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Tut das nicht weh?

I live by the river!

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Der folgende Text und 14 weitere Kracher der Unterhaltungsliteratur befinden sich in dem eBook „I live by the river!“, das man hier für lächerliche € 0,99 kaufen kann und auch soll! Infos dazu gibt es auch hier.
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Das Jahr, in dem diese Geschichte spielt, als ein verwirrtes zu bezeichnen, wäre romantisch untertrieben. Ich lebte in selbst gewählter Isolation. Die letzte Beziehung war nach über einem Jahrzehnt zerstört, Rettungsversuche gescheitert. Die Band war am ebenfalls selbst bestimmten Ende. Den eigenen Lebensraum hatte ich gegen ein Zimmer in einer WG getauscht, noch dazu in einem selbstverwalteten Haus. Und das in meinem Alter!

Ausführliche Experimente mit pflanzlichen Produkten zeigten erste unerfreuliche Nebeneffekte und Freunde begannen mich zu hassen. Neue, ausschließlich nächtliche Kontakte beschränkten sich aufs vermeindlich Nötigste. Zum obligatorischen Selbstmitleid gesellte sich eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber meiner gesamten Umwelt. Nihilisimus im Frühstadium.

Man könnte also sagen: Es ging mir nicht gut, Mitte der Neunziger.

Keineswegs Interesse, sondern eher ein Reststück Neugier musste mich also dazu getrieben haben mit „Na gut!“ zu antworten, als mich einer meiner Mitbewohnerinnen in einen S&M-Club einlud, den sie mit ihrem Freund regelmäßig an den Wochenenden frequentierte. Die beiden hatten mir schon oft von ihren wilden Nächten vorgeschwärmt, nur konnte ich mich so überhaupt nicht für diese Szene erwärmen. Nichts gegen einen gut gepflegten Fetisch, nichts gegen Experimente und Spielchen, nichts gegen überlegt gewählte Abendgarderobe, und solange alle Beteiligten freiwillig dabei sind soll von mir aus sowieso jeder machen, was er will.

Die Vorstellung meine Kleidung mit Hilfe größerer Mengen Talkumpuders anlegen zu müssen erweckt bei mir jedoch einfach keinerlei Begehrlichkeiten. Auch Masken mag ich nicht besonders und wenn ich es schon hasse einen Hund an der Leine zu führen, wie muss ich mich erst fühlen, wenn das andere Ende der Leine sprechen kann? Nee, mir war das alles einfach… egal!

Trotzdem sagte ich „Na gut!“. Was soll’s. Man soll ja offen sein für Neues, und wer weiß? Vielleicht, dachte ich, wird es doch spannend. Anonym, dunkel, knisternd.

Nun besucht man einen S&M-Club aber nicht einfach mal eben so, nee, nee, die Vorbereitungen sind der halbe Spaß! Die Tragweite meiner Zusage wurde mir also bei der abendlichen Kleiderwahl bewusst, denn natürlich gab es einen Dresscode: „Fantasy Outfit“. Der Jogginganzug fiel also flach und falls doch jemand „Fantasies“ hat, in denen Jogginganzüge vorkommen: bitte für sich behalten, auch nicht bloggen oder so. Danke.

Aus Mangel an Ledertanga und Sporen entschied ich mich für den „Gay-Look“. Ausgewaschene Jeans mit Löchern (ich bin etwas abgefuckt), schwere Stiefel (harter Kerl), dazu ein schlichtes weißes Unterhemd (hatte erstens keine Zeit mich richtig anzuziehen und muss immer ganz viel arbeiten und dabei schwitzen, körperlich, na klar, anpacken kann ich auch, und zwar ANPACKEN!) und eines dieser Bandanas, diese Hals- oder Kopftücher, ihr wisst schon.

Das mit den Bandanas ist aber auch wieder nicht so leicht. Von schwulen Freunden wusste ich, dass die Tücher in der Homoerotik (ich kann ja nicht dauernd „schwul“ schreiben – und „Tunten“ ist so ein Begriff, den nur Tunten benutzen sollten, finde ich) klare Aussagen treffen, sofern sie um den Hals gewickelt sind oder sichtbar aus der hinteren Hosentasche des Trägers baumeln. Die linke Hosentasche steht dabei für „aktiv“, die rechte für „passiv“. Oder war’s (Achtung, extrem flacher Wortwitz ahead!) andersrum?

