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Ich bin noch wach

Die Geschichte meiner persönlichen Zeitverschiebung fing mit einem juristischen Winkelzug an.

Es war nach Zehn, meine gesamte Familie saß vor dem Fernseher. Außer mir. Ich war fünf, lag allein in meinem Bett und hatte die lebhafte Fantasie einer 78jährigen Witwe, die ihre Medikamente nicht verträgt. Jedes Geräusch deutete ich als Zeichen eines Einbruchs und obwohl mein Vater Abend für Abend unter dem Bett, im Schrank und hinter den Gardinen unter meiner Aufsicht nachschaute, ob sich dort ein Sittlichkeitsverbrecher bereit hielt, war ich mir nicht sicher, ob er seinen väterlichen Pflichten auch heute sorgfältig nachgekommen war.
Ich machte mich also auf den Weg ins Wohnzimmer, hinein in den schützenden Schoß meiner Familie. Kaum hatte ich die Türklinke heruntergedrückt, sprang mir meine älteste Schwester entgegen und rief: „Du musst doch längst schlafen!“ Ich schaute zu ihr hoch und sagte: „Ich bin ein Kind und du bist ein Kind, also darf ich genauso hier sein wie du.“
Meine Schwester war 17 und meine These hätte einer Berufung kaum Stand halten können. Aber ich war deutlich niedlicher und so durfte ich mich zwischen meine Eltern rollen. Dort saß ich von da an jeden Abend, bekam die Augen zugehalten, wenn Bilder vom Holocaust zu sehen waren und sah durch die Finger meines Vaters mit einem Auge, dass meine Befürchtungen, was Menschen anging, nicht gänzlich unberechtigt waren.

Ich zitterte mich durch Miss Marple, lernte bei Eduard Zimmermann, dass die Welt da draußen wimmelte von unentdeckten Menschen mit ungedeckten Schecks, dämmerte unter dem Sofa, während die Gewerkschaft Solidarität sich einen Schnurrbart wachsen ließ, nickte den Falklandkrieg ab und hörte den Tagesschausprecher sagen, dass General Kießling an seinem Penis rumgespielt hatte während einer ärztlichen Untersuchung.

Irgendwann verschwanden im Laufe der Jahre meine Schwestern und noch ein wenig später brachte ich dann meine Eltern ins Bett und summte die Nationalhymne zum Sendeschluss.

Ich las Bücher bis weit nach der Geisterstunde, entdeckte bei Tutti Frutti, dass Mädchen wirklich doof sind, aber doch auch ganz interessant, stellte dann sogar fest, dass es Discotheken gab, in denen man zwar keine Länderpunkte brauchte, die Regeln aber ähnlich kompliziert waren, tatsächlich jedoch ebenso wie bei Tutti Frutti nur ein Vorwand, um am Ende nackt zu sein.

Meine Zu-Bett-Geh-Zeit dehnte sich immer weiter nach hinten aus, bis ich meinen Eltern morgens die Brötchen mitbrachte vor dem Schlafengehen.

In der Schulzeit war mein schlafliches Fehlverhalten kein Problem, denn ich besuchte ein nordrhein-westfälisches Gymnasium und dort kann man nur versagen, wenn man im Unterricht anfängt zu bellen oder sich als CDU-Wähler entpuppt. Während des Zivildienstes wurde es deutlich schwieriger und im Studium stellte ich schließlich fest, dass es da ein Problem gab.

Der blöde alte Studentenwitz mit den Ladenöffnungszeiten wurde für mich zur Wahrheit, ich ernährte mich nur noch von Tankstellenessen, was den Vorteil hat, dass man Tankstellenessen verzehrbereit machen kann, indem man es aufreißt, aber den Nachteil, dass es kein Essen ist.
Ich hörte also auf zu essen, was mir gut stand, allerdings auch mein Hirn schrumpfen ließ, so dass ich heute meinen Lebensunterhalt damit bestreiten muss, Texte zu verfassen, die davon handeln, dass ich nachts nicht schlafe. Da ich es aber nachts tun kann, ist es mir vergönnt ein Schleifchen um mein Leben zu machen und zu sagen: Gute Nacht.

