18

And I’m not afraid to die

Nick Cave & The Bad Seeds im Berliner Tempodrom am 22.5.2008.

Meine Ohren klingeln wie seit Jahren nicht nach einem Konzert, und so dürfte es einigen Berlinerinnen nach den zwei Konzerten gehen, die Nick Cave und die Bad Seeds vorgestern und gestern in Berlin gespielt haben. Es war so ohrenbetäubend und dicht an der Schmerzgrenze laut — fantastisch!

1982 hatte es mich mit einigen Freunden in das damalige Ballhaus Tiergarten verschlagen, einen unüblichen Ort für „Punk“- oder „New Wave“-Konzerte, doch Birthday Party waren angekündigt, und Birthday Party, so hatten wir vernommen, waren wohl irgendwie der neue heiße Scheiß aus Australien. Ich hatte noch keinen Ton oder Song der Band gehört. Und als die frühere Kapelle um Nick Cave irgendwann spät nachts die Bühne erklomm, konnte man zwar sehr, sehr laut Töne vernehmen, aber Songs waren eher schwer auszumachen. Birthday Party machten Krach, bedrohlichen, lauten, wilden Krach. Ich kann nicht behaupten, dass mir das musikalisch besonders zusagte, ich war eher der poppigen Variante der Rockmusik angetan, aber trotzdem ließ mich die Band nicht gehen, die Atmosphäre hielt mich gefangen, meine Augen rasten vom Bassisten, der das Instrument mit einer goldenen American-Express-Karte statt mit einem Plektron oder gar den Fingern bearbeitete, zu Nick Cave, diesem in meinen noch fast kindlichen Augen völlig kaputten Junkie-Typ, der irgendwas von Mord und Totschlag ins Mikro brüllte. Birthday Party waren gefährlich, die Stimmung im Publikum entsprechend aggressiv.

Später wurde Cave mit den Bad Seeds und anderen Formationen zwar leichter konsumierbar und mit „Wild Roses“ gar Hitparaden-tauglich, doch harmlos wurde das Werk des Australiers zum Glück nie. Und so schön es gestern, 26 Jahre nach der Geburtstagsparty im Ballhaus, im Berliner Tempodrom zu beobachten war, wie das Alter der Band und ihres gerade 50 gewordenen Meisters für eine neue Leichtigkeit in der Performance und der Selbstwahrnehmung sorgte (fast schien es, als wären die Bad Seeds nach dem Weggang von Blixa Bargeld erleichtert, endlich zugeben zu dürfen, dass sie eine Rockband sind), so wichtig war es auch, dass sich ein Auftritt von Nick Cave noch immer nach Schweiß und Lärm, nach Fleisch und Blut, nach Sex und anderen Ausnahmezuständen anfühlt. Musik — echte Musik von Menschen, die weder anders können noch wollen — bleibt die größte Emotion, die perfekteste Zeitmaschine, das höchste kulturelle Gut, die stärkste Kraft.

Und wenn dann mitten in diesem wunderbaren, leidenschaftlichen Lärm eine „Sicherheitskraft“ den Anwesenden, der sich eine Zigarette angezündet hat, zur Ordnung mahnt, dann fragt man sich, wie es zu diesem verfickten Nanny-State kommen konnte. Und geht mit seinem Bier im Plastikbecher mit Pfand-Chip zuerst zum Automaten im Foyer, um nach Altersnachweis per EC-Karte Kippen zu ziehen, die man dann vor der Tür der Halle rauchen darf. Noch.

Verdammt, ich will diese Stimmung des gestrigen Abends in mir behalten, ich will mehr Klarheit, mehr Gefühl, mehr Gerechtigkeit, mehr Wildheit, mehr Übertreibung, mehr Drama, mehr Glamour, mehr Klasse, mehr Qualität, mehr alles, hier und anderswo.

