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Kind dieser Stadt

„Weckt mich, wenn die Erde wieder rund ist, ihr Affenpenisse“, rief der Mann und dann rief er es gleich nochmal, beim zweiten Mal ließ er allerdings das „ihr Affenpenisse“ weg und lachte laut und etwas wahnsinnig. Ich verkrampfte mich. Wahnsinn machte mir Angst. Am Tag davor hatte ich im Internet auf einem Board für absurde Sexualstunts einem Amerikaner beim Geschlechtsverkehr mit einem Krokodil zugesehen und für einen Moment überlegt, ob das nicht irgendwo in der Johannesapokalypse vorkommt. Das Lamm wird kommen, wenn die Römer die Drachen erkennen. Oder so. Jedenfalls hatte ich einen ganz schönen Schreck bekommen.

Eigentlich hatte ich gar nicht vor so vielen Dingen Angst, ich war weniger ängstlich, als die meisten Leute es von mir gedacht hätten und möglicherweise sogar weniger ängstlich als die meisten Leute waren: Krankheiten machten mir keine Angst, Gespenster, Höhen, Fahrstühle und Wespen nicht und wenn jemand aus der WG eine große Spinne bei sich im Zimmer hatte, wurde ich gerufen. Aber jetzt, als der Mann mit der Brot für die Welt-Kappe diesen seltsamen Satz rief, schaltete mein Körper in den Alarmmodus. Ich hatte wieder einen dieser Zustände.

„Ich habe diesen Zustand“, hatte ich meinem Therapeuten gesagt und ihm dann erklärt, was mir manchmal passierte seit einigen Wochen. Dass ich mich dann minutenlang so fühlte, als habe mich jemand erschreckt, dass es mir vorkam, als wäre die Umgebung seltsam. Nicht so Lisa-Simpson-nimmt-versehentlich-LSD-seltsam, eher The-Others-seltsam. Nein, das klingt jetzt zu spukhaft. Ihr merkt schon: ich tue mich da schwer. Ich hatte auch Schwierigkeiten, das meinem Therapeuten zu erklären. Stellt euch vor, ihr wärt eine dieser antiken Berühmtheiten aus Futurama, ihr würdet also nur noch aus einem Kopf bestehen, aus einem Kopf in einer Nährlösung. Man könnte also davon ausgehen, dass eure Körperrepräsentation unter zumindest erschwerten Bedingungen funktioniert und euer Nucleus ventralis posterior thalami schuftet wie ein Bergmann im 19. Jahrhundert. Langsam beschleicht euch das Gefühl, dass ihr die Welt zu unmittelbar erlebt. Und das trotz des Glases, in dem euer Kopf schwimmt.

Lala sagte zum Kellner: „Zwei Personen“ und ich fragte mich zum zehntausendsten Mal, wer angefangen haben mochte, sie Lala zu nennen. Am Anfang, als ich noch nicht total verknallt in sie war (wenn ich über Lala nachdachte, war mein Vokabular immer das eines Teenagers in den 80er Jahren), hatte ich noch gesagt, dass das der beknackteste Name sei, den ich je gehört hatte, aber sie hatte darauf bestanden, so genannt zu werden, weil ihr ihr richtiger Name nicht gefiel.

Fuckeldieku, mir fiel jetzt tatsächlich ihr richtiger Name nicht ein. Und die Musik war viel zu laut und viel zu sehr italienische Volksmusik und die Hand des Kellners war völlig übertrieben pelzig. Die Wahrscheinlichkeit, dass NICHT eines der Zillionen Fellhaare den Weg in meine Pasta finden würde war Null. Meine Hirnhaut fror.

„Ich würde gern den Auslösern auf die Spur kommen“, sagte ich meinem Therapeuten. „Es passiert häufig, wenn irgendwo laute Musik gespielt wird. Ich höre dann die Gespräche an den Tischen und die Musik, ich höre alles und nichts, die Frau in der entferntesten Ecke des Cafés sitzt auf meiner Schulter und schreit mir ins Ohr, aber meine eigenen Gedanken, die laufen nicht mehr in Kreisen, die schießen nur noch nach vorn. Die höre ich nicht mehr.“
„In Kreisen?“, fragte mein Therapeut.
„Na, normalerweise denkt man doch etwas und kommt wieder zum Ausgangspunkt zurück“, antwortete ich. „Ich verliere dann den Ausgangspunkt. Ich versuche nur noch, die Musik auszublenden und mir nichts anmerken zu lassen.“
„Ist ihnen das, was sie Zustand nennen, peinlich?“, fragte mein Therapeut.

