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Détestable, je t’adore

Mr. Hyde:

„žAhhh, Pari“, sagt immer alles, wenn ich meinen Auslandsaufenthalt erwähne. Ich kann“™s nicht mehr hören, dieses von schmalziger Sehnsucht durchtränkte, von wilden Träumen genährte, dieses durch und durch sentimentale: „žAhhh, Pari.“ Und dann: „žIch würde ja so gerne mal wieder nach Paris.“

Ja, und was da machen? Sich im Café de Flore einen café crème für 38 Euro über die Hose schütten, weil man auf der Terrasse so viel Ellenbogenfreiheit hat wie in einer dieser Billigflieger-Touristenfallen? Oder sich an der place de la Bastille verwässerten Pferdeurin oder was auch immer die da Bier nennen in den Hals schütten, während man versonnen in den von einer Smogwolke verhängten Himmel starrt? Oder am besten gleich in eines dieser schummrig beleuchteten Montmartre-Restaurants gehen, deren hygienischer Zustand Kreuzberger Dönerbudenbesitzer die Schamesröte ins Gesicht treiben würde, und da vier Tage alte Austern für ein Monatsgehalt bestellen, die selbst Automatix Verleihnix nicht mehr zur Gattung Meeresfrüchte gerechnet hätte?

Während an der place de l“™Opéra die Touristenführer ihr Sautreiben zur Madeleine veranstalten und am Seine-Ufer die umherschlendernden Möchtegern-Flaneure bei jedem verdammten Toulouse-Lautrec-Poster spitze Schreie der Begeisterung ausstossen, sitzen versonnen dreinschauende Kulturstudentinnen auf allen Terrassen der Stadt und schreiben ihre „žseelenvollen“ Rilke-Imitationen und denken sich: Ah, Pari. Und finden es in ihrer Parisophilie ganz wundervoll, dass diese Stadt zu einem Märchen-Paridies, einem Disney-Land europäischer Kulturgeschichte verkommt, während die Banlieues zerfallen. Ein verdammtes Kunst-Ghetto. In den Worten Raymond Queneaus selig: Paris am Arsch.

Dr. Jekyll:

Ah, Paris. In 20 qm Studentenmisere aufwachen, sechster Stock ohne Aufzug, Toilette auf dem Gang, 550 Euro kalt, und einen café au lait trinken, während man sich verschlafen die Zigarette falsch herum anzündet. In ein kleines Café gehen, an der place Pigalle oder an der tour Montparnasse, sich setzen, den Monde diplomatique lesen oder den Canard enchainé, sich von nichts aus der Ruhe bringen lassen, aber über alles schimpfen. Wie die anderen Pariser auch. Den ganzen verstrubbelten, Wollpulli tragenden jungen Leuten zusehen, wie sie an ihrer Kamera rumschrauben, über Politik diskutieren oder wichtig, wichtig etwas in ihr kleines Notizbüchlein notieren. Solange sie sich noch wünschen, Künstler zu sein, bis sie dann irgendwann Anwälte werden.

Später in die kleinen Gassen gehen hinter dem Printemps, sich auf einen kleinen Platz setzen und zusehen, wie sich die Anzugträger in ihrer Mittagpause von Tauben aufs Haupt scheißen lassen. Sich in den Park oberhalb der Gare Montparnasse legen und ein kleines Schläfchen halten, während unter einem alles hetzt und rennt und sich beeilt. Nie die Métro benutzen, alles zu Fuß ablaufen, nein: gehen.

Am Abend in einem supermarché eine Flasche guten Rotwein kaufen, Baguette und pâté, sich an den canal St.Martin setzen und die Zeit verstreichen lassen. Mit den Umsitzenden über ihre kleinen Theaterstücke sprechen, die sie nie verfassen werden, oder über das Filmprojekt, das eine Freundin der Tochter der Tante…

Am Abend Richtung gare du Nord schlendern, in die Bars gehen, wo die Migranten sitzen, und sich erzählen lassen wie das damals war in Algerien. Einfach nur auf der Strasse sitzen und zuhören. Um die Uhrzeit hat Paris Dreck unter den Fingernägeln, riecht ein bisschen aus dem Mund und schaut besorgt in die Zukunft. Aber es lacht. Und irgendwann nach Hause gehen und lautlos einschlafen. In den Worten Raymond Queneaus selig: Ah, Paris.

