6

Ahne: Bär hin, Bär her

Der von uns bereits empfohlene Ahne, der hier bloggt und dort lesebühnt, hat uns freundlicherweise seinen Berlinale-Text zur Verfügung gestellt, den wir mögen und außerdem ist ja gerade Berlinale, passt also.

Bär hin, Bär her

Einen Text für die Ewigkeit sollte man sicher nicht mit den Worten beginnen: „Die Berlinale 2010 interessiert mich nicht die Bohne“. Leider aber zwingen mich meine Gefühle, diesen, für die Ewigkeit bestimmten, Text, genau so zu beginnen.

Die Berlinale 2010 interessiert mich nicht die Bohne. Sie hat mich schon früher nicht interessiert, danach auch nicht und jetzt erst recht nicht. Ich finde es erheblich spannender unter mein Sofa zu gucken als den Hunderttausenden Werbetextern auf den Leim zu gehen und mich in das Heer blökender Schafe einzureihen, welche Jahr für Jahr im Februar ihre Ställe verlassen und die Kinos stürmen. Dabei habe ich gar nichts gegen die Filme. Viele sind gut, durchaus, aber würden sie einfach so laufen, ohne das Berlinale-Etikett, kein Schaf würde sie sich angucken, nur die Üblichen, die Filminteressierten.

Ich hatte ja mal eine Freundin. Ist lange her, ja ja. Kann mich auch nur noch dunkel an sie erinnern, die jedenfalls fand die Berlinale ganz spannend: „žHach, Berlinale“ sagte sie immer „žso viele Internationale aus so vielen Ländern. Das ist doch ganz groß und spannend und ein Ereignis. Da muss man unbedingt hin“ und „žAhne, hier habe ich dir mal alle Filme im Berlinale-Programmheft angekreuzt, die mich interessieren. Du bist doch arbeitslos, deshalb gehst du da morgen mal hin, zu dem Potsdamer Platz und stellst dich da hinten an, an die Schlange und kaufst dann so viele Karten, wie du kriegen kannst.“

Damals hatte ich die Freundin noch gern und auf dem Potsdamer Platz war ich ja auch noch nie, wo war der überhaupt? Ach, in der Mitte meiner Heimatstadt, na so was?! Also, warum nicht. Aber wie sie bloß auf die Idee kam, dass Arbeitslose Zeit hätten zum Kinokartenkaufen? Wo wir doch von früh bis abends immer Bewerbungen schreiben mussten. Egal. Würde ich das Bewerbungen-Schreiben eben mal schwänzen. Muss mein Sachbearbeiter ja nichts von erfahren, den ich an dieser Stelle übrigens grüße, hallo Herr Neubert. Bin ich also dahin mit der U-Bahn, hätte auch mit der S-Bahn, sicherlich, damals fuhr ja noch die S-Bahn, war ja noch vor dem Meteoriteneinschlag, aber ich bin lieber U-Bahn, weil Gelb ist nämlich meine Lieblingsfarbe. Früher war ja mal Blau meine Lieblingsfarbe, das ist aber eine ganz andere Geschichte. Gut. 10 Stationen waren es von mir aus, aufgerundet. In der U-Bahn nur so Leute drin wie ich. Gutherzige, willensschwache Idioten, die von, sie beherrschenden, eventgeilen Schlampen aus dem Haus geprügelt worden waren, auf die Jagd geschickt nach Trophäen, Eintrittskarten, die man sich später an die Backe tackern konnte. Man ist eben dabei gewesen.

Schweigend sahen wir uns einander an. Gebrochene Kerle, mit hängenden Schultern, vom Schicksal gebeutelt. Käme ein