Damals, als man Worte wie „Mattenwagen“ oder „Klassenarbeitsraum“ noch regelmäßig in den Mund genommen hat, in der Schule also, erwarteten die ganzen Klassenkameraden nichts sehnlicher als die Sommerferien, um sich am Strand von Korsika, Fruchtcocktailschirmchen schwenkend, den ersten zweiten dritten sexuellen Erfahrungen entgegenzublinzeln.
Ich nicht. Sommerferien hieß Maloche. Bau. Oder Fabrik. Sowas sieht auf den Sozialisten-Plakaten immer ganz hübsch, schmuck und idyllisch aus, aber nein: War es nicht. Keine stalinistische Propaganda-Romantik. Dreck schlucken, bis die Leber kracht.
Einen meiner ersten Ferienjobs bekam ich bei einer Hoch- und Trockenbaufirma im Nachbardorf. Am ersten Tag wurde ich, der sich, was den Brustkastenumfang anbelangt, höchstens mit essgestörten Regenwürmern messen kann, für einen, wie sich der Chef ausdrückte, „besonders schönen“ Auftrag eingeteilt: Kirchturm abrüsten. Acht Stockwerke Malergerüst. Zu viert.
Während wir im Laster an diesen vermaledeiten Kirchturm fuhren, das weiß ich noch, sah ich häufig aus dem Fenster und dachte: Was ein Dreckswetter, wie man eben normalerweise denkt: Was ein Dreckswetter. Windstärke sieben, mit Böen, häufige Schauer. Als ich dann eine Stunde später vierzig Kilogramm schwere Gerüstträger in acht Metern Höhe durch die Gegend balancierte, wußte ich, was Dreckswetter noch so alles bedeuten kann. Muskelkater bis in den Myokarden zum Beispiel. Einmal riss mir eine Windböe einen Seitenträger aus dem vom vielen Regen glitschig gewordenen Handschuh, und das Ding fiel mir aus 10 Zentimetern Höhe aufs Genick. Ich dachte bisher, der Unterschied zwischen 10 und sagen wir 15 Zentimetern interessiere nur Männer mit dem Selbstbewußtsein einer Nacktschnecke. Dann aber meinte der Vorarbeiter: Mensch, Junge was machsten Du für Sachen. Wir dachten schon, Dein Genick sei ab. Da begann ich, jenen fünf Zentimetern eine andere Bedeutung zuzumessen. Aha, dachte ich, und das für 9 Mark die Stunde. Na super. Das hat der Ludwig, also der sechzehnte, aber billiger bekommen.
Aber eigentlich wollte ich von Spieß erzählen. Spieß, das war eine Verzinkerei nicht weit von meinem Elternhaus. Ich hätte eigentlich schon beim Einstellungsgespräch wissen müssen, dass die Arbeit dort meine Vorstellungen von der Hölle deutlich korrigieren würden. Das Gebäude stammte aus den Zwanzigern, die Ladehalle und der Zinkofen befanden sich im gleichen Raum, und es gab keine Toiletten. Oder vielmehr: Es gab wohl Toiletten, und zwar Plumpsklos, in die einmal wöchentlich ein hochexplosives Chemikaliengemisch geschüttet werden musste, damit nicht allzu viele Ratten daraus hervorkrochen. Aber wie heißt es so schön: Ich war jung und brauchte das Geld.
Die Haupthalle war mit Wellblech überdacht, und dank des offenen Zinkofens, der kontinuierlich auf 430° erhitzt wurde, herrschten saharaeske Temperaturverhältnisse. Direkt am Zinkofen, wo die meiste Arbeit mechanisch ablief, standen vier Leute, drei davon, wie es so schön heißt, mit Migrationshintergrund. Ich würde das eher „mit Migrationsvordergrund“ nennen. Sie kamen aus Anatolien, Kroatien und dem Kosovo, und träumten sich in den Pausen in ihre heimatlichen Gemüsegärten, wo sie Pfeife rauchend Kürbisse kultivieren würden, wenn nicht irgendeine Handgranate ein riesiges Loch in die Schlafzimmerwand gerissen hätte. Oder wenn es einfach nur Arbeit gegeben hätte. Sie waren vordergründig hier, in Gedanken waren sie immer wo anders. Verwunderlich ist das nicht, Deutschland hat sie auch wie der letzte Dreck behandelt.