34 Kommentare

  1. 01
    David

    Nix Automatix. Verleihnix!

  2. 02
    Parisien

    Dazu auch wunderschön Wiglaf Droste, „Ausgeplündert werden in Paris“, http://www.france-mail-forum.de/fmf22/neu/22droste.html

  3. 03
    Frédéric

    @ David: Oh verdammt. Das ist ja hochnotpeinlich.

  4. 04

    C’est la vie, ne c’est pas?

  5. 05

    Bis ich ob des thematisch bedingt französisch angehauchten Textes geschnallt hatte, dass da Pferdeurin steht, hätte man zwei Millionen Bindestriche darin unterbringen können. Dabei hätte einer schon gereicht.

  6. 06
    Maltefan

    Was hat das Meer mit meinem Fisch zu tun? Mein Fisch kommt aus Lutetia!

  7. 07

    @ Arby:

    Darüber bin ich auch gestolpert… aber gerade das macht doch den Reiz eines solchen Wortes aus.

  8. 08

    Dort wo Paris Dreck unter den Fingern hat, rund um die Rue Faubourg St. Denis laesst es sich trefflich leben…

    Hach…

    Hatte ich schon erwähnt, dass der ICE von Saarbrücken in 1:45 am Gare de l’Est ankommt?

  9. 09
    Peter H aus B

    Seltsam, das Paris das ich kenne, ist größtenteils ganz anders.
    Kommt wohl drauf an, was man aus der Sache macht. Nicht ärgern, nur wundern, gelle.

    Und: wo ist der Unterschied zwischen Hyde und Jekyll? Sind beide schlecht drauf, oder?

  10. 10

    Danke vielmals für diese wunderschöne, farbige Annäherung an Paris aus zwei Blickwinkeln:

    http://thinkabout.ch/article/zwei-ansichten-noch-einmal

    […]
    Und mein Urteil dürfte nicht nur deshalb „passen“, weil sich Paris mir noch nicht so richtig erschlossen hat.

  11. 11
    Matthias

    Hattest du auch erwähnt, dass da für Studenten unerschwinglich ist?

    Ich empfehle Eurolines Nachtbus, 38€ hin und zurück. Und interessante Gespräche gibts umsonst dazu.

  12. 12
    Maltefan

    „Märchen-Paridies“
    Hat das schon jemand gewürdigt? Sehr schön!

    „einem Disney-Land europäischer Kulturgeschichte“
    Hmpf, das erinnert mich daran wie sie mich in der 4ma mal geködert haben, bei einer Tagung Standdienst zu machen mit den Worten „Willst Du mit nach Paris fahren?“ — Und jetzt ratet mal, wo diese Tagung war. Und wer die ganzen 4 Tage keine Zeit hatte, mal in die Stadt zu fahren. Grmbl.

  13. 13

    @maltefan: ne tagung im disneyland paris? wie bitter …

  14. 14
    ben

    schöner text, mehr davon!

  15. 15

    Isch glaube, Paris ist froooh, nach dreiundzwanzisch Tageeen wiederrr draussssen zuuu sein.

  16. 16

    Doc Jekyll macht’s richtig! Ich würde allerdings hier und da doch die Metro nehmen wollen, macht so’n Spaß unterirdisch gegen den Strom zu laufen „¦ ,-)

  17. 17
    Frédéric

    @ Peter H aus B: Das Dr. Jekyll – Mr.Hyde-Spiel bezieht sich eher auf das Syndrom denn auf das Buch. Soll eigentlich bloß heißen, dass, sobald ich an Paris denke, ich gleichzeitig fluchen und jubeln möchte.

  18. 18

    give paris
    one more
    chance

  19. 19
    Nadja

    sehr schmunzeliger Text! il me plait beaucoup, ce coté de la ville – enfin la déscription!
    mais alors- pourquoi sont-ils si fiers de cette ville surpeuplée et salle?!

