Ein schlecht gelaunter Besuch auf dem Myfest. Stundenprotokoll nach dem Klick.
18:03, Kottbusser Tor
Vor mir quengelt ein kleiner Junge, der Farbe im Gesicht hat. Ursprünglich hat das vermutlich nach Tiger aussehen sollen, aber entweder, die Mutter hat versucht, den kleinen mit dem Besen anzumalen, oder er ist zwischenzeitlich Nase voraus in eine Lehmpfütze gefallen; jetzt jedenfalls macht er den Anschein, als stürbe er demnächst an Nierenversagen. Der Arme. Direkt daneben dreht sich ein kleine Prinzessin ganz in Weiß mit Rüschen an den Ärmelchen sieben- oder achtmal im Kreis , stoppt, schwankt ein bisschen und schreit: „Ich bin eine große Schneeflocke!“ Die Haferflocken Swingers haben sich bunte Rüschen in die Haare gesteckt und ziehen mit Trompete, Klarinette, Posaune und Saxophone vorbei, sie spielen irgendwas beswingtes. Ein Mann mit langen, weißgelben Haaren hat einen Haufen selbstgebundener Bücher in der Hand und erzählt jedem, der es hören will, dass er da viele schöne und interessante Gedanken über Philosophie und Geschichte reingeschrieben hat, aber der kleine Junge winkt ab.
An manchen Ecken fühlt sich das Myfest an wie ein dilettantisch gemachter Karneval der Kulturen. Es ist ja erklärtes Ziel der Veranstalter, ein Fest gegen den Krawall zu machen. Ein paar Bühnen mit Radau drauf gegen den Radau. Das ganze wird mit viel Bier verrührt, ein wenig Tabak drübergestreusselt, und fertig ist das Oktoberfest für Unkonventionelle.
19:00, Oranienstraße
Bisher weder Polizisten noch Hunde gesehen, ich bin enttäuscht. Im Fernsehen sieht Kreuzberg immer ganz anders aus. An den Straßenrändern stehen Leute und bieten Würste, Getränke, Salat und Kram feil, alle Dienstleister sind Migranten. Vorhin hat mich versehentlich ein junger Punk mit beeindruckend gelber Frisur angerempelt und ein bisschen von seinem Sternburg mit meiner Jacke geteilt, woraufhin er sich wortreich entschuldigt hat. Höfliche Unkonventionalität, eigentlich mag ich solche kleinen Überraschungen.
Aber das sieht mir hier alles ein bisschen eitel aus. Ein fröhliches, geselliges Beisammensein aller Linken und Pseudolinken, plus ein paar Migranten, Sonne, Bierbänke. Es ist völlig in Ordnung, sich auf der Straße bei Musik unter Tags zu betrinken, es gibt ja sonst nicht viel, was Bayern und Preussen verbindet, das aber finde ich ein schönes deutsches Ritual. Mit dem revolutionären ersten Mai hat das allerdings überhaupt nichts mehr zu tun.
19:35, Heinrichplatz
Die Demo ist ganz schön lang gewesen, viele bunte Fähnchen wurden gen Himmel geschwenkt. Am Anfang solls ein paar Übergriffe gegeben haben, als sie am Kottbusser los sind. Und auf der Wiener Straße solls gegen drei Uhr nachmittags auch Ärger gegeben haben. Ein Barfußgänger ist in Hundescheiße getreten, der Arme. Man hört, die Blockade in Köpenick gegen die Nazis sei erfolgreich. Irgendein digitaler Bohemien zeigt auf sein iPhone und meint, Beck fordere schon wieder ein NPD-Verbot, damit, er zitiere, der Nazi-Spuk endlich aufhört. Beck hat keine Ahnung, wovon er spricht, aber das ist ja nun nichts Neues. Der digitale Bohemien meint, dieses Mal müsse er Beck schon zustimmen, er sei ja sonst eher kritisch der SPD gegenüber, aber was das NPD-Verbot angehe, das wäre doch mal ein erster Schritt. Ich mache einen auf Kerner und nicke verständnisvoll, aber er hat den ganzen Käse ja auch nicht zu mir gesagt, also was solls.
