Am Freitagabend wurde in Bielefeld der BigBrotherAward 2009 in der Kategorie „žPolitik“ an Dr. Ursula Gertrud von der Leyen, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, verliehen.
Die gesamte Laudatio von Alvar Freude nach dem Klick.
Der BigBrotherAward 2009 in der Kategorie „žPolitik“ geht an
Dr. Ursula von der Leyen,
Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.Sie hat innerhalb der letzten zwölf Monate ein System zur Inhaltskontrolle im Internet vorangetrieben, das zu einer Technik von orwellschen Ausmaßen heranwachsen kann.
Kaum ein Thema ließ in den vergangenen Monaten die Emotionen so hochkochen wie die Pläne Ursula von der Leyens, den Zugang zu bestimmten Inhalten im Internet zu blockieren. Damit wollte sie die Darstellung sexuellen Missbrauchs von Kindern unterbinden. Ein hehres Ziel, wie könnte man schon dagegen sein?
Es gibt zwei Gründe, aus denen man dagegen sein muss.
Erstens: Die Sperren sind für die erklärten Ziele, Kinder vor sexuellem Missbrauch zu schützen und die Verbreitung entsprechender Darstellungen zu vermindern, nicht nur untauglich, sondern sogar kontraproduktiv. Gleichzeitig gäbe es bessere und wirksamere Methoden, die freilich im Wahlkampf nicht so viel Aufmerksamkeit erzeugen.
Zweitens: Die Sperren etablieren eine technische Infrastruktur zur Internet-Zensur, die in der Lage ist, beliebige Inhalte zu kontrollieren und blockieren. Es entstünde ein allgegenwärtiges Überwachungsinstrument. Dies greift nicht nur in unsere freiheitlich-demokratischen Grundrechte ein, sondern ist auch ein erster Schritt der Politik, sich den virtuellen Raum Internet zu unterwerfen.
Aber schauen wir kurz zurück.
Ende November vergangenen Jahres fand in Rio de Janeiro der 3. Weltkongress gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen statt. Im Vorfeld wurde von verschiedenen Organisationen ein umfangreicher Forderungskatalog präsentiert. Aus diesem Katalog hat sich Ursula von der Leyen einen Punkt herausgepickt: die Blockade von Webseiten mit einem plakativen Stopp-Schild. Dabei werden die Inhalte nicht entfernt. Sie werden nur versteckt. So wenig, wie ich verschwinde, wenn mir jemand ein Stopp-Schild vors Gesicht hält, genauso wenig verschwinden Webseiten auf diese Weise.
Wochenlang zog nun Ursula von der Leyen von Wahlkampfauftritt zu Wahlkampfauftritt und berichtete von unfassbaren Taten, denen im Internet jeder einfach zusehen könne. Ein emotionales Thema, das alle bewegt. Und als selbsternannte Heilsbringerin hat sie die vermeintliche Lösung: Internet-Blockaden. Doch von ihren Begründungen für diese Maßnahme hält kaum etwas einer Überprüfung stand: nicht die angeblichen Milliardenumsätze, nicht die offene Zugänglichkeit für jedermann und vor allem nicht die Wirksamkeit der Stoppschilder, die sie als Maßnahme gegen den Missbrauch anpreist. Die Bundesregierung musste in einer Stellungnahme einräumen, keine genauen Kenntnisse über den gesamten Themenbereich zu haben. Nicht über die Verbreitungswege, die Ursprungsländer oder die Umsätze beim oft zitierten massenhaften kommerziellen Vertrieb.
So behauptete die Ministerin, Kinderpornografie im Internet werde beispielsweise aus Indien verbreitet, sei dort nicht verboten und man könne daher dort auch nicht dagegen vorgehen — deshalb bliebe nur die Blockade in Deutschland. Hier musste sie wenige Tage später nach Protesten Indiens zurückrudern, denn Kinderpornografie ist in Indien schon lange verboten. Nun behauptet sie, entsprechende Bilder und Videos würden ohne Möglichkeiten der Rechtsdurchsetzung über irgendwelche Bananenrepubliken verbreitet, die so genannten „žfailed states“. Dass dies falsch ist, die einschlägigen Server mehrheitlich in den USA und Westeuropa einschließlich Deutschland stehen und in „žfailed states“ kein einziger, ficht sie dabei nicht an.
Die Entfernung der Inhalte wäre also möglich, Ursula von der Leyen versteckt sie aber lieber notdürftig. Sie ist somit diejenige, die weiter die Verbreitung von Darstellungen sexuellen Missbrauchs von Kindern duldet. Sie ist diejenige, die nicht einschreitet. Sie tut nichts, sondern hält lediglich einen Vorhang davor und lässt die Täter weiter agieren. Und sie benutzt das Leid der Kinder — für ihren Wahlkampf und zur Errichtung einer allgemeinen Internet-Zensur- und Kontroll-Infrastruktur.
