34

Sommerlektüre

luftmatratze.jpg

Nachdem ich – etwas spät – meine Kamerascheu entdeckt habe (*kicher*), und offensichtlich doch Bedarf nach Sommerlektüre besteht, hab ich nochmal blind mit Bedacht in mein Bücherregal gegriffen und zehn kleine Kostbarkeiten ausgegraben, um sie mal zum allgemeinen Verriss zur Verfügung zu stellen. Kriterien sind Umfang, Tragbarkeit und Inhalt. Vor allem Umfang.

1. Thomas Bernhard: Holzfällen – Eine Erregung
Wie der fluchen kann, dachte ich in meinem Ohrensessel. Wie der fluchen kann! Und er flucht über alles: Über die Verlogenheit der Wiener „Kunstszene“, über den Burgschauspieler, über Künstler an sich, über Österreich. Über sich selbst.
Inhalt: Einer sitzt in seinem Ohrensessel und kotzt. Innerlich. Ganz großer Seelensplatter.
Tragbarkeit: In heiligem Zorn, wie eine Hostie, immer über dem Kopf halten. Geifern dabei.
Reiseziel: Kleinstädte. Österreich.

2. Robert Walser: Der Spaziergang
Ich laufe gern Treppen herunter. Was ein Geschwätz.
Robert Walser: Jakob von Gunten

Von Walser kann man eigentlich alles empfehlen. Zumindest alles, was ich bisher gelesen habe. Es gibt eine kleine Anekdote, die Max Frisch in seinen Tagebüchern überliefert hat, und ungefähr so geht: Walser hat in seinem Leben ein einziges Mal Lenin getroffen, irgendwann 1916 oder 1917, also kurz bevor Lenin in diesem Eisenbahnwagon nach Russland transferriert wurde. Die einzige Frage, die ihm einfiel, lautete irgendwie so: Haben sie eigentlich die Züricher Reibekuchen auch so gern?
Es geht Walser um die kleinen Dinge, um Blumen, um die Bäckersfrau, um eine Briefmarke. Er kann ganze Sätze über eine Briefmarke schreiben, und man langweilt sich nicht. Wenn andere so begeistert und liebevoll schreiben, sackt das schnell ins Kitschige ab: Nicht so bei Walser. Da freut man sich einfach. Nur so.
Inhalt: Einer geht spazieren. Und mag Blumen.
Tragbarkeit: Verträumt-versonnen.
Reiseziel: Flachland-Wanderurlaub, Fahrradtouren.

3. Boris Vian: Ich werde auf eure Gräber spucken
Allein der Titel! Muss man so oder so im Regal stehen lassen. Vian ist Beatnick, was sein Erzähltempo anbelangt, Existenzialist in seiner Ideenwelt, surreal in seinen Metaphern. Wobei „Ich werde auf eure Gräber spucken“ kein typischer Vian ist, wenn man das so sagen darf: grausamer, direkter, fast überhaupt nicht verspielt. Aber eindrucksvoll. Sehr sogar.
Inhalt: Lee Anderson, ein weißer Schwarzer flieht nach dem Tod seines Bruders, der wegen einer Liebesbeziehung zu einer Weißen gelyncht wurde, in eine Südstaaten-Kleinstadt. Während er lose Beziehungen zur Kleinstadtjugend unterhält, wartet er als Weißer auf den Zeitpunkt seiner Rache.
Tragbarkeit: Locker in der linken Gesäßtasche. Sehr locker. Der James Dean-Gang kommt dann von ganz alleine.
Reiseziel: USA. Roadtrips.

4. Simone de Beauvoir: Die Mandarine von Paris
Das einzige umfangreichere Buch, dass ich empfehlen würde. Allerdings das einzige Buch, das ich sofort nach Beendigung der Lektüre nochmal von Beginn an lesen wollte. De Beauvoir hat es auf wundersame Weise zustande gebracht, dass ich mich in jede der Hauptpersonen habe hineinversetzen können. Erstaunlich.
Inhalt: Paris nach dem zweiten Weltkrieg. Schon fast autobiografisch beschreibt das Buch die Selbstfindungsschwierigkeiten der französischen Intellektuellen, ihre Kämpfe, ihre Fluchtversuche, den Aufbruch in ein neues Leben, in ein neues Frankreich.
Tragbarkeit: Locker existenzialistisch, am besten auf dem Gepäckträger eines geklauten, rostigen Fahrrads. Macht sich großartig zu Pastis und Gitane ohne Filter.
Reiseziel: Paris und/oder Schlechtwettergebiet