Der vierte war deutsch. Urallgäuer bis an die Grenzen des Bewußtseins seines Stammbaums. Der hatte tatsächlich mal im Lotto gewonnen, zweimal sogar: Einmal 600.000 Mark, einmal 480.000 Mark. Alles für Autos, Kasino und Reisen ausgegeben. Als er im Vollsuff den letzten Merzer gegen den Baum gefahren hatte, war’s aus mit dem Lotterleben. Und weil sein neugebautes Herrenhaus noch nicht abgezahlt war, er eine Familie zu ernähren hatte und keine Ausbildung gemacht hatte, stand er jetzt hier, am Zinkofen. Am ersten Freitag, als wir zusammensaßen und noch ein Bier tranken, da fragten die andern: Und, Franz, was machste denn am Wochenende? Und er sagte: Ich geh innen Wald und häng mich auf. Ich grinste. Ich konnte das nicht ernst nehmen. Dann schaute ich in die Runde, weil gemeinsam grinsen immer lustiger ist. Als ich so in die Runde sah, grinste keiner. Alle schauten betreten auf den Boden. Na dann, dachte ich.
Sie hängten hinter der Maschine das Zeug am Laufkran ein, das dann verzinkt werden sollte, also Stahlträger, Bodenhalterungen, Treppengeländer, allerlei Kleinkram und son Zeug. Das alles wurde ins Zinkbad eingetaucht, dort für kurze Zeit belassen, und dann in den vorderen Teil der Halle, zu uns, geschickt. Ich habe nie wieder Leute erlebt, denen es so scheißegal war, was sie tun, und die es trotzdem taten, weil in den viel zu kleinen Wohnungen ein Haufen Gnome saß, der sehnlichst auf die von Papa mitgebrachten Aldi-Tütensuppen wartete.
Ich war in der Produktionshalle tätig. Das heißt, ich holte die zum Teil noch 300 Grad heißen Stahlteile von der Kette, hortete sie und verlud sie theoretisch später, häufig aber sofort auf die Lastwägen. Mit mir arbeitete Eddy, wir waren sozusagen das Blut und die Lungen des Betriebs. Also die Lungen, die Blut kotzen. Weil wir, wenn die Teile nicht ordentlich verzinkt worden waren, nochmal mit dem Silberspray drübermussten. Der verdampft allerdings schon bei 60 Grad. Ich beschreibe jetzt nicht, wie mein Auswurf nach dem ersten Tag aussah. Wer mag, schließt die Augen und stellt sich eben eine Auster vor, in die ein Oktopuss mit Blutstuhl geschissen hat.
Eddy jedenfalls war Zigeuner, Roma. Nichts hasste er mehr als die Sinti, dieses „dreckige Gesindel, dass man samt und sonders an die Wand stellen sollte.“ Nein, Eddy war bestimmt kein Heiliger. Irgendein Sinti hatte ihm mit einem Revolver die Schulter durchschossen, und seine Haut am Rücken, am Austrittsloch, sah aus wie ein missratener Pfannkuchen. „Weißt Du, was wir mit dem gemacht haben?“, fragte er mich einmal. „Den Hunden gegeben. Musst nur den Schädelknochen auseinanderbrechen, dann frisst so ein Hund alles. Sowas findet keiner mehr.“
So war Eddy. Er hatte sich wahrscheinlich jeden Knochen im Leib gebrochen, den man sich brechen kann. Sogar die Fingerknochen. Bei den internationalen Meisterschaften im Fingerhakeln. Und er arbeitete für vier. Wär er ein Zimmermädchen gewesen, man hätte ihn die Seele des Hauses genannt. So war er bloß der letzte Dreck, den man für zehn Mark die Stunde malochen schicken konnte.
Wenn ich so meine Narben abzähle, es sind neunzehn, rühren acht von diesem einen Ferienjob her. Alles Verbrennungen, weil ich, übermüdet und unaufmerksam, mich an irgendwelchen beschissenen Stahlträgern verbrannt hatte.