Und noch eines schwirrt mir immer wieder durch den Schädel, wenn ich eine so grandiose Performance wie die von Nick Cave gestern genossen habe: Künstler seines Kalibers, von denen es glücklicherweise einige, junge und alte, gibt, sind unsere letzten Helden. Wir brauchen sie. Bei den Diskussionen um Urheberrechte oder die Vermarktung von Musik in digitalen Zeiten, in denen immer häufiger die Frage nach dem tatsächlichen Wert der künstlerischen Werke gestellt wird und in denen von Hardlinern auch gerne mal der Vergleich zur Software angeführt wird, missfallen mir die Untertöne, die eine Austauschbarkeit oder Reproduzierbarkeit von künstlerischem Talent suggerieren, immer mehr. Es kann durchaus sein, dass ein jeder ein Lied komponieren kann und einen Text dazu verfassen kann. Doch es gibt nur wenige Charaktere, die dafür geboren wurden, mit ihren Songs und Worten genau in unsere Herzen, unsere Köpfe, unsere Bäuche oder unsere Eier zu treffen, uns dort zu packen und uns nie wieder loszulassen. Programmierer können Künstler sein, aber Künstler sind keine Programmierer. Programmieren kann man lernen, Künstler kann man nur sein. Ein Song — der Song, dein Song — ist keine 99 Cent wert, sondern er ist unbezahlbar.

Mann, war das laut.

18 Kommentare

  1. 01

    Schöner Konzertbericht. Bin ein wenig neidisch und denke voller Wehmut an das 2003er-Konzert in der Arena, damals glaube ich die erste Tour ohne Blixa Bargeld.

    Und dein letzter Absatz ist wirklich großartig. Unterschreibe ich sofort.

  2. 02
    Dirk

    Ich weiß genau was du meinst.

  3. 03
    Sebastian

    „Künstler seines Kalibers, von denen es glücklicherweise einige, junge und alte, gibt, sind unsere letzten Helden. Wir brauchen sie. Doch es gibt nur wenige Charaktere, die dafür geboren wurden, mit ihren Songs und Worten genau in unsere Herzen, unsere Köpfe, unsere Bäuche oder unsere Eier zu treffen, uns dort zu packen und uns nie wieder loszulassen.“

    Das kommt mir bekannt vor.

    Auch wir hatten damals unsere Helden. Auch wir brauchten sie damals. Und auch ihre Songs haben uns nie wieder losgelassen.

    Sie hiessen Plan B !!! (-;
    ( musste wieder mal sein )

  4. 04
    Peter H aus B

    Genauso laut wie mit Blixa? Hab die damals im Tempodrom gesehen und es war das einzige Konzert, das ich wegen unzumutbarer Lautstärke verlassen musste.
    Hab dann von draussen zugehört..

    EDIT: Bin mir aber nicht mehr sicher ob das die Einstürzenden Neubauten mit Nick Cave waren oder Nick Cave the Bad Seeds. Auf jeden Fall war Blixa dabei und der Typ, der immer zwei Stahl T-Träger aufeinander detonieren liess…

  5. 05
    jochen

    beim smashing pumpkins konzert hatte ein besorgter vater eine sportzigaretteraucherin (eindringlich) gebeten die tuete auszumachen.

    und

    hat sie dann auch befolgt.

    !sic!

  6. 06

    Das war Musik, wie sie sein soll.

    Irritiert war ich, denn ich habe Nick Cave zum ersten Mal Lachen sehen.

  7. 07
    Polly Sherman

    Toller Bericht — danke! Kann das alles unterschreiben und nachfühlen.

    Wir waren in Paris beim Konzert (weil auch gerade da) und genauso so von den Socken. Wie dieser Mann es nach 20 Jahren schafft, selbst mir als über 40-Jähriger Tränen in die Augen zu treiben – was Geringeres als „žgroßartig“ fällt mir da nicht ein. Obwohl (oder weil) es gerockt hat.

  8. 08
    Dreadnought

    Full signed. Bin selbst in den Genuß gekommen und war begeistert. Was der Gute mit 50 noch an Energie und Charisma besitzt, bringt manch ein 20-jähriges Casting-Sternchen auch in 30 Jahren garantiert nicht auf die Bühne. Da darf/muss es dann auch schon mal ein wenig lauter sein.