5. Nathalie Sarraute: Kindheit
Sinngemäß hat Sartre einmal über Sarraute gesagt, dass ihr vor der Lüge, der notwendigen Lüge des Romanschriftstellers graue. Das würde ich sofort unterschreiben. Sarraute erzählt keine Geschichte, sondern zerfasert sie, sie taucht in die Erinnerungen ein, um sie zu zersprengen, um ihnen zu widersprechen.
Inhalt: Sarraute beschreibt hier Kindheit nicht als eine zusammenhängende Erinnerung, sondern mehr wie ein zu Bruch gegangener Spiegel, der ein fragmentiertes Bild zurückwirft, aber keine Einheit. Am Ende gibt es keine Geschichte, sondern viele kleine Momente.
Tragbarkeit: Verschämt-verschüchtert in der Brusttasche.
Reiseziel: Unterbewußtsein. Elternbesuche.

6. Juli Zeh: Die Stille ist ein Geräusch
Normalerweise lese ich kaum aktuelle Bestseller-Literatur. Bei Juli Zeh bin ich ganz froh, dass ich mal ne Ausnahme gemacht habe, wobei ich mir nicht sicher bin, was ich an dem Buch eigentlich mag: Vielleicht, dass Juli Zeh die Erzählerin so ruhig und unaufgeregt angelegt hat; vielleicht, dass sie kaum den moralischen Zeigefinger auspackt, wenn es um den Krieg geht. Das Buch ist so angenehm unaufdringlich, obwohl es viel zu erzählen hat.
Inhalt: Juli Zeh beschreibt eine Reise mit Hund durch das Nachkriegsbosnien.
Tragbarkeit: Auf der Rückbank eines klapprigen Autos.
Reiseziel: Bosnien im speziellen, Jugoslawien im allgemeinen. Reisen mit Hund.

7. Gustave Flaubert: Salammbô
Das Buch ist ein einziger Rausch: Farben, Gerüche, Blut, Sex, Gewalt, Grausamkeit, alles wird durcheinandergewirbelt. Ein Buch wie ein Strawinski-Ballett.
Inhalt: Karthago nach dem ersten punischen Krieg. Ein Heer von Söldnern unter der Führung von Mathô zieht, nachdem es seinen Sold nicht erhalten hat, gegen die Stadt. Mathô verliebt sich in die Tochter des punischen Königs, Salammbô. Mehr verrat ich nicht.
Tragbarkeit: Bildungsbürgerlich, am besten in einer Ledertasche mit 37 Kunstführern (nein, Baedecker zählt nicht).
Reiseziel: Nordafrika.

8.Lewis Caroll: Alice im Wunderland
Ein Engländer muss schon drin sein. Ich hätte auch Becketts Murphy nehmen können, fürchte aber, das Beckett trotz seines im wahrsten Sinne des Wortes (be)stechenden Witzes ein wenig düster ist für die Ferien.
Inhalt: Kennt wohl jeder irgendwie. Wer den Film mochte, wird das Buch lieben. Wer den Film zu kindlich fand, wird überrascht sein.
Tragbarkeit: Untragbar. Am besten verträumt immer mal wieder wo liegenlassen. Geht schon nicht verloren.
Reiseziel: Anglophonistan. Kenn mich da nicht so gut aus.

9. André Gide: Paludes
Abgefahren. Mehr kann ich dazu gar nicht sagen: Ich weiß nur, das ich es mochte. Sehr sogar. Ist auch sehr schmal, kann man sich problemlos selber ne Meinung zu bilden.
Inhalt: Ein Schriftsteller will ein Buch schreiben.
Tragbarkeit: Am besten in Kombination mit einem Notizbuch.
Reiseziel: Das richtige Buch, wenn man einfach nur raus will. Irgendwohin, egal wo.

10. Gabriel Garcia Marquez: Die Liebe in Zeiten der Cholera
Doch nochmal ein dickeres Buch zum Abschied. Nachdem nich fertig war mit lesen, wollte ich dringend nach Südamerika. Und meine Oma verkuppeln. Hat beides nicht geklappt. Liegt aber nicht am Buch.
Inhalt: Kolumbien im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Florentino Arriza verliebt sich in Fermina Daza, die aber den wohlsituierten, wenn auch etwas langweiligen Arzt Juvenal Urbino ehelicht. Mehr als ein halbes Jahrhundert später fällt Urbino beim Versuch, seinen Papagei aus einem Baum zu befreien, von der Leiter und erliegt seinen Verletzungen. Fermina Daza ist kaum ein paar Stunden Witwe, da steht Arriza wieder vor der Tür und hält um ihre Hand an.
Tragbarkeit: Am besten tragen lassen. Irgend ein Lakai wird sich schon finden.
Reiseziel: Südamerika.