Jetzt könnte man sagen: In der Politik wird eben auch mal plakativ mit Symbolen gespielt, das ist in Wahlkampfzeiten kaum zu vermeiden. Nicht zuletzt hat Wolfgang Schäuble letzte Woche zugegeben, dass es primär um Wahlkampf ging.
Doch der entscheidende Punkt für unsere Kritik an den Sperrplänen ist nicht einmal, dass sie wirkungslos sind oder dass mit ihnen auf populistische Art Stimmenfang betrieben wird.
Das Entscheidende und wirklich gefährliche sind die Nebenwirkungen. Das BKA soll geheime Sperrlisten führen, die keiner rechtsstaatlichen Kontrolle unterworfen sind. Die Exekutive bestimmt, was auf einer Verbotsliste steht, die Liste wird geheim gehalten und eine Kontrolle durch die Judikative findet nicht statt. Im Gesetz ist zwar ein Gremium vorgesehen, das die Listen nachträglich kontrollieren soll. Aber dieses Gremium wird kaum in jedem Einzelfall prüfen können, ob das BKA alle anderen Maßnahmen ausgeschöpft hat oder im Land des Anbieters keine Löschung durchsetzbar ist, ob also die im Gesetz verlangte Bedingung erfüllt ist, um einen Sperreintrag in die Liste aufzunehmen.
Für die Blockaden müssen die Internet-Zugangsanbieter eine technische Infrastruktur aufbauen, die zur Kontrolle beliebiger Inhalte genutzt werden kann. Die unterschiedlichen Interessengruppen stehen schon seit Jahren Schlange: Sie möchten extremistische politische oder religiöse Meinungen, Glücksspiele, Computerspiele, angebliche oder tatsächliche Urheber- und Persönlichkeitsrechtsverletzungen blockieren — und das ist erst der Anfang.
Deshalb geht es bei diesem Gesetz nicht nur um Kinderpornografie, sondern um viel Grundsätzlicheres: Darf ein demokratischer Staat kontrollieren, was die Bevölkerung lesen kann? Darf ein demokratischer Staat eine Infrastruktur zur Inhaltskontrolle einrichten und so den ersten Schritt zu einer umfassenden Zensur gehen?
Artikel 5 unseres Grundgesetzes definiert nicht nur die Meinungsfreiheit. Er besagt auch, dass jeder das Recht hat, sich aus allen öffentlichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Dies ist ein wesentliches Grundrecht in einer freiheitlichen Demokratie und schließt auch das Recht ein, Inhalte zu rezipieren, deren Verbreitung nach unserer Rechtsordnung verboten ist. Eine staatliche Inhaltskontrolle steht dem diametral entgegen.
Wenn wir mit der Meinungs- und Rezipientenfreiheit gegen Internetsperren argumentieren, wird oft gefragt, ob diese Grundrechte denn auch für Kinderpornografie gelten sollen. Aber diese Frage stellt sich nicht. Kinderpornografie ist ein Verbrechen. Sie ist weltweit geächtet und kann weltweit bekämpft werden. Und genau das muss getan werden, nämlich echte Verbrechensbekämpfung, anstatt Internetseiten mit einem Schild zu versehen, an dem wir nicht vorbeilaufen sollen und es doch problemlos könnten.
Ursula von der Leyen beginnt mit der Demontage eines Mediums, das Bertolt Brechts Radiotheorie Wirklichkeit werden lässt: Seine Vision war, „žden Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen“. Die Netzsperren wenden sich gegen eine solche offene Kommunikation, sie installieren eine allgemeine Inhaltskontrolle. Es geht um mehr als allein um Zensur. Es geht darum, wie wir mit der Kommunikationsgesellschaft umgehen. Kann der Staat akzeptieren, dass er nicht alles kontrollieren darf, auch wenn er technisch dazu in der Lage wäre? Die Unterhaltung in allen Bussen, in allen Parks oder in allen Schlafzimmern der Welt kann nur schwer kontrolliert oder gar unterbunden werden. Bei der Unterhaltung im Internet ist dies möglich. Die Technik, die für effektive Internet-Sperren nötig ist, kann auch dafür genutzt werden.
Bisher galt nach den Erfahrungen aus der Nazi-Zeit das Tabu: Der Staat manipuliert nicht, was der Bürger rezipiert. Er erschafft keine Feindsenderverbote. Ursula von der Leyen bricht dieses Vertrauensverhältnis. Und wofür? Für Wahlkampf-Propaganda.