19:57, Manteuffelstraße
Ich kaufe mir eine Hose und gehe essen. Quatsch, stimmt gar nicht. Die Manteuffel Richtung Kanal ist angenehm ruhig, die Pizzeria Ecke Reichenberger macht ganz okaye Nudeln, nachher trink ich noch ein Bier ums Eck. Der Wirt da hat eine Initiative ins Leben gerufen, ein kleiner Verein gegen das Aussterben der Kreuzberger Kneipenkultur, weil so viele jetzt dicht machen müssen. Wegen der Behörden, sagt er, weil sich ständig Nachbarn über Lärmbelästigung beschweren und weil Preissteigerungen nicht mehr ohne weiteres auf den Verbraucher umgelegt werden können. Ich muss nochmal fragen, wie sein Verein heißt, vielleicht Was aus den Wirten wird e.V. Man hört den Hubschrauber, eine Punkband covert Boys don’t cry. Der Schlagzeuger spielt, als würde er hauptberuflich Waschmaschinen reparieren.
20:15, Manteuffelstraße
Im Netz steht, die Krawalle seien früher und heftiger gewesen als in den Vorjahren. Ich weiß nicht, in welchem Kreuzberg die sind, ob ich inzwischen mit Brühe abgekocht wurde oder welche Medikamente die haben, die mir mein Arzt vorenthält, aber das ist ein sehr friedlicher erster Mai bisher. Auf Twitter erregen sich lauter Leute, die nicht vor Ort sind, als fiele Blut und Hirnrinde vom Himmel. Armageddon Kreuzberg, im Hintergrund spielt Aerosmith.
21:10, Kottbusser Tor
Die Stimmung ist bedrohlich, obwohl kaum etwas passiert ist. Aber wenn noch etwas passiert, dann hier. Es gab vereinzelt Festnahmen, ein paar Sprechchöre seitens der Demonstranten, es soll auch Angriffe gegeben haben, davon hat man aber nur punktuell was gesehen.
Die Polizisten tun mir leid. Die meisten machen den Eindruck, dass sie auf den ganzen Kram hier keine Lust haben. Im Gegensatz zu den Autonomen, aber die formieren sich nicht. Die Polizei scheint einen Kessel aus dem Kottbusser Tor machen zu wollen, ansonsten glaubt hin und wieder ein Polizeileiter, den Ballack machen zu müssen und Präsenz zu zeigen.
21:45, Kottbusser Tor
Die Lage entspannt sich, ein paar Krawalltouristen schauen enttäuscht. Da ist vorab so viel Öl ins Feuer gegossen worden, und jetzt bleibt alles mehr oder weniger friedlich. Ein paar Bodenplatten sind rausgerissen beim Zugang zur Möbel Olfe, von den Wahlkästen hat kaum einer die Nacht überlebt, ein paar Scherben liegen rum, ein paar Leute in gelben Overalls sammeln die Flaschen auf.
22:30, Skalitzer Straße
Ich bin müde und übellaunig, ich geh jetzt nach Hause. Später kommts zu Übergriffen in der Oranienstraße, keiner der Anwesenden wird hinterher „Straßenschlacht“ dazu sagen. Sebaso twittert von da. Es soll Tränengas gegeben haben, aber der taz-Ticker klingt auch eher entspannt.
Bloß dieses Technogedöns hier unten auf der Straße, das fängt an zu nerven, sobald man schlafen will. Wenn das so weiter geht, geh ich gleich auf die Straße und zünd was an.
Bitte unbedingt die URL merken. Im nächsten Jahr könnt Ihr den Artikel noch einmal veröffentlichen und im Jahr darauf und…
@#714799: Wir haben uns immerhin gestern den Podcast gespart, weil wir das Gefühl hatten, den jetzt zum 8. Mal zu machen „¦
@Johnny Haeusler: Ist sicher zeitlos;))
@#714802:
Was den, noch eine Woche aufs Heroin warten?
