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Ein Sommer in Prenzlauer Berg (2. Teil)

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Und dann hat Lena Pierre rausgeschmissen. Das war abzusehen gewesen, denn Pierre war schwierig, ein melanchodramatischer Postrock-Bohemien mit Hang zur kryptischen Romantik. Und genau so sah er auch aus: Ausgewählt nachlässig gekleidet, mit dunklem, leicht ins ungesund-fahle spielendem Teint, langen, häufig zitternden Fingern und wuscheligen braunen Haaren, wozu Gottes Frau die passende Augenfarbe ausgesucht hatte.

Vielleicht wäre er gern Johnny Cash gewesen, stattdessen arbeitete er aushilfsweise in einer Werbeagentur in Mitte und schrieb seit drei Jahren am ersten Satz seines Romans. Lena hatte ihn schon häufiger rausgeschmissen, alle drei Monate im Schnitt, macht sieben Mal. Dann vollführten sie das, was Pierre ihr „Erneuerungsritual“ nannte: Er betrank sich, kletterte in den frühen Morgenstunden zwei Stockwerke die Regenrinne zum Balkon der gemeinsamen Wohnung hinauf und klopfte. Das fand Lena immer ausgesprochen romantisch, es folgte Versöhnungsgetöse. Später sagte Pierre, rauchend: „Und doch werden wir alle sterben“ und zog die Trauermine aus dem Repertoire. Lena schlief bereits und träumte von Erbsensuppe. Lena mochte Erbsensuppe, mit Würstchen drin. Und Karotten.

Dieses Mal aber war anders, denn Lena hatte Besuch gehabt. Pierre war nach einigen Gin Tonic wieder die Regenrinne hochgekraxelt, während er darüber nachdachte, weswegen sie nochmal gestritten hatten. Es konnte nichts wichtiges gewesen sein, vielleicht hatte es mit Geld zu tun. Pierre verachtete Geld, denn Lenas Vater war Arzt und schickte monatlich 700 Euro. Das machte es einfacher für Pierre, seine Verachtung auszuleben, schließlich war der Kühlschrank immer voll. Und war der Gin alle, konnte er vorübergehend sehr nett sein, aufmerksam und zärtlich. Am Balkon angelangt, mied er den Blick nach unten, denn Pierre litt unter anderem unter Höhenangst. Das würde er gleich noch mal betonen müssen, um die heroische Komponente seines schwachsinnigen Fassadenkletterns herauszuheben. Er hob die Hand, um zu klopfen, sah ins Zimmer und erstarrte.

„Sie hatte ‚Besuch'“, sagte Pierre, die Anführungszeichen konnte man hören. Wahrscheinlich hatte er lange darüber nachgedacht, wie er die Person mutmaßlich männlichen Geschlechts nennen würde, die da gerade mit Lena auf jenen Bettlaken rumturnte, denen er vor einer Woche im Waschsalon beim Schleudern zugesehen hatte. Und er hatte ja auch viel Zeit gehabt, sich das passende Wort herauszufriemeln, auf dem Balkon, von dem er sich nicht mehr heruntertraute. Er hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, vielleicht die Feuerwehr anzurufen, damit sie ihn aus seiner misslichen Lage befreie. Für Katzen machen die das auch, dachte er, aber Katzen habe ja auch weder Bankkonto noch Rechnungsanschrift und können somit nicht für die entstandenen Einsatzkosten aufkommen, im Gegensatz zu Pierre. Den hätten die Kosten glatt ruiniert, so viel war klar, und dann müsste er entweder arbeiten oder Kandidat beim Jauch werden. Keine guten Aussichten, alles in allem. Also: dageblieben, abgewartet. Es kam aber kein Hubschrauber, ihn abzuholen.

Jetzt hätte er gern geraucht, ging aber nicht, die Kippen waren alle. Also verbrachte er die nächsten vier Stunden damit, den Schnittlauch und die Pfefferminze aus den Blumentöpfen zu futtern und vor sich hinzustarren. Lena muss sehr überrascht gewesen sein, als sie, wie immer nach dem Aufstehen, die Balkontüre öffnete, um draußen zu rauchen. Pierre nickte kurz und ging. Noch nicht einmal die Türen knallte er, so müde war er.