Die Farben der Tücher spielen natürlich die wichtigste Rolle, Blau bspw. steht einfach nur für recht regulären Sex, wenn ich mich recht erinnere, Schwarz nachvollziehbarerweise für die S/M-Gangart und bei den übrigen Farben wie Rot, Gelb und Braun (Grün????) lasse ich die Leserschaft gern mit der eigenen Fantasie allein.

ACHTUNG, HETEROS! Diese Farbcodes haben sich außerhalb der schwulen Welt noch nicht wirklich durchgesetzt! Bitte also Lufthansa-Stewardessen nicht ungefragt anpinkeln!

Ich kann mich nicht erinnern, welche Farbe ich wo trug, doch ich hatte eh keine „Bedenken“. Schwule treffen sich in Schwulenclubs, nicht bei Heten-Treffen. Der Einlass sollte mir gewährt werden, mehr nicht. Mich kennt da sowieso niemand.

Dachte ich.

Denn ich hätte auch im Schlafanzug mit Anorack kommen können, der Türsteher hätte mich auf jeden Fall reingelassen, so wie er sich über mein Erscheinen freute: „JOHNNY! WAS MACHST DU DENN HIER!? Mensch, ich hab gerade neulich mal wieder deine Sendung gehört! Bist du noch bei FRITZ?“ (Anmerkung: Ich arbeitete damals noch beim Radio).

Ich konnte den Mann erst viele Tage später gedanklich zuordnen, der in schwarzer Ledermontur einen ob seiner eher schmächtigen Figur nicht gerade martialischen, aber doch irgendwie gearteten Eindruck machte.

„Komm rein, viel Spaß!“

Ich hatte den Eintritt gespart und gegen meine Anonymität vor den anderen zwanzig mit mir anstehenden Gästen in „Fantasy-Outfit“ eingetauscht. Tschüss anonyme Bekanntschaft! Hallo „der Schwule da hinten ist vom Radio!“.

Ich fasse den Abend bei Anfragen gerne mit den Worten „nicht so abartig, wie ich befürchtet hatte, nicht so spannend, wie ich gehofft hatte“ zusammen. Ein etwa 55 Jahre alter Mann mit nichts als zu großen Baumwollunterhosen gekleidet, der eine Schülertasche um den Hals trug, blieb mir in Erinnerung. Ein kräftiger Typ, der auf einer Schaukel sitzend dauermasturbierte. Und diese Frau.

Vom Typ dieser Frau waren eher wenige anwesend. Das Gros des Publikums war männlich, gierig und geifernd. Anders gesagt: Ein Abend wie in jeder normalen Dorfdisko, nur dass der Frauenanteil in der Dorfdisko höher ist und die Männer ihre primären Geschlechtsmerkmale in der Dorfdisko meistens in Hosen statt in ihrer Hand herumtragen.

Ich mag im Kreis stehende Männer in nur sehr wenigen Situationen, im Kreis stehende Männer wirken auf mich bedrohlich. Selbst wenn sie gar nicht bedrohlich sind, sondern eher jämmerlich.

Und so hinterließ dieser Abend kein Gefühl der Erkenntnis oder Spannung, sondern der Ernüchterung. Eine weitere Fantasie ertränkt in Banalität und Durchschnitt.

Um keinen falschen Eindruck zu hinterlassen: Die Stimmung war die ganze Nacht angenehm, freundlich und wirklich nicht abstoßend. Selbst wenn das nicht „meine Szene“ war, werde ich mich vor allgemeinen Urteilen hüten, denn das gemeinsame Einverständnis, ein gewisses „Zusammen“ war allgegenwärtig. Ich verstehe die Faszination, die von der Szenerie ausgeht und schließlich kann ich nur von einem einzigen Abend berichten.

Was nicht ganz stimmt… da war noch einer, der sowohl spannender als auch witziger war.

Und den man hier nachlesen kann.

36 Kommentare

  1. 01

    Stewardessen Flugbegleiterinnen nicht anpinkeln? Oh, dass erklärt einiges… :D:D:D

    Schöner Artikel. Der zweite muss aber auch… und, ach ja: Gibts Foto? Gruß Marvin

  2. 02

    Danke. Kurz vor’m zubett gehen erheiternde Lektüre. Guten Schlaf — auch mein Kind wird mich ganz sicher ab 7 wecken.