Lala sagte, ich sähe blass aus. Ich rieb meine Hände, die sich anfühlten wie Polarbärenschnauzen, nur nicht so feucht und weich. Eigentlich also gar nicht wie Polarbärenschnauzen. Auf einmal bekam ich das Wort Spinnenleder nicht mehr aus dem Kopf. Lala durfte nichts merken und ich versuchte zu lächeln.
So total geil Lala auch war, von einem Samariter hatte sie nichts an sich. Hätte ich ihr am Anfang gesagt: „Na du, ich bin übrigens nervenkrank“, dann hätte sie ihre unglaublich genau richtig runtergerockte Prada-Handtasche genommen, ihre sodomitischen Wimpern zu einem blutrünstigen Blick geformt und sich verabschiedet.
Lala hatte schon einen ziemlich beschissenen Charakter, nach klassischen Maßstäben.
Nach den Maßstäben eines jeden Menschen, der noch nicht Lalas Arsch in der Reverse-Cowgirl-Angelegenheit begutachtet hatte. Wäre mein Schwanz zu dem Zeitpunkt, als ich das dachte, nicht ungefähr so funktionstüchtig wie ein querschnittsgelähmtes Glühwürmchen (mit Betonung auf dem -chen) gewesen, er hätte vermutlich gezuckt bei der Erinnerung an Lalas Arsch. Groovy, der Arsch.

Mein Therapeut, der sehr mütterlich aussieht, hatte mich gefragt, ob mich etwas bedrückt und ich hatte geantwortet: „Der Tod meines Großvaters.“ Dann hatte mein Therapeut gefragt: „Warum?“ und ich hatte gesagt, dass es dafür keinen Grund gebe außer dem offensichtlichen. „Jüngere Elefanten trauern um die alten Kühe, weil die wissen, wo die Wasserlöcher sind und es für die jüngeren Elefanten also eine Gefahr darstellt, wenn die alte Kuh stirbt.“ Um dem nächsten Satz mehr Gewicht zu verleihen setzte ich mich gerade hin, bis dahin hatte ich meine Hände knetend mehr auf dem Tischchen vor mir gelegen als an ihm gesessen. „Ich weiß, wo meine Wasserlöcher sind. Ich bin traurig, weil er tot ist, das ist für mich Grund genug.“

Der Kellner brachte die Suppe und ich scannte die Suppenoberfläche nach Kellnerkörperhaaren. Mit meinem Nacken stimmte etwas nicht und mein gesamter Magen plante die Flucht. Durch meinen Hals heraus in die Freiheit.
Lala sagte gerade irgendetwas Einstimmendes, sie sprach in einer Tonlage, mit der Menschen, die nicht gerade versuchen, Körperhaare, Brot für die Welt-Typen, Handybrüllen, Krokodilficker, diese gottlose Volksmusik, das gesamte Grundrauschen dieser verranzten Kaschemme, die von den Verbrechern der Berliner Szene-Magazine gehypet wurde wie flüssiges Koks, IRGENDWIE so auseinanderzuhalten, dass ihr Hirn nicht zu Mus wird… Sie sprach also in einer Tonlage, mit der normale, gesunde Menschen ausdrücken, dass das, was jetzt kommt, wichtig ist, enorm wichtig.
Diese Tonlage erkannte ich. Frauen sprachen in ihr, wenn sie einen darauf vorbereiten wollten, dass sie einen Knoten in der Brust haben oder schwanger sind. Diese Liga von Tonlage war es.
Ich musste mich zusammenreißen.