Eben jene Geschichte erfuhr ich als erster, exklusiv, in großen Buchstaben, morgens, im Schlafanzug, an der Sprechanlage gelehnt. Ich öffnete, trotz des Bewusstseins, dass ich gerade im Begriff war, ein Glas Rotwein auf einen weißen Teppichboden zu kippen: Das kriegste so schnell auch nicht mehr raus. Und trotz des Schlafanzuges, den ich, sofern Freunde oder ähnliches im Haus sind, immer schnell verstecken muss. Es handelt sich um einen Ganzkörperschlafanzug mit hübschen bunten Knöpfen an der Brustseite, lustig blau und rot gestreift, kuschelig und anschmiegsam. Ein schöner, ein wichtiger Schlafanzug. Nur: Man sieht darinnen aus wie ein zu lange in der Sonne stehen gelassener Gummibärenclown. Das Ding hatte mir schon so einige Abenteuer verhagelt: man kennt das, wenn man, abends, angetrunken, lustig flunkernd in Erwägung zieht, den geschlechtlichen Gegenpart am anderen Ende der Bar noch auf einen Absacker ins eigene Kopfkissen einzuladen, und einen dann siedend heiß die Erkenntnis durchfährt: Verdammt, ich hab die Unterwäsche an, wo Snoopy drauf Blumen pflückt. Diese hochnotpeinliche, die zwar total toll ist, aber eben: das letzte Mal angesagt war sie kurz vor der großen Hormonschlacht am Anfang des Sexuallebens. Bei mir war das bloß nie die Unterwäsche, sondern immer die Wahl zwischen Schlafanzug und Schlafentzug durch Körperertüchtigung. Die Wahl ist einfach: Mein Schlafanzug schnarcht nicht, schweigt nicht beim Frühstück und ist treu, wie nur Schlafanzüge treu sein können. Also bin ich ihm loyal und verstecke ihn vor dem Spott der unsensiblen Welt da draußen.

Außer an diesem Morgen, da verriet ich ihn, als ich Pierre einließ. Aber Pierre hat mich wohl sowieso überhaupt nicht wahrgenommen, sondern stolperte tränenblind die Treppe herauf, in die Tür hinein, durch die Tür hindurch, auf das Sofa drauf und versuchte, auf dem Wohnzimmerboden kraft seiner Tränen die Mecklenburger Seenplatte in Miniatur nachzubilden. Das würde eine Weile dauern, so viel war klar, also legte ich mich wieder hin.

Danach hatte ich statt einer schönen Zwei-Zimmer-Wohnung ein einzelnes Zimmer in einer schönen Zwei-Zimmer-Wohnung. Inklusive einer windschiefen Katze. Inklusive eines melanchodramatischen Postrock-Bohemien mit Hang zur kryptischen Romantik plus Depressionen und der kleinsten Plattensammlung der Welt: da passte nur ein Lied rein. Das hieß Le vent nous portera und war von Noir Désir. Noir Désir ist toll, Le vent nous portera ist toll, aber ein Musikstück sollte genossen werden, wie sonst nur das Bier auf dem Oktoberfest: in Maßen. Das sah Pierre anders: „Ich bin“, sagte er, „ich bin gerade so sensibel, neue Töne machen mich wirr. Ich brauche Stabilität, Stabilität erreicht man durch Wiederholung, so ist das. Und jetzt geh bitte aus meinem Zimmer, ich will Musik hören.“

Sein Zimmer. Jetzt war es schon sein Zimmer. Vom Wohnzimmer zu „seinem“ Zimmer in nur zwei Tagen. Das gefiel mir nicht besonders. Wahrscheinlich würde es Bettina auch nicht so recht gefallen. Aber hey, die war ja weit weg, in Griechenland, für sechs Monate. Alles würde gut werden. Dachte ich. Bis ich, drei Tage darauf, vom Einkaufen aus dem Kaisers zurückkehrte.