  3. 03
    Dagger

    Schöne GuteNachtGeschichte ;-)

    Weh tun?

    „Frauen lassen sich überall hin piercen und Tatoos einritzen, das Gesicht
    liften, Falten straffen, sie lassen sich per Kaiserschnitt entbinden,
    das Fett absaugen, die Oberschenkel straffen, die Eierstöcke abschnüren,
    die Tränensäcke reduzieren, Silikonimplantate überallhin einsetzen, sie
    entfernen sich Haare mit Pinzette oder heissem Wachs und dann lassen sie
    sich nicht IN DEN ARSCH FICKEN WEIL DAS SO WEH TUT!?! AH GEH…“

    Na dann: Gute Nacht.

  4. 04

    »…Und diese Frau.«

    und? was war mit der?

  5. 05

    … wem das leben so spielt.

    @Dagger
    „IN DEN ARSCH FICKEN WEIL DAS SO WEH TUT“

    … wenn du lautes wehklagen hörst, hast du definitiv etwas falsch gemacht.

  6. 06
    jochen

    na hcl, das sieht doch nach einem cliffhanger aus.

  7. 07
    y

    HCL >> TANJA ?!

  8. 08

    Klasse, Versprechen eingelöst. Vielen Dank, Johnny!

  9. 09

    Sehr schöne Guten Morgen Geschichte. Gerne läse ich ein Buch von Dir. Das stelle ich dann neben Rocko Schamonis Dorfpunks (natürlich nachdem ich es gelesen habe).

  10. 10

    lol! grossartige geschichte! und bei dem stewardessenspöki wäre ich vom stuhl gefallen, wenn ich nicht im bett liegen würde….danke johnny, you made my day.

  11. 11

    Von dem Zeug will ich auch was.

  12. 12
    Sun Out Of Fire

    Es ist doch jeden Tag wieder schön mit Spreeblick aufzuwachen oder einzuschlafen…Danke dafür!

    @martin: Wenn dir Rocko Schamoni-Dorfpunks gefallen hat, dann sei dir Mikael Niemi-Populärmusik aus Vittula ans Herz gelegt.

  13. 13

    @ y: nee, nüscht mit Tanja.
    Eine Frau eben, die ihm neben dem Spielplatzwichser und dem 55-jährigen „Mama! Pipi! Fertig!“-Herren im Gedächtnis blieb.
    Couldn´t care less!
    Johnny?

  14. 14

    Sehr gut! Sagt viel, bleibt aber trotzdem FSK16 oder so :-)

    Ach ja, gerade entdeckt: muss das so, dass Spreeblick hier:

    http://planet.phinn.de
    so auftaucht, wie es da eben auftaucht? Ich kenne mich mit solchen Reader/Content-Strippern etc. nicht so gut aus. Also, kein Anschwärzen, nur Interesse1

  15. 15

    Was würde ich geben, für ein Foto Deines Outfits?!
    Achja, und bitte bald die Fortsetzung.
    Und wenn wir schon bei Fortsetzung sind, ich meine mich erinnern zu können, dass bei der grandiosen Uwe-Geschichte (bzgl. Enttäuschung des Lebens) ebenfalls eine Fortsetzung in Aussicht gestellt wurde.

    matthias:)

  16. 16

    Sehr gelacht! Wobei mich die Andeutung zu „dieser Frau“ von deren Typ „eher wenige anwesend“ waren auch schwer neugierig gemacht hat.

  17. 17

    Hm, die Dame war gar nicht als Cliffhanger gemeint, ich sollte Texte nicht mitten in der Nacht abschicken. Die Frau stand im Zentrum des Interesses, mehr nicht, ich wollt’s gar nicht so aufbauschen.

    Und HCL ist HCL (the one and only), nicht Tanja (the ebenfalls one and only). Tanja habe ich erst später kennegelernt, und *nicht* in einem Club welcher Art auch immer. Wir sind ja unser eigener Club. :)

  18. 18

    Achja: Zweiter Teil kommt spätestens heute morgen nacht.

  19. 19

    die frau war der keks beim kekseschießen.

  20. 20

    jetzt habs ick ooch kapiert!
    puh…

  21. 21

    *gacker* um es mal mit Herrn König auszudrücken.
    Wirklich schicker Artikel. Meine Lieblingsstelle: „Der Jogginganzug fiel also flach und falls doch jemand „žFantasies“ hat, in denen Jogginganzüge vorkommen: bitte für sich behalten, auch nicht bloggen oder so. Danke.“

    Die Warnung scheint dringend angeraten zu sein, wenn man bedenkt wieviele Leute das Zeug tragen.

