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Wo war das Leben?

Drinnen. Draußen. Als ich Maltes Beitrag „Wo ist das Leben?“ las, musste ich an Kracauer denken und sein hervorragendes Buch Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit. Darin hat er einige sehr schöne Geschichten überliefert, zum Beispiel solche:

Es war die Zeit, als der Boulevard entstand und Journalismus neu erfunden wurde: in Paris wimmelte es von randständigen Figuren, von reichen Fürsten, Industriemagnaten und Kurtisanen, russischen Exilanten, verschlossen Orientalen und jungen Künstlern. Auf dem Boulevard des Italiens trafen sich die Dandys, und die jeunesse dorée saß auf der Terrasse des Café Tortoni: dort erzählte man sich die wunderlichen Narreteien eines Marquis de Saint-Criq, der einmal in Holzpantoffeln, an der Spitze eines leeren Mietwagenzuges sich drei Portionen Speiseeis aus dem Tortoni kommen ließ, eine aß, und die beiden anderen in seine Schuhe füllte. Es war die Zeit zwischen den Revolutionen, die Zeit des Bürgerkönigs Louis-Philippe, die Zeit nach 1830. Der Jockey Club erlebte seine Blüte, Maskenbälle fanden statt an allen Ecken der Stadt: c’était la décadence.

Die Salons des Adels verloren ihren Einfluss, das kulturelle Leben Frankreichs spielte sich in den Klubs ab: dorthin suchten die Schriftsteller ihrer Zeit zu gelangen, die ganzen Téophile Gautiers, Gérard de Nervals und Barbey d’Aurevillys, und wurden Journalisten, genauer: Boulevard-Journalisten. Sie erfanden diesen Beruf, den sehr viel später Aurelien Scholl zur Blüte bringen sollte.

Der Boulevard. Alfred de Musset schrieb damals, man habe ihn in wenigen Schritten durchmessen, „und doch enthält er die ganze Welt“, jenseits seiner Grenzen beginne Groß-Indien. Während sich in den Faubourgs die Revolution von 1848 ankündigte, während die Arbeiter sich zu organisieren begannen und die ersten sozialistischen Theorien, bildete der Boulevard eine abgeschlossene Welt. Der Komponist Daniel-François-Esprit Auber zeigte in diesen Tagen einem seiner Besucher einige Landschaftsstiche und sagte, das sei in ungefähr das einzige, was er an Natur je gesehen habe.

War das draußen? Wenn ich diese Geschichten meinem Hausmeister erzähle, grummelt der meistens vernehmlich und sagt, die Leute hätten mal rausfahren sollen in die Berge, am besten mit dem Fahrrad. Das haben die Leute jenseits des Boulevards schon damals gesagt. Dass solche Leute ihr Leben verschwenden. Dass es sinnlos ist und nicht zielführend. Blöd, kurzerhand. Ob in der Sache überhaupt jemand recht hat, keine Ahnung. Ist im Endeffekt auch gar nicht wichtig. Amüsant aber ist es doch, wie alt diese Diskussionen immer schon sind.

5 Kommentare

  1. 01

    ich frage mich, ob ich jemals so sehr deutscher sein kann wie du franzose bist.
    aber, ach! das ist es ja nicht einmal. wahrscheinlich bist du auch noch deutscher.

  2. 02
    Frédéric Valin

    @#680407: Das geht immer bloß anderswo. In Frankreich bin ich der deutscheste Deutsche und erzähle immer bloß von Goethe, Schweinebraten und der Waffen-SS.

  3. 03

    @frédéric den verdacht hatte ich schon länger :)

  4. 04
    heidrun

    ich frage mich eher, ob ich jemals so gebildet sein kann… wieder mal sehr interessant, danke.

  5. 05

    @#680407:

    @#680408:

    Lieber Malte, lieber Fred,

    schätze euch beide als Autoren hoch ein.
    Öffentlich ausgetragene Dispute erwecken
    bei mir einen zwiespältigen Eindruck. :/

    {Macht das mal besser unter ‚intern‘ aus}

    Alles Gute
    PiPi