Bonustrack: Meine UrlaubsWochenendlektüre: Enzensberger – Der kurze Sommer der Anarchie.

34 Kommentare

  1. 01

    ich hänge gerade im „Schatten des Windes“ fest. auch sehr zu empfehlen.
    der vian ist notiert. :D

  2. 02

    Auch ein schöner Satz: „Von xxx kann man alles empfehlen, was ich gelesen habe.“ :-)

  3. 03
    Frédéric

    :) Das ist ja beinah schon Reich-Ranickiesk. Das lass ich dann mal so stehen…

  4. 04

    ist da so eine sonnen-reflektierende Matratze um schneller braun zu werden? in der wohnung???

  5. 05

    mein lieblingsbernhard (ohne t) ist ja „wittgensteins neffe“. so zärtlich schrieb er nie wieder. aber „holzfällen“ ist schon ganz groß, allein aufgrund der szene, wo des schauspielers leistung als ekdal gelobhudelt wird. „der alte, oder der junge ekdal??“

    hihi.

  6. 06
    Frédéric

    @ Nadine: Das Silberzeug ist zum schneller braun werden? Und ich dachte immer, das wäre, damit’s scheiße aussieht.
    Aber meine isses nicht. Da muss sich wer anderes outen.
    @ MArtha: Das passiert mir immer. Immer. Verdammt. Danke.

  7. 07
    Malte

    @ nadine
    nein, das ist eine nicht-reflektierende durchsichtige matratze, von der man nicht braun wird, aber bei 30 grad schwitzig am rücken.

  8. 08
    Stephen

    bernhard auf platz eins (auch wenn das keine wertung darstellen soll) imponiert mir. und mit marquez‘ „cholera“ gleich noch das zweite meiner 5 lieblingsbücher aller zeiten. top!

    und neben dem jungen vs. alten ekdal ist auch die ibsen/strindberg verwechslung großes kino äh literatur.

  9. 09
    ToCa

    Schöner Artikel! Wenn Ihr den absoluten Wahnsinn den ein Prakikum mit sich bringt mit erleben wollten, dann schaut doch mal auch dieser Seite hier vorbei:

    [Edit: Link entfernt. Ich mag Spam auch nicht besonders.]

    Der helle Wahnsinn jeden Tag neue Infos was wir Praktikanten am Tag so erlebt haben! Diese Seite ist einen Klick wert!

  10. 10

    stephen, ich sehe wir verstehen uns ;)

  11. 11

    Auf der Luftmatratze liegt aber „Ausweitung der Kampfzone“ von Hr. Houellebecq… Wat isn damit?

  12. 12

    und toca ist ja mal spam…

  13. 13

    Du hast´n Ohrensessel?! ick bin beeindruckt!
    Von García Márquez kann ich wiederum alles empfehlen, was ich gelesen hab ;)
    und: nimm mal noch kafka mit auf die liste. und salinger (aber nur die Erzählungen).

  14. 14

    Holzfällen ist eines der beindruckensten Bücher das ich jemals gelesen habe. Thomas Bernhard schreibt wie aus einem Fluß des Zorns – ganz große Kunst. Wenn auch sehr bitter.

    Ach, diese Österreicher.

  15. 15
    Frédéric

    @ Heinz: Das ist das beste von Houllebecqs Büchern und trotzdem schlecht. Oder ums PC zu sagen: Mir hats nicht gefallen.

  16. 16

    Oh, ein Houllebecq-Gesamtwerkt-Veriss wuerde ich mir hier wünschen :)

    Naja, ich fand Ausweitung der Kampfzone immerhin so beindruckend, dass ich damals nach der Lektüre zwei Tage schlecht gelaunt war. Aber mal so richtig.

  17. 17
    Malte

    @ fred und andreas
    blasphemie!

  18. 18
    Malte

    ach ja: dabei hatte ich die spammer-url so schön verändert:(

  19. 19

    11, 12, 13, 14
    – Rabbit Run
    – Rabbit Redux
    – Rabbit Is Rich
    – Rabbit At Rest
    von John Updike

    Muss man allerdings etwas länger Urlaub haben!!

  20. 20
    Maltefan

    Malte: Houellebecq-Fan? „Ausweitung der Kampfzone“ fand ich ganz groß. Es hat mich immerhin so beeindruckt, dass ich bis heute alles gelesen habe, was er geschrieben hat, obwohl nichts wieder so gut war.

    Ach ja, auch eine Empfehlung von mir: „Germinal“ von Emile Zola.