Wenn ich übrigens einmal wirklich ganz unaufschiebbar früh aufstehen muss, habe ich ein fantastisches Schlafmittel zur Hand: Ich stelle mir das Ende der Zivilisation vor (Supergrippe, Superkrieg, Superfortpflanzungsunlust wegen Internetpornographie). Gräser sprengen die Bürgersteige, Fensterscheiben gehen in Stürmen zu Bruch, woraufhin sich Füchse in den Wohnungen ansiedeln, Hunde rotten sich zusammen (Chihuahuas fechten einen harten Kampf mit Darwin aus), in Motorhauben brüten Elstern, Elefanten stapfen durch das Brandenburger Tor und ernähren mit ihren in den dann wieder härter gewordenen Wintern erfrorenen Leibern besagte Hunderudel (Chihuahuas besiegen Darwin, weil sie mit einer Rüsselspitze im Magen ziemlich weit kommen), Moos legt sich über meinen Computer, Ameisenstraßen winden sich über den Fernseher, Tau sammelt sich auf der Couch, Frösche besiedeln das Bad. Das wirkt sogar jetzt.

31 Kommentare

  1. 01

    Klingt sehr nach mir, zumindest was die Schlafgewohnheiten betrifft. Zwar wirkt deine kleine Geschichte am Ende nicht bei mir, ich werde zumindest nicht müde, aber ich wünsch dir dann eine gute Nacht.

  2. 02

    ich kaschiere meine schlaflosigkeit immer gerne als frühaufstehen, überschneidet sich ja auch bei mir beides. meine regel alles vor 4 uhr fällt unter schlaflosigkeit.

    „In der Schulzeit war mein schlafliches Fehlverhalten kein Problem, denn ich besuchte ein nordrhein-westfälisches Gymnasium und dort kann man nur versagen, wenn man im Unterricht anfängt zu bellen oder sich als CDU-Wähler entpuppt. “

    wenn ich das an meinem in nrw gelegenen, und daher von landeskindern gut besuchten, etüdendomizil vorbrachte wurde ich beinahe mit lippschem pickert gesteinigt.

    sehr witziger und in seiner art gelungener text. schlaflosigkeit macht albärn. kannst du tagsüber „nachschlafen“? ich ja leider nicht, was mich zu einem der profiliertesten darsteller des todes in latschen im deutschsprachigen raum werden ließ.

  3. 03

    Also deine Endzeitfantasien über die Herrschaft der Tiere gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Kommen die vor oder nach der Diktatur der Mafiaroboter? ;)

  4. 04

    Ganz ehrlich, ich benutze Endzeitfantasien als Einschlafmittel, nach dem Motto „draussen geht die Welt zugrunde, da kuschel ich mich doch lieber unter die Decke meiner Freundin“.

  5. 05

    @Sebastian Sachse: Kannst du dir denn keine eigene Decke leisten? Oh Gott, der war so miieess… :D

  6. 06
    Peter H aus B

    Gut, das es mir nicht so geht.

  7. 07
    Maltefan

    Zu Deinem letzten Szenario gibt’s ein Buch: http://www.amazon.de/Welt-ohne-uns-Reise-unbev%C3%B6lkerte/dp/3492051324
    Wiseman glaubt übrigens, dass ohne uns alle Haustiere außer der Katze aussterben werden, denn die kommt auch ohne Menschen gut zurecht. Auch Kulturfolger wie Ratten und Küchenschaben werden ohne unseren Müll ein Problem kriegen.