„Schwitzt du, wenn du diesen Zustand hast?“, hatte mein Bruder gefragt.
„Nein.“
„Na, dann.“
„Andere merken da gar nichts von.“
„Wenn du nicht schwitzt, dann ist es doch auch nicht so schlimm.“
„Was hast du denn bloß mit dem Schwitzen?“
„Na stell dir vor, du hättest das und dann würdest du auch noch schwitzen. Das wäre doch schlimmer.“

Ich legte meine rechte Hand fest auf den Tisch. Das war eine Art Trick, die mein Therapeut mir empfohlen hatte. Ich sollte mich nur auf die Hand auf dem Tisch konzentrieren und alles andere ausblenden. Ich fühlte meine Hand, den Tisch, mein Herzschlag pendelte sich ein. Lala legte ihre Hand auf meine.
Ich zuckte panisch zurück. Die Berührung hatte einige Sprengsätze in meinem Kopf gezündet. Ich entschuldigte mich und ging auf die Toilette. Wenn man mit Spikes an den Stiefeln über mit Nitroglyzerin gefüllte Lufballons gehen muss, könnte man sich nicht vorsichtiger bewegen. Ich hatte das Gefühl, gegen jeden Tisch zu stoßen. Ich würde für einen Skandal sorgen, wenn ich jetzt die Tischdecke von Iris Berben herunterreißen würde. Iris Berben schaute durch mich durch und ich fand, dass sie Recht hatte. Dann war ich endlich auf dem Klo und starrte in die skurril verdreckte Kloschüssel. Der Kellner musste vor mir hier gewesen sein. Ich lehnte mich an die Toilettentür und versuchte zu furzen. Es ging wirklich gar nicht mehr. Ich wartete.

Als ich zurück kam, war Lala nicht mehr da. Ich griff zu meinem Handy, aber dann überlegte ich es mir anders. Ich zahlte mechanisch die Rechnung und gab dem Kellner viel zu viel Trinkgeld.
Ich ging raus. Der Mann mit der Brot für die Welt-Kappe hing wie eine Tatort-Leiche auf einer Bank und schlief. Ich setzte mich zu ihm und achtete darauf, ihn nicht zu wecken.
Es ging mir wieder besser.

32 Kommentare

  1. 01
  2. 02
    fc

    Wunderschön ehrlich, offen, nachvollziehbar. Zum Versinken in den Worten…

  3. 03

    Okay, viele kluge Worte, die meine Begeisterung zum Ausdruck bringen, wären jetzt wohl irgendwie cooler, aber im Moment kommt noch nicht wirklich mehr als: Wow… sehr schön.

  4. 04
    bunki

    Und wie geht es dem Krokodil?

  5. 05

    @#688708:

    es wurde schwarz gefärbt und zumindest sein bauch wurde zuletzt hier gesehen:
    nsfw

  6. 06
    heike

    erinnert mich an irgendetwas, bloß was? verdammt noch mal, ich komm gleich drauf… ah!!! jetzt hab ichs. an bettina zimmermann… :-)

  7. 07

    @#688710:

    die schauspielerin? verstehe ich nicht.

  8. 08
    heike

    macht nix! :-) aber schöner text. gefällt mir.

  9. 09

    Mir wurde als Kind Hyperaktivität diagnostiziert (heute heißt das ADHS). In Umgebungen, in denen viel, gleichzeitig und mit hoher Intensität passiert (Diskos, vollbesetzte Busse, Menschenmengen), verliere ich häufig den Überblick, allerdings nicht ganz so krass wie deine Figur. Ich meide deshalb solche Umgebungen; hilfreich ist außerdem regelmäßiger Schlaf, Sport (unter freiem Himmel) und gesunde Ernährung. Ich empfinde diese Einschränkung als nicht besonders störend. Im Gegenteil.

  10. 10
    chefkoch

    hast du unlängst noch mal memento geguckt?

  11. 11

    Malte, arbeitest du eigentlich an einem Bukowski-Heralind-Crossover-Lesebuch gefüllt mit derartigen Anekdoten ?

  12. 12

    @#688718:

    den muss ich nicht mehr gucken, der ist immer in meinem herzen:)

    @#688717:

    ich will dir jetzt nicht auf die pelle rücken, aber: wie meidet man denn vollbesetzte busse?

  13. 13

    @#688722:

    da hätte ich beide anteile gern mal erklärt. was ist lind? und was bukowski?

  14. 14
  15. 15

    @#688725: Iris Berben sehen und nicht furzen können. Das hat für mich was von beidem.