    Kurz: Wahnsinn!

  9. 09

    Das war so unglaublich groß!!!

    (Als ich den drei Jungs neben mir freundlich bedeutet habe, dass es cool wäre, wenn sie nicht direkt neben der schwangeren Freundin rauchen würden, sind sie brav ein paar Schritte weggegangen.)
    (Da müssen meinetwegen nicht gleich Ordnungskräfte rumnerven, aber ich als Gelegenheitsraucher bin auch ohne Schwangere um mich herum froh, dass auf solchen Veranstaltungen weniger geraucht wird.)

  10. 10

    Danke für diesen genialen Konzertbericht. Ich hätt ihn nichtmal so verfassen können, weil nichtmal so alt, allerdings erschauderte ich mehr als einmal als ich einen Tag zuvor an ähnlicher Stelle Stand. Das Publikum sehr angenhem gemischt, keine drängelei, und wie immer das beste Publikum was man finden kann in deutschland ist in Berlin.
    Ein Zauber ist das alle mal. DAnkbar war sicher auch der junge Mann welcher eine Karte geschenkt bekam, er hielt ein schild hoch mit der Aufschrift, „wer hat eine karte übrig?“ und die frau welche aus der Reihe trat und ging, es tat mir leid für sie, allerdings eine bereicherung für ihn. Die geste fand ich sehr nett. Ob ich das getan hätte? Tut mir leid, aber dafür war das was ich erleben durfte wie die andern einfach zu schön. Wundervoll…

  11. 11

    .. ich will bei Konzerten nicht mit verqualmter Luft belästigt werden.

    Die Neubauten auf der letzten Tour waren schon Hammer, von Lautstärke und der Intensität her – aber das geilste waren die Fehlfarben(letztes Jahr) live auf einer kleinen Bühne in Dresden. Hät ja nicht gedacht das die alten Männer noch soviel Power haben und auch nicht das ich die mal live sehen darf. Besonders „Paul ist Tot“, das Uhrticken brutal mit der Gittare gespielt und genau auf der Schmerzgrenze – Wahnsinn. „Monarchie und Alltag“ begleitet mich seit Jahrzehnten – die Platte könnt ich mit Gold nicht aufwiegen.

  12. 12
    DonJay

    Im Ballhaus war ich damals auch.

    Mann, der war RICHTIG BÖSE damals, der Nick. Hat seinen Mikroständer rumgewirbelt, die ersten Reihen mussten ihre Köpfe mehrmals einziehen.

    Eindrucksvoller Auftritt damals; seitdem ( hab Nick glaub ich noch ma im Loft gesehen ) lockt mich der Mr. Cave eher nicht mehr so.

    Aber nach wie vor ganz sympathisch, der Ex- Berliner!

  13. 13
    gpkvt

    Ohja, das war wirklich schön. Ich hatte eigentlich gar nicht vor hinzugehen, geschweige denn wusste ich vor meinem Berlinaufenthalt von dem Konzert. Aber der Einladung musste ich dann doch folgen. Ich wäre auch fast am Donnerstag einfach nochmal hingegangen, hatte dann aber leider doch keine Zeit.

  14. 14
    Sabine

    „Verdammt, ich will diese Stimmung des gestrigen Abends in mir behalten, ich will mehr Klarheit, mehr Gefühl, mehr Gerechtigkeit, mehr Wildheit, mehr Übertreibung, mehr Drama, mehr Glamour, mehr Klasse, mehr Qualität, mehr alles, hier und anderswo“.

    Danke Johnny, Du sprichst mir aus dem Herzen…

  15. 15
    Carsten

    Dein Bericht ist schon etwas älter… er spricht mir dennoch sehr aus dem Herzen, trifft den Kern dessen, was derlei Konzerte zu so unbezahlbaren wie unvergesslichen Erlebnissen werden lässt. Ich fühle mich wohltuend verstanden. Danke dafür.