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Fliegen lernen

Prolog
Dies ist bestimmt nicht die wahre Geschichte des Manoel Francisco dos Santos. Es ist die Geschichte, wie sie mir erzählt wurde, während eines langen Abends in einer Kreuzberger Bar. Es war ein hinkender Brasilianer, der sie mir erzählte, Kinderlähmung, sagte er. Jorge hieß er, und erzählte mir die Geschichte lachend, während wir soffen.

1
Im Herbst des Jahres 1933 wird im brasilianischen Dschungel ein verkrüppeltes Baby geboren. Es ist klein und schmächtig, und seine Beine sind verwachsen. Wahrscheinlich, sagt der Arzt zur Mutter, wird es niemals laufen können, das Baby. Es soll Manoel Francisco dos Santos heißen, bekannt wird es unter dem Namen Garrincha. Kleiner Vogel.

2
Nach vielen teuren Operationen kann Manoel zwar wieder laufen, aber seine Beine sind noch immer verkrüppelt. Das rechte Bein knickt nach innen ein, das linke wölbt sich nach außen und ist sechs Zentimeter kürzer. Nachts kann Manoel nicht schlafen, weil er Schmerzen hat. Mit zehn Jahren trinkt er das erste Mal, Cognac, gegen die Schmerzen. Tags spielt er mit den anderen Jungs Fussball, das hat ihm sein Orthopäde geraten. Oder er jagt Vögel im Urwald, besonders diesen einen, kleinen, kümmerlichen mit dem seltsam watschelnden Gang, nach dem sich Manoel benennen wird: Garrincha.

3
Garrincha ist besser als die anderen Jungs aus dem Dorf, und er weiß, was er aus sich machen soll. Nachts hat er immer noch Schmerzen, aber eines Tages geht er in die Stadt, nach Rio, zu Botafogo. Probetraining.
„Jetzt schicken die mir schon einen Krüppel“, sagt der Trainer zur Begrüßung. Dann sagt er das ganze Training über gar nichts. Dann gibt er Garrincha einen Profivertrag. Die kommenden Jahre gehen als „goldene Jahre“ in die Geschichte des Clubs ein.

4
Garrincha ist schnell, er ist ballgewandt, verspielt, egoistisch, und er demütigt gerne seine Gegner. Er ist der ideale Rechtsaussen. Später wird jemand sagen: Sein Körperschwerpunkt liegt viel tiefer als bei anderen Spielern, wegen der verkrüppelten Beine. Das ist zwar wahr, aber es stimmt nicht. Der kleine Vogel spielt einfach. Nicht aus Spass, nicht aus Freude, nicht, weil es sein Lebensinhalt ist – er kann nichts anderes. Alles, wovon er etwas versteht, ist der Ball. Man muss ihn gesehen haben, um zu wissen, was Fussball sein kann, sagt jemand anderes. Und das stimmt.

5
Wenn Garrincha abends Schmerzen hat, trinkt er. Wenn er trinkt, will er Freunde um sich haben und tanzen und Weiber. Und wenn er Freunde und Weiber um sich hat, dann trinkt er. Das ist Leben, sagt Garrincha, und zeugt 14 Kinder. Mindestens.

6
Nationalcoach Feola nimmt Garrincha mit nach Schweden, zur WM 1958. Im dritten Spiel gegen die Sowjetunion wird er zum ersten Mal eingesetzt. Hinterher erzählen seine Gegenspieler, sie hätten nicht verstanden, was der kleine Vogel mit dem Ball gemacht hat. Und mit ihnen. Von da an spielt Garrincha die gesamte WM. Und die nächste, 1962 in Chile. Brasilien ist Favorit, Pelé scheidet früh verletzt aus. Keiner merkt es, Garrincha macht es alle vergessen.

7
Als er nach Hause zurückkehrt, ist er der Star Brasiliens. Er säuft, feiert, verlässt seine Frau und seine acht Kinder und heiratet eine Sängerin. Er schläft sich durch die Betten der Stadt. Es ist eine große Party, es ist sein Jahr. Überall wird er gefeiert, bei jedem Freundschaftsspiel spielt er, alle wollen ihn sehen, das Vögelchen. Er spielt, er freut sich, abends hat er Schmerzen und trinkt. Eigentlich sollte er sich operieren lassen, wahrscheinlich ist der Meniskus hinüber, die Sehnen leiden. Garrincha zuckt mit den Schultern und nimmt Urwald-Kräuter, die ihm seine Mutter schickt.

8
1966 fährt er ein letztes Mal zu einer WM. Aber sein Körper ist am Ende, das Vögelchen ist langsam geworden, müde, alt. Außerdem haben die Ungarn Pelé kaputt getreten, Brasilien scheidet in der Vorrunde aus. Eine Katastrophe. Garrincha beendet seine Karriere, sein Körper will nicht mehr. Das Vögelchen hört auf zu fliegen.

9
Dann versackt er in den Vororten Rio de Janeiros, eigentlich soll er junge Talente finden. Es ist ein Scheißjob, mies bezahlt. Garrincha trinkt, und eigentlich trinkt er schon lange nicht mehr gegen die Schmerzen. Manchmal verlässt er sein Haus noch, manchmal über Wochen nicht. Einmal muss er ins Gefängnis, für 90 Tage, weil er die Alimente für seine Kinder nicht bezahlen kann.

10
Da sind sie wieder, die Schmerzen. Nicht nur das Knie tut weh, nein, es ist das Herz, die Seele. Jetzt ist er wirklich ein Krüppel, einer der Letzten Brasiliens. Aber im Cognac liegt Vergessen, und so säuft sich das Vögelchen von Tag zu Tag, bis, im Januar 1983, er einmal zu viel säuft. Alkoholvergiftung. Keiner hat was gemerkt. Am nächsten Tag sind die Zeitungen voll mit alten Bildern, zum Begräbnis kommen hunderttausende. 49 Jahre ist es alt geworden, das Vögelchen, das viele in Brasilien für den größten Fussballer des Jahrhunderts halten. Ein Krüppel, ein Held.

Epilog
Jorge sah ein bisschen vor sich hin, auf die Tischplatte, sagte dann: „Mein Held“, trank den letzten Rum aus und bestellte eine neue Flasche.

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  1. 01
  2. 02
    Joscha

    Beeindruckende Videos dazu auch bei YouTube zu finden!