Pierre war weg. Das war gut. Sehr gut sogar. Nicht so gut war, dass auch die Katze verschwunden war. Unwahrscheinlich, dass Pierre mit ihr zum Tierarzt gegangen war, denn er hasste Katzen, hasste Tiere überhaupt, und war gemeinhin unempfindlich gegenüber deren Leiden. Wahrscheinlicher war, dass er sie gerade im Weißensee versenkte. Das war ihm durchaus zuzutrauen, Pierre hatte schließlich ein Faible für dramatisch inszenierte Abschiede. Vielleicht hatte er die Katze in „Lena“ umbenannt, einige Kerzen mit zum Weißensee genommen, sie auf einen Baumstamm gesetzt und inmitten brennender Kerzen hinaustreiben lassen aufs Wasser. Danach war er bestimmt zum Brechthaus gegangen, beten. Ich griff zum Telefon.

Irgendwo in Berlin klingelte ein Handy, vermutlich in einer U-Bahn. „Hallo“, sagte Pierre, und dann: „Nein“. Und dann: „Keine Ahnung“. Und dann: „Was weiß ich, wo die verfickte Katze ist, ist doch scheißegal, vielleicht ist sie vom Balkon gefallen, ich hab die Tür aufgelassen“. Und dann: „Ja, ich komm heut Abend wieder. Bis dann. Entspann Dich.“

Entspann Dich. Der hatte gut reden. Ich hastete die Treppe hinunter und suchte die Straße unterhalb des Balkons ab und die umliegenden Büsche. Aber da war nichts. Vielleicht ist sie ja auf ihre Füße gefallen, Katzen fallen doch immer auf die Füße, dachte ich, konnte mir aber nicht vorstellen, dass der zweite Kopf am Hinterteil aerodynamisch stabilisierend gewirkt haben könnte. Nebenan stand einer und rauchte, während er mir interessiert bei meinen Bodeninspektionen zusah. „Fehlt was?“, fragte er, während er seine Schachtel zurück in seine Jeansjacke schob, und ich: „Ja. Ne Katze. Haben Sie hier vielleicht ne Katze runterfallen sehen?“ Er schien zu überlegen, und lange: „Nee. Glaub nicht.“ Das würde Bettina ganz und gar nicht gefallen. Ganz und gar nicht.

(Hier geht’s weiter zum dritten Teil)

16 Kommentare

  1. 01
  2. 02
  3. 03
    schläfer

    Man bist Du fies, die individuellen Fortsetzungserwartungen einzelner Leser einfach zu entäuschen! Jetzt muß ich auch noch den dritten Teil lesen, denn ich bin erst happy ended, wenn der A*** ab ist, bei der Katze.
    Und: Uäh!, ich kann Pierre förmlich riechen…

  4. 04

    Großartig, mehr fällt mir dazu nicht ein.

  5. 05
    Pony Hütchen

    Warum ist nicht Pierre verschwunden und die Katze weiß wo und warum. Ein Fall für den Prenzlauer Berger Katzenflüsterer!
    Was für für vergnügliche 5 Leseminuten!

  6. 06

    sehr schön zu lesen.

  7. 07
    maxe

    praechtig!

  8. 08
    Fafa

    sehr schön.
    bin schon sehr auf den dritten teil gespannt…

  9. 09
    Melinda

    Sehr feiner Text, weiter so!

  10. 10

    Den Schlafanzug-Teil fand ich sehr schön.
    Das kann nicht einfach nur redundant sein, da kommt noch was: Der Gummibärenclown rettet der Katze den A*, bestimmt ;-)

  11. 11
    Maltefan

    Ich öffnete, trotz des Bewusstseins, dass ich gerade im Begriff war, ein Glas Rotwein auf einen weißen Teppichboden zu kippen: Das kriegste so schnell auch nicht mehr raus.

    Das war ihm durchaus zuzutrauen, Pierre hatte schließlich ein Faible für dramatisch inszenierte Abschiede. Vielleicht hatte er die Katze in „žLena“ umbenannt, einige Kerzen mit zum Weißensee genommen, sie auf einen Baumstamm gesetzt und inmitten brennender Kerzen hinaustreiben lassen aufs Wasser.

    Ganz großartig! Glückwunsch, Frédéric!

  12. 12
    Mia

    …genial :)
    Freue mich schon auf Teil 3

  13. 13
    Ilonka

    Also eigentlich wollte ich die geschichte zum einschlafen anhören… aber ich war echt gefesselt, dass ich bis zum Ende zugehört habe. Gefällt mir richtig gut. Und vor allem hat Frederic eine super schöne Stimme.
    Danke!