  8. 08
    Malte

    @ westernworld
    ich verbiete mir mittlerweile das nachmitttägliche nachschlafen (bin aber nachgiebig mir gegenüber). jetzt zum beispiel wäre ich im grunde besser im bett. aber ich musste max mitteilen, dass er als gouverneur von alaska abgelöst wird, was ich unter albtraum klassifiziere, weil er es da wirklich verdammt schön fand (alaska bestand übrigens in diesem traum nicht aus unendlichen weiten sondern sah aus wie eine verschneite deutsche fußgängerzone).
    @ Mar Ci
    mafiaroboter machen zu viel lärm. der italiener an sich ist eh schon lärmneurotiker und dann das ganze noch in metall?
    @ sebastian sachse
    im vergleich zur endzeit kann das ganz schön kuschelig sein ;)
    @ maltefan
    ich knie wie immer andächtig nieder. ist das buch denn gut? ich glaube, dass hunde sich recht bald einmendeln würden und aussähen wie strandhunde in der türkei.

  9. 09

    Ich habe jetzt mal meinen Nachnamen ausgetragen, das klingt ja fürchterlich beim Zitieren :-)

  10. 10
    Maltefan

    @Malte:
    Ich hab das Buch selber noch nicht gelesen. Mit den Hunden bin ich eher skeptisch, denn auch türkische Strandhunde leben vom Zivilisationsmüll. Wohingegen meine verstorbene Katze, Gott hab sie selig, mir jede Nacht um drei eine lebende Maus als hübsches Geschenk und Abendunterhaltung (einfangen, rausbringen) gebracht hat …

  11. 11

    Der Autor war neulich in der Daily Show, es scheint zumindest ein unterhaltsames Buch zu sein.

  12. 12

    mannomann – und ich dachte schon bei dem eintrag von 0uhr22 „auwacka – malte ist noch wach“. und dann bin ich ins bett gegangen.

  13. 13

    Ja, das Buch mit der Welt ohne Menschen! Hab ich nicht gelesen, hab aber darüber gelesen. Das ist irgendwie eine unglaublich faszinierende Idee, das gab´s schon gelegentlich im Kino („Quiet Earth“), und in der Literatur ist es fast schon so eine Art Subgenre, zum Beispiel „Leere Welt“ von John Christopher, das hab ich mit der Taschenlampe unter der Bettdecke gelesen, während Malte den Falklandkrieg abgenickt hat, meine Eltern waren nämlich wertkonservativ, Tagesschau und Schluß.

  14. 14
    Caro

    Nacht’s da sind Alle da, wenn sie aus dem UFO gestiegen sind ., denn SIE machen Urlaub auf der Erde

  15. 15
    Maltefan

    @Dietrich: „Quiet Earth“ ist echt ein Klassiker …

  16. 16

    …allerdings, und zwar einer, der irgendwie immer übersehen wird, aber genau das ist ja andererseits auch ganz schön: ein Kassiker, den man nicht in jedem Feuilleton nachgeworfen kriegt, sondern einer, den man sich selber sucht…

  17. 17
    heidrun

    an „quiet earth“ hab ich unangenehme kindheitserinnerungen: ich war noch paranoider als malte & habe zeitweise meine eigenen eltern der planung terroristischer anschläge verdächtigt. und da hat mir ein trailer von „quiet earth“, auf den ich irgendwie zufällig einen blick erheischte, den rest gegeben. also, ein schlafmittel war das dann nicht gerade. geschlafen habe ich als kind eh so gut wie gar nicht. dafür jetzt wie ein erdmännchen im winterschlaf meist von 12-8.

  18. 18

    Noch ein Buch zum Thema: In „die grüne Wolke“ beschreibt Alexander Neill, zu dieser Zeit Direktor von Summerhill, das Überleben einer Kindergruppe auf einem sonst ausgestorbenen Planeten. Unter anderem die Episode mit den Zootieren und den verwilderten Hunderudeln kommt dort auch vor. Sehr witziges Kinderbuch!