Noch eine Anmerkung zum Schluss: nach den neusten Ergebnissen der Koalitionsverhandlung zwischen Union und FDP soll das Gesetz zwar in Kraft treten, aber vorerst nicht umgesetzt werden. Dies ist kein Verdienst von Frau von der Leyen, und die Gefahr ist nicht gebannt, sondern nur verschoben. Ursula von der Leyen hat den Big Brother Award 2009 redlich verdient. Daher:
Herzlichen Glückwunsch, Dr. Ursula von der Leyen!
Dass Obama den Friedensnobelpreis erhalten hat, kann ich nicht so ganz nachvollziehen, aber der diesjährige BB Award hätte nicht besser vergeben werden können!
Eine sehr gute Laudatio, die vermutlich (leider) zu wenig Gehör finden wird.
Glückwunsch, jetzt aber auch persönlich entgegennehmen Frau von der Leyen!
Sehr gute Wahl das mit der Leyen.
Obama? Naja.
greetz tobi
„Darf ein demokratischer Staat kontrollieren, was die Bevölkerung lesen kann? Darf ein demokratischer Staat eine Infrastruktur zur Inhaltskontrolle einrichten und so den ersten Schritt zu einer umfassenden Zensur gehen?“
Nein!
Tun wir etwas dagegen!
Lasst die Diskussion nie verstummen…
Eindeutig treffende Nominierung und gelungen auf den Punkt gebrachte Laudatio, sehr schön
Sehr schön!
Hoffen wir einfach mal das Frau v.d.L als Gesundheitsministerin nicht mehr ihre Nase in Sachen steckt von denen sie keine Ahnung hat!
@#733865:
Auch (und vielleicht gerade) im Gesundheitsministerium lässt sich Orwell-technisch einiges machen:
– Bad Health Insurances für Raucher
– ~ Trinker
– Bewegungsmelderverordnung (jeder bekommt einen Sensor verordnet/implantiert; wer nicht Sport treibt, wird in seiner Krankenkassen hochgestuft)
…
das BIld ist echt mal gut getroffen ^^
Das Bild ist super!
Das Bild ist wirklich klasse getroffen! – Einfach Spitze :)
Wie ich schon sagte…
Der Herr Dr. Wolfgang Schäuble
hat sich in besonderem Maße dafür eingesetzt,
um aktuell alles bisherig gesagte zu relativieren.
Koalition zwischen FDP u. CDU)CSU ist nicht leicht.
Die ‚Gelben‘ werden beim Wort genommen, ihren
Versprechungen gegenüber den Wählern treu zu
bleiben. Das sehe ich noch nicht…
Abwarten (Grummel)
@PiPi
Und „Die goldene Kamera“ geht an: Dr. Wolfgang Schäuble!
vielen dank für diesen artikel.
auch weil die verhinderung der kinderpornografie endlich mal wieder die aufmerksamkeit bekommen hat, die sie verdient und nicht nur als „pseudoargument“ eines kontrollwütigen staates eingestuft wird. das grenzte gelegentlich schon an bagatellisierung und schadete der internetdiskussion in meinen augen etwas.
Irgendwie finde ich das Ganze immer noch ziemlich paranoid.
Der Artikel hat mir ausgesprochen gut gefallen.
Er geht sehr sachlich mit dem Thema um und hat einen hohen Informationsgehalt.
Bisher habe ich nur Schlagworte gehört und so habe ich mich sehr gefreut, diesen Artikel zu lesen und mich besser zu informieren.
Gruß Susanne
@#733865: Als Gesundheitsministerin ist die vdL demnächst für die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte zuständig und bestimmt maßgeblich darüber wie, wo und welche unserer aller persönlichen Gesundheitsdaten zentral oder dezentral bzw. auf der Karte gespeichert werden, wie diese verschlüsselt werden, wer alles Zugriff darauf haben soll und wie das kontrolliert wird …
Und wer könnte besser dafür qualifiziert sein, als unsere Expertin in Sachen Datenschutz, Internet und dazugehöriger Netztechnik? Mein Glückwunsch.
Wenn dann streng vertrauliche Krankheitsverläufe gestohlen/geknackt und im Netz verbreitet werden, dann schließt die bestimmt neue Verträge mit den Providern, um ein Stoppschild vor die Info zu hängen. :) :|
@16
Es ist sogar sehr real.
Die Projektgesellschaft Gematik wird derzeit immer mehr auf ein weisungsgebundenes Organ des Bundesgesundheitsministeriums getrimmt. Im Bundesgesetzblatt von (Nr. 54 vom 19. August) ist die Zweite Verordnung über Textmaßnahmen für die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte PDF-Datei erschienen. Sie enthält die Einführung eines „Schlichtungsgremiums“ für alle Entscheidungen, die im Projektausschuss der Gematik gescheitert sind. Können sich Ausschuss und Schlichter nicht einigen, „trifft das Bundesministerium für Gesundheit anstelle der Projektgremien die Entscheidungen“.
Guter Text – aber wozu der godwin im vorletzten Absatz?