Zu allem Überfluss war der Chef ein kleiner, dicker, cholerischer Stumpen, der bei jeder Kippenpause, die wir machten, sich in einen kreischenden Lynchmob auf der Suche nach Blut verwandelte. „Zum Rauchen werden ihr hier nicht bezahlt! Nicht zum Rauchen!“ Ich ertappte mich mit schnöder Regelmäßigkeit bei dem Gedanken, ihn an einen Stahlträger zu nageln und genüsslich ins Zinkbad zu tauchen. Aber hey, dachte ich, es ist ja nicht mehr so lang hin. Die Wochen wurden weniger, die Verbrennungen mehr. Das machte aber nichts, auf Grund des vielen Zinks in der Luft heilten die Wunden binnen Sekunden. Zink soll ja sehr gesund sein. Trotzdem juckte es mich am Ende des Sommers permanent unter den Augenlidern, meine Fingenägel waren gelblich angelaufen und ich glaube, dass einige Zähne lockerer saßen als sonst. Das gab sich aber wieder nach vier Wochen Mathematik und Sport.
Von dem Laden habe ich nicht mehr viel gehört, irgendwann soll ein wenig Mauerwerks weggebrochen sein, und in dem Zusammenhang kam wohl auch das Gesundheitsamt vorbei und hat den Spieß dichtgemacht. Der Chef hatte aber wohl kein Geld für die Sanierung der Anlage, und hat dann Konkurs angemeldet. Zwei Wochen später stand Franzens Name in der Zeitung, bei den Totenanzeigen. Gelernt hab ich auch was dabei, und das ist wohl das wichtigste: Der Klempner im Haus spart den Zimmermann nicht. Oder so.
Und was machste jetzt im Sommer immer so? Muss Dir ja wahnsinnig langweilig vorkommen..;-)
Cocktailschirmchen schwenken…
Glückwunsch diese Arbeit überlebt zu haben. Das schöne ist ja, dass man später von solchen Zeiten berichten kann, sei es in der Kneipe oder im Blog. Ich erzähle auch noch immer von meiner Zeit als Zivi, obwohl ich den Dienst währenddessen sensationell scheiße fand. Schließlich musste ich immer arbeiten während meine Kumpels schon am See lagen und die Mädels klar gemacht haben. Aber in einem OP erlebt man halt mehr als am See uns stärker macht es einen auch. Und das mit den Mädels, wie sagte doch die „beste Band der Welt“: Ja eines Tages werd ich mich rächen…
na, Hauptsache, Du hast einen erfüllenden Ersatz gefunden. Jedem das Seine;-)
Die verakkordete Urlaubszeit hatte man immerhin locker wieder raus, wenn man sich, dank der gewonnen Erfahrungen, während des Studiums guten Gewissens aus dem AStA-, AntiFa-, Falken-, Sonstwasplenum ausklinken konnte, weil man wusste, dass das Proletariat garantiert nicht auf die Revolution wartet, die dort aus zarten Fäustchen geschüttelt wurde.
Ich hab den Sommer vor 3 Jahren in ner Giesserei verbracht. Das mit den Mädchen hab ich aber noch irgendwie untergekriegt, während des nächsten Praktikums, und den Führerschein hab ich auch noch gleichzeitig gemacht.
War ne gute Zeit damals *seufz*
Sehr schöner Text.
wahnsinnig toller text….
Es gibt Zeiten, da werde ich ganz ruhig
und dann kann ich die Welt nüchtern sehen.
Doch meistens ist es wie immer:
alles ist irgendwie grau.
Und manchmal kommt es noch schlimmer,
wer ist schon bei so was gut drauf?
Joa, kommt mir bekannt vor. Musste zwar nie in so’ner Drecksbude malochen, aber je nach Baustelle schwankte die Erfahrung auch immer zwischen beschissen und noch beschissener.
ganz großes kino — da werden erinnerungen an die längst vergessene jugend wach! an den erster ferienjob, das erste bier im bauwagen zusammen mit den „ºrichtig schweren jungs vom bau“¦“¹ und dem blauen daumen vom ersten tag pflastern.
ja und heute schmerzt eher der rücken vom zu langen sitzen im vollgepupsten fernsehsessel.