Also war wieder mal alles halb so schlimm, wie es erwartet wurde. Hoffentl. ist niemand enttäuscht. ;) Freue mich nach qualitativ hochwertigen Berichten auf spiegel.de *hust*, einen realitätsnaheren Artikel zu lesen.
Bin auch dafür das ihr den Artikel aufhebt und nächstes Jahr wieder postet. Dann braucht ihr nur das Datum anzupassen und müsst nicht nocheinmal alles neu schreiben. :)
Die Einzigen, die enttäuscht sind, sind gewisse Medien. Wurden doch schon seit Tagen „soziale Unruhen“, griechiche Hardcore Basketball-Hooligans und ein sich u. U. neu formierender schwarzer Block quasi herbei geschrieben. Traurige Bilanz des Tagesspiegels: „Harte Boen statt Gewaltsturm“. Menno, dabei hatten die doch, wie auch der SpOn und viele andere, eine ganze Armada von Fotojournalisten und TV-Teams dort versammelt und sogar Twitter die ganze Nacht quasi „belegt“..
Das vielzitierte Bemühen um einen friedlichen ersten Mai (das Herrn Glietsch zufolge gestern solch einen Rückschlag erlebt hat) ist, von seiten der Behörden, der Versuch, einen Zustand herbeizuführen, bei dem man Tausendschaften wie Kampfroboter ausgerüsteter und agierender Beamte kreuz und quer durch friedlich feiernde Menschenmengen patrouillieren lassen kann (dabei alles brutal beiseite stoßend, was zufällig im Weg steht) ohne dass was passiert. Klappt halt nicht. Denn natürlich finden sich immer genug Leute, die solch eine Einladung gerne annehmen. Das Ganze hat dann bisschen was von Pamplona; Dort wie hier werden einmal im Jahr Jungbullen durch die Straßen getrieben, bloß sind unsere, bei genauerem Hinsehen, teilweise schon recht alt… Und geben sich, im Gegensatz zu den armen Tieren in Spanien, ganz freiwillig dafür her, ja drängen sich geradezu auf…
@#714808:
Um Missverständnisse zu vermeiden, korrigiert:
Was den, muss ich noch eine Woche aufs Audioheroin warten?
Aha, „andere Qualität“ als in den Vorjahren…? Da scheinen manche Politiker eine gewaltsame Revolution ja geradezu herbeizusehnen… dabei haben sich die Behörden vor allem bei der Anzahl der Teilnehmer in der Vergangenheit doch immer deutlich nach unten verschätzt. Hmja, vielleicht haben wir ja nächstes Jahr dann einen schwarzen Block mit Dienstausweis, der die Maifestspiele ordentlich ankurbelt.
Aber was ist denn so falsch an diesem linken Volksfest? Ich mag das, dass sich da all die Menschen versammeln, die sonst als Minderheiten abgetan werden, dass das ein fröhliches und stolzes Zusammenkommen der Menschen ist, die nicht allein Karriere und Geld im Kopf haben und da wird das ursozialdemokratische Ideal der pluralistischen, aber einen Gesellschaft gefeiert —Â und dass sich an diesem Tag auch Kreuzberg 36, dieser ach so böse, parallelgesellschaftliche Kiez begegnet und einen Tag gemeinsam gute Laune, Couscous und Bier teilt. Diese kindische Revolutionsromantik, dieses ’68er Reenactment von Bürgerkindern geht mir aber ohnehin auf die Nerven.
@#714808: „8. Mal“, nicht „8. Mai“, du Nuss ;P
War um 2 Uhr nachts in der Oranienstraße, war sehr friedlich, unglaublich viele Jugendliche liefen rum, hat mir sehr gefallen. Die Polizei stand nur rum und bewachte beispielsweise Bild-Plakate.