    Die Hanky-Codes sind allerdings auch bei den Schwuppen mittlerweile eher in Vergessenheit geraten, bei den jungschen zählt mittlerweile weniger irgendein Taschentuch, denn ob das Leibchen von Dolce & Gabana ist. Die sexuellen Präferenzen lassen sich ja eh im Gayromeo-Profil im Klartext ablesen. Hach ja, der Preis der Gay-Liberation. *grins*

    Ähnliche Erfahrungen hab ich mi der Fetisch-Szene auch gemacht. Ich bin generell zwar auch kein Anhänger zu umständlicher Sexpraktiken, aber die Leute dort hab ich zumeist auch als sehr freundlich und überraschend unbedrohlich wahrgenommen. Und spätestens wenn sich zwei breitschultrige in martialisches Outfit gewandte Machoschwuppen anfangen über den Grand-Prix zu unterhalten oder Bausparen, fällt es schwer gängige Vorurteile über S/M-Anhänger beizubehalten.
    Unspektakulär trifft es da wohl ganz gut. :)

  22. 22

    Ich glaube ich hätte Angst gehabt und wäre sofort rausgeangen. Aber so aus 2 Hand erzählt zu bekommen finde ich es ganz lustig. :)

  23. 23

    Jetzt weiß ich auch warum die Flugbegleiterin letztens so verstört schaute, als ich mit dem gelben Tuch wedelte. Die Frau war einfach keine Clubgängerin. Dabei dachte ich, die wären bei der Lufthansa aufgeklärt. Heißt die Abkürzung nicht Let us fuck the hostess as no steward’s available?

  24. 24

    Super Sach, ich bin gespannt auf die Fortsetzung bezüglich der zweiten Nacht, die ja die erste war. ‚“Wie man kommt gegangen, so wirde man empfangen“ (meine Mutter wäre stolz auf mich für den Gebrauh dieses Sprichwortes)

  25. 25
    mp_464

    ich schliesse mich martin aus comment nr. 9 an. wann gibt’s johnny endlich in buchform?

  26. 26

    @Batz: auf den Punkt!
    Nimm einen x-beliebigen CSD, wo Dir auch jedesmal passieren kann, dass zwei muskelbepackte, bärtige Kerle in Leder- oder Military-Uniform auf einmal mit gebrochenem Handgelenk über Ihre Tisch-Deko referieren. Ich liebe es :)

    @Johnny: ich freue mich auf Teil 2 ;)

  27. 27
    inga

    johnny in buchform – johnny between the sheets? womit wir wieder beim thema wären…

  28. 28

    Traumhafter Post. Ich habe sehr gelacht. Auf die Fortsetzung freue ich mich. ;)

    Gruß Chris

  29. 29

    Hm. Vermischt du da ein wenig was? Da ist ja das reinste Wirrwarr zwischen Homo- und SM-Szene. Ist nur mein Eindruck.

  30. 30

    Der S/M-Part kommt erst noch, irgendwie war das ein Fehler, den Artikel halb zu veröffentlichen (auch der Titel macht erst nach dem zweiten Teil Sinn).

    Im ersten müsste man wohl eher von einer Fetisch-Szene sprechen. Das schwule Outfit habe ich nur gewählt, weil ich sonst nix fetischeres hatte. :)

  31. 31
    mp_464

    wann kommt denn eigentlich teil 2?

  32. 32
  33. 33
    mp_464

    besteht eigentlich auch die moeglichkeit dass du irgendwann mal ein buch rausbringst („fetisch, blogs & rock’n roll“ o.ae.). wuerde ich naemlich sehr interessant finden.

  34. 34

    Warum schreien eigentlich alle so laut nach den (sehr) alten Medien? Warum Johnny als Buch, wenn’s Weblogs gibt? Rückwärts nimmer!

  35. 35

    Weil…
    …man ein Buch aufschlagen kann.
    …ein Buch echtes Papier zwischen den Fingern bedeutet.
    …ein Buch auch mit leerem Akku funktioniert.
    …es o herrlich analog ist.
    …man sich damit so herrlich ins Bett kuscheln und drauf einschlafen kann.

    Liste beliebig fortsetzbar.