    @ Parisien: sehr schöner Link (Ausgeplündert werden in Paris)!

  20. 20

    Ich war neulich wieder da und habe mich dann doch für Wien entschieden.

  21. 21
    carola huflattich

    wien, berlin in wien, wien in berlin……

  22. 22
    Je t'emmerde

    J’ai honte de toi, Frécouille. Was redest Du da oben für eine Scheiße. Paris durch den Dreck ziehen ist super, aber Du hast ja es so gar nicht drauf.

  23. 23
    AAA

    „Ahh, Pari“
    „Danse sur la merde!“

  24. 24

    Endlich die Wahrheit über Paris. Menschen, die „da bald mal wieder hin müssen“, sind einfach blind. Drei Monate waren mir 90 Tage zu viel.

  25. 25

    Kommt es nicht auch hier hauptsächlich auf den Blickwinkel an? Wenn ich scheiße drauf bin, schmeckt mir mein eigener Espresso zu Hause nicht – und das will was heißen.

  26. 26
    marie

    wer die ausgelatschten touristenpfade nicht verlässt, wird in jeder Stadt der Welt geneppt – schon mal am käthe-kollwitz-platz mit einem lächeln effizient bedient worden? Nee, ne!

    Weiter suchen in paris, es lohnt sich
    courage!

  27. 27

    Schöne Texte, und jetzt will ich doch wieder nach Paris. Mein erster Aufenthalt dort war überaus grausam und ja, das Essen schmeckte auch wirklich gar nicht gut.
    Dabei glaube ich, dass ich Städte mit Dreck unter den Fingernägeln eigentlich mag.
    Und das ist dann schon wieder so paradox, das kapiere ich ehrlich selbst nicht.

  28. 28

    nach meinem direkten vergleich beider städte, mitte der 90er (also london und pari(s)), hat london ganz eindeutig für mich gewonnen.

    paris konnte nicht das, was ich von der stadt erwartet hatte. nicht annähernd. obwohl es mal meine traumstadt war (also als ich noch im östen lebte…und noch nicht dort sein durfte).

    aber vielleicht hat mir auch nur ein guter tipp, ein führer gefelht. maybe…

    zu spät. london ist meine grosse liebe. :-)

  29. 29
    Na!

    Ein Führer? Ja, ja der fehlt Euch Ossis ja offensichtlich wirklich ganz besonders!

  30. 30

    Ossibashing am 01.07.2007? (kopfschüttel)

    An alle Söhne & Töchter der Kumpel von der SDAG Wismut
    hier aus dem Ruhrpott ein herzliches: Glück auf

  31. 31

    Ich mag Jekyll… Hyde is glaub auch ganz cool drauf, nur teil ich doch eher die Parisrezeption von Jekyll… Ich war letzten Sommer mal für nen Monat da und bin mir ziemlich sicher, dass es das letzte Mal gewesen sein wird. Paris übt zugegebenermaßen eine gewisse Faszination aus; nur schade, dass sie aus der Perversion der Reichtums- bzw. Armutsscheere resultiert. Wer Lust hat findet hier einen Jekyll-Bericht und hier eine literarische Umsetzung des Themas.

    Btw: Lol@Bannerwerbungsankündigung und Bannerwerbungsabschluss… Lach mich kaputt!

  32. 32
    Robatt

    Alternativ: Am allerersten Tag in Paris in einem akkustisch wirkungsvollen Torbogen des Louvre einem russischen Cellisten lauschen und ob des Könnens und der Schönheit des Dargebotenen heimlich weinen.

  33. 33

    Ich schließe mich der marie (26) an… =) Einfach weitersuchen. Ich habe mein Paris gefunden, Abseits des Drecks, der Touris und der Hektik. Aber zum Sterben würde ich dort nicht bleiben.

  34. 34

    Ah, Paris!
    Wie schön, der Text, wie treffend beschrieben das Zwiespältige von Paris. Je länger man da ist, desto mehr Mr. Hyde. Doch aus der Ferne fast nur Dr. Jekyll! Paris, je t’aime.