Das ein bisschen wie Weihnachten und Ostern, keiner weiß eigentlich so recht, warum das überhaupt noch gefeiert wird. Man macht´s halt. Macht ja auch Spaß.
Einen friedlichen ersten Mai wird es nicht geben, solange die Eliten um die Weltherrschaft kämpfen. Nur, wer unter die Oberfläche sieht, erkennt die Zusammenhänge:
http://klarseher.wordpress.com/2009/05/03/ablenkungsmanover-am-1-mai/
Und nur, wer die Zusammenhänge erkennt, erkennt auch die Wahrheit!
Zum letzten Satz des Artikels: jetzt versteh ich endlich was „žOn peut continuer à brûler des voitures, mais il faut un objectif.“ meint.
Hm, frage ich mich gerade, was so eine Art von Berichterstattung soll… Jeah, ich bin live dabei, wenn’s rappelt? Für mich hat das alles vom Tenor ein bisschen was von „Gewaltgeilheit“.
@#714880: Du kannst ja mal die Berichterstattung bei der Morgenpost ansehen und diesen kleinen Bericht gegenhalten, und Dich dann nochmal fragen, was gewaltgeil ist.
Darum geht es nicht. Es geht um den Grundtenor dieser Art von Live-Berichterstattung und den finde ich nach wie vor grenzwertig und den finde ich auch von der Intention schon ziemlich nah am Stil der Bildzeitung.
@#714907: Sorry, Schnuti. Wenn du das gewaltgeil findest, dann hast du was nicht verstanden. Es geht um die Übertreibung der Massenmedien, die ein bisschen Radau hochstilisieren zu einer Revolution der Halbstarken.
Sowas hat Vorurteile in konservativen Wählerschaften zu Folge, die diese Vandalisten undifferenziert mit Linken in eine Schublade schmeißen und aus Prinzip nicht beachten, geschweige denn wählen oder sich mit ihren Ideen ernsthaft auseinandersetzen.
Hmm… also ich war letztes Jahr halbversehentlich in Kreuzberg und hab den Flaschenregen mitbekommen, der vom schwarzen Block aus auf die Polizei und Passanten auf der anderen Strassenseite niedergegangen ist, war eher nicht so beschaulich. Da finde ich als Demokrat Aktionen wie die in Mainz schon viel angenehmer:
(http://www.swr.de/swr1/rp/nachrichten/rheinland-pfalz/-/id=1533608/nid=1533608/did=4789214/sllng4/index.html)
@#714907: Du meinst, weil man zeitnah über ein Ereignis schreibt, das in allen Medien als ein Fest der Gewalt und der Zerstörung angekündigt wird, vor Ort geht und sich ein eigenes Bild verschafft, weil in den Live-Tickern der größeren Seiten ständig von Ausschreitungen zu lesen ist (den taz-Ticker mal ausgenommen), dann ist man gewaltgeil und Bildzeitungsniveau?
Frederic, ja, diese Art von Ich-Bin-Auch-Dabei-Augenzeugenberichterstattung (zumal es ja den Eindruck hat, dass du den „Ereignissen“ ja gewissermaßen hinterher- bzw. entgegenreist,) kommt dem Boulevard-Stil zumindest sehr nah. Anders dagegen ein reflektierter Hintergrundartikel, den man zwei, drei Tage später mit etwas Abstand schreibt, in dem man sozusagen eher den großen Bogen versucht. Aber nun gut, ich denke deine Intention war eher die von Nico geschilderte Position außerhalb der Mainstream-Medien. Auf mich wirkte es etwas anders, aber sei es drum.
@#714929: Wenn Du insgesamt ein Problem mit Augenzeugenberichten hast, kann ich das nachvollziehen. Mich treibt eher die Frage um, wie man Augenzeugenberichte ein wenig entschleunigt. Ein Hintergrundartikel ist ein anderes Genre; mir gings bloß um den anderen Blick.