    (Und, wenn wir schon mal dabei sind:

    „In der Welt, die ich sehe, jagst du Elche durch die feuchten, bewaldeten Schluchten rund um die Ruinen des Rockefeller Center“¦ Du trägst Ledersachen, die den Rest deines Lebens halten werden“¦ Du kletterst die dicken Kutso-Ranken empor, die den Sears Tower umschlingen“¦ Ein Blick hinunter, und du siehst winzige Gestalten, die Mais stampfen“¦ Und Streifen von Wildbret auf der leeren Überholspur eines verlassenen Super-Highway auslegen“¦“

    – Tyler Durden, Fight Club)

  19. 19
    heidrun

    uch, fight club. dann doch lieber twelve monkeys.

  20. 20

    Schon, Twelve Monkeys, aber da ist Brad Pitt eine unerträgliche Nervensäge, dann doch lieber Brazil.

  21. 21
    heidrun

    brazil ist schon besser, aber twelve monkeys ist neben snatch der einzige film, in dem ich brad pitt erträglich finde. ich meine, es ging um fight club! fight club! einer der absolut überschätztesten filme aller zeiten.

  22. 22
    sunny

    caro – prima – lalalalallalalallalallalallalalallalalallalalallalalallallalalallalallalalallalallalallalallalallalallalalallallalla

  23. 23
    sunny

    ich muss pullern

  24. 24
    Malte

    sunny!!

  25. 25

    Das ist schon merkwürdig, wenn man (wie ich gerade) vom Powernapping im Büro erwacht und dann einen solchen Text liest.
    Ich könnte jetzt jedenfalls Bäume ausreißen und was tu‘ ich stattdessen?
    Einkommensteuererklärung 2006 – my Goodness !

  26. 26
    d_l

    Fantastisch geschrieben… und mir geht es auch so. Ich kann vor 4 Uhr nachts eigentlich nicht schlafen. Hier übrigens einige interessante Thesen zum Thema 4 a.m.

    Der Studentenwitz trifft auch bei mir ins Schwarze. Zum Glück kann man Magisterarbeiten ja auch während der Dunkelheit schreiben ;)

  27. 27

    Wer Quiet Earth übrigens mal sehen möchte, der läuft glaube ich jede zweite Woche im ZDF, gefühlt.

  28. 28
    schläfer

    Lese grad ’s Wiseman-Buch, ist OK, teilweise wie eine Reportage geschrieben. W. besucht für seine Recherche verschiedene Experten in aller Welt an ihren Wirkungsstätten. Den Zerfall nach unsrem plötzlichen Verschwinden beschreibt er am Beispiel von New York (Das läuft innerhalb von Tagen voll und säuft dann bald ab – wenn das Al Quaida wüßte!).
    Manchmal mit zu vielen Details schätzingesk überladen. Dadurch kommt die Zerfalls-Story ins Stocken, obwohl gerade sie dynamisch-spannend erzählt werden müßte – m.M. nach. Hatte wohl nach der SPIEGEL-Rezension etwas leicht anderes erwartet. Aber def. lesenswert. Wer nicht alles von der Spiegel-Bestsellerliste kauft, um mitreden zu können, sollte aufs Paperback warten. Zur Einstimmung empfehle ich, sich im Buchladen den Zerbrösel-Zeitstrahl auf den Innenseiten der Buchdeckel anzugucken.
    Jedenfalls überraschend, WIE schnell die Natur sich alles wieder zurückholt,wenn keiner mehr da ist und kultiviert. Ich les‘ das Buch auch immer morgens zum Einschlafen.

  29. 29
    mc bastard

    wie sagte einmal ein lehrer von mir:

    „Schlaf ist was für Weicheier“

  30. 30

    Ich red mir immer ein, dass ich früh ins Bett muss, weil ich sonst (wie jeden Morgen) nicht aus dem Bett komme. Das bringt nur nie was, ich geh trotzdem zu spät ins Bett. Und übermorgen fängt das für mich schon wieder an: In BW hören die Sommerferien auf :-(