platt, Riedle.
Dann versagen Pearce die Nerven, Thon trifft.
Waddle muss jetzt ein Tor machen, sonst ist das Match entschieden.
Und Deutschland ist Weltmeister.
So fühlte es sich zumindest an, tatsächlich musste noch Argentinien besiegt werden.
Argentinien, das Deutschland im Finale der WM 1986 erst vorgeführt hatte, um dann zu merken, dass man eine deutsche Elf erst totschlagen muss, ehe man ihr das Fell über die Ohren ziehen kann. Und das hatten sie getan, mit freundlicher Unterstützung von Toni Schuhmacher.
Es war ein Heimspiel für Deutschland, die Italiener wollten Rache für das verlorene Halbfinale, die Argentinier waren erschöpft und von Anfang an schien klar, dass Deutschland diese Partie würde für sich entscheiden können. Aber der Ball ging nicht ins Tor und je länger das Spiel dauerte, desto mehr erinnerte ich mich an das Achtelfinale zwischen Argentinien und Brasilien, das Brasilien komplett dominiert hatte, um in der 81. Minute durch ein Todesurteil Maradonas, vollstreckt durch einen gezielten Genickschuss von Caniggia, hingerichtet zu werden.
Und es kristallisierte sich raus, dass man auch Argeninien erst würde totschlagen müssen, ehe man auf seinem Grab Tango tanzen könnte.
In diesem Moment setzte ich die Liebe meiner Freundin als Preis: Würde den Deutschen nur ein Tor gelingen, so möge sie mich nicht mehr lieben, ich würde es hinnehmen.
Und tatsächlich: Halb zog es Völler, halb sank er hin, Matthäus verschwand in einem Maulwurfshügel, und Brehme dachte nicht nach.
Weltmeister.
Frauen nach der Geburt des ersten Kindes und Menschen, die das erste Mal Heroin in ihre Venen jagen, kennen das Gefühl.
Die erste Nacht, in der ich in Italien friedlich schlief.
Kurz nach der WM verließ mich meine Freundin und ich hatte wieder andere Sorgen.

2 Kommentare

  1. 01

    Wie fühlt sich das eigentlich an: Weltmeister?

    Also ich war während er WM 1990 gerade 16 Jahre alt geworden und somit mitten in der Pubertät. Trotzdem hat mich damals eher die WM interessiert, als irgendwelche Mädchen. Die kamen und gingen, aber WM ist nur alle 4 Jahre. Und es war grandios, da ich fast alle Spiele gesehen habe. Richtig begeistert war ich erst nach dem Sieg über Holland und ab da war mir klar, das wir Weltmeister werden würden.

  2. 02

    jaja, das kommen und gehen ;)