  16. 16
    nicnac

    @erlehman: Charles Bukowski mit Hera Lind in eine Gummizelle zu sperren, das ist extrem gewalttätig! *gruselgraus*
    So muss die Hölle aussehen, die von Sartre in „Geschlossene Gesellschaft“ beängstigend beschrieben wurde.
    Das hat nicht mal nicht mal Hera Lind verdient.

  17. 17
    heike

    achtung: schmerzbefreite schamlose werbung!!! ;)

    dieser text hier – der erinnert mich an den da oben

    ein wenig.

  18. 18

    @#688732: Wegen Iris Berben, stimmts ? ;)

  19. 19
    heike

    genau!!!!

  20. 20
    Pipi

    Naja

    Vielleicht sollte man mal einen Scan bzgl, ‚Fremdwörter‘ durchführen.
    Malte ist auch ein Querdenker. Die Erkenntnis macht es den Lesern
    nicht wirklich einfacher die eigentliche Aussage zu verstehen\deuten.

    Alles Gute

  21. 21
    Maltefan

    Großartiger Stoff! Will ich ab jetzt täglich!

    Erinnert mich übrigens mehr an Genazino (den ich für Abschaffel schon vor langer Zeit heiliggesprochen habe) als an Bukowski oder *würg* Hera.

  22. 22

    @#688723:

    wie meidet man denn vollbesetzte busse?

    Als Münsteraner: Fahrrad fahren. (Wobei das in Münster etwas witzlos ist, weil hier alle Fahrrad fahren und deswegen die Fahrradwege sehr voll sind, die Busse aber eher selten.)

    In anderen Fällen muss ich halt damit klar kommen. Ich verliere ja auch nicht so komplett die Fassung wie deine Figur oben, sondern fühle mich einfach nur unwohl und unkonzentriert.

  23. 23

    Mann da kommen Erinnerungen an die re:publica08 hoch.

  24. 24
    bongokarl

    Tolle Geschichte. Aber wo war sie denn?

  25. 25
    Martin2

    Klingt nach einer souveränen Panikattacke. Es gibt Menschen, die in ähnlichen Situationen Todesängste ausstehen.

  26. 26
    melmoth

    Bloggen liegt dir, also den Colt schnell ziehen und auch sofort treffen!
    Aber deine Geschichte hier oben, die schreit nach Papier und Druckerschwärze und nicht nach einer Digitaltapete wie Spreeblick. Und dafür brauchst du wohl mehr nachträgliches Phosphor, für dein ADHS…sprich Ruhe, weniger Puls, weniger Iris Berben, damit auch weniger Hera Lind, weniger nur hier und jetzt und Berlinomat, mehr von dieser Substanz die da heißen könnte: Immer! Dann könnte die Buchstaben und Zeilen tatsächlich schmackhafter werden…

  27. 27
    Marlene

    @#688732: mich nicht.

  28. 28
    heike

    @#688779: die Großstadtzustände sind nicht konkret auf Panik ausgelegt. eher flächendeckendes wirrwarr. ich hab das auch noch mal überdacht. es sind nur zwischenzustände, die immer nahe an panikattaken vorbeirutschen.

  29. 29
    srm

    schreib ein buch(!)

  30. 30

    Malte, das liest sich für mich, dass das sensible Kind dieser Stadt so was ähnliches wie Panikattacken hat, in denen es übersensibel wird. Oder Sensibilitätsattacken, von denen es panisch wird. Vielleicht aber hätte es der Hintern von Lala gut gefunden, wenn du ihr in diesem Moment eine einigermaßen überzeugende Erklärung oder Ausflucht serviert hättest.

  31. 31
  32. 32

    ADS ? eher nicht. Der Text ist zu lang. 8-)

    Eher zu viel Kaffee, zu wenig schlaf, oder beides oder zu viel Zeit online verbracht.
    Vielleicht auch einfach verliebt in die falsche Frau, wovor dein Inneres dich warnt.
    Das „little brain of the gut“. physiologisch. Oder das „Unterbewußtsein“ psychologisch. Was wollte ich eigentlich sagen?—ah ja —

    Die Vorvorovor-rednerin hat recht. Geh mal ein paar Monate offline. Usedom oder so. nur mit einer analogen Schreibmaschine. Und du wirst millionär.