  21. 21
    Frédéric

    @ Andreas: Den Houllebecq-Verris kann ich beim besten Willen nicht schreiben. Bei Houllebecq ist das ungefähr so: Man liest zwei Sätze und muss dann drei Stunden schlafen, weil man sich so sehr gelangweilt hat. Das geht noch bei Ausweitung der Kampfzone, is ja eher ein dünnes Buch. Das geht gar nicht mehr bei Plattform. Houellebecq weckt den Narkoleptiker in mir. Für sein Gesamtwerk bräuchte ich dann wohl ein geschätztes Jahr.
    So, und jetzt haut mich.

  22. 22
  23. 23
    Maltefan

    Frederic: Ich hau Dich lieber nicht, Du siehst aus als würdest Du gleich umfallen.
    SCNR, Dein Maltefan ;-)

  24. 24
    Frédéric

    Hey, keine falsche Scheu!
    *mit erhobenen Armen rumtänzel*

  25. 25
    Maltefan

    Vorsicht, ich hab schon mal jemanden mit einem Schlag umgehauen. :-P

  26. 26
    Frédéric

    Im second life vielleicht.

  27. 27
    Malte

    @ maltefan
    ja, Houellebecq-leser. plateform war auch noch gut, möglichkeit einer insel nicht so recht, hatte aber auch seine momente.
    mit einem schlag? mein gott.

  28. 28

    Da sind einige Sachen dabei, die auch auf meiner Liste stehen. Juli Zeh zum Beipsiel, dass ich die noch nicht gelesen habe, da schäme ich mich schon fast für. Auf jeden Fall eine super Auswahl. Nicht schlecht. Aber zur Einstimmung aufs Lesen überhaupt werde ich wohl mit einem Houellebeque beginnen.

  29. 29
    Maltefan

    Malte, Frederic: Ja, mit einem Schlag — das war jahrzehntelang die Philsophie im Karate, dass ein Kampf mit dem ersten richtigen Treffer beendet ist, und ich war selbst überrascht, dass das funktioniert. Der Typ ist im Kumite vorgestürmt als ich grade angegriffen habe und mir praktisch mit dem Kinn auf die Faust gesprungen. Sofort anschließend ist er zusammengesackt wie ein nasser Sack. Kein schöner Moment, ich hatte richtig Angst, ihn verletzt zu haben.
    Umgekehrt habe ich mal an einem Lehrgang beim ehemaligen Bundestrainer teilgenommen, der mir „ganz locker“ eine Fußtechnik zeigen wollte (Ushiro-geri). Trotz Vorbereitung und nem großen Kissen bin ich nen Meter weit geflogen und erst mal ne Minute oder so auf meinem Hintern sitzengeblieben. Ich dachte echt, mich hat ein Pferd getreten.

  30. 30
    andruschka

    Houellebecq schreibt keine Literatur, der arbeitet für die Pharma-Industrie und finanziert sich über Tandiemen aus dem Segment der „Hier-haben-wir-ganz-was-feines-gegen-Reizmagen“- Produkte. So sieht das aus.

    Leider fehlen die Russen da oben:

    – Sorokin: Der himmelblaue Speck
    – Makanin: Underground oder ein Held unserer Zeit
    – jerofejew: Die Reise nach Petuschki

    Sind alle ganz großartig und funktionieren ähnlich wie Musik von Waits.

  31. 31
    Tilda

    jetzt bin ich versöhnt mit dem schlechten Leseurlaubsempfehlungsvideo :-)! grrrrrr* was habe ich mich darüber geärgert. Jetzt endlich lieferst Du Frederic eine ernst zu nehmende Liste, die ich leider schon vor Urzeiten abgearbeitet habe, aber zumindest interessant ist und nicht wie im Video einfach nur die Bestseller der letzten Jahre widerkäut! Der einzig interessante Vorschlag kam ja nun auch von Dir: Irmtraud Morgner!
    Und für einen Ukraineurlaub empfehle ich: Juri Andruchowytsch: Zwölf Stühle! (Um gleich mal die osteuropäische Liste von andruschka zu erweitern)
    Vorschlag für das nächste Literatenvideo: Einfach mal aktuelle Bucherscheinungen vorzustellen, die nicht durch die gesamten Feuilletonseiten geistern oder geisterten ….. .

  32. 32
    Evamorales

    Houllebecq ist ganz großartig, auf jeden Fall literaturfähig und weist zudem die besten Sexszenen auf, die ich nach American Psycho gelesen habe. Könnte jetzt abgeschmackt rüberkommen, muss aber einfach mal gesagt werden. Und Juli Zeh ist so prüde und sowas von Frolleinwunder, dass schon der Name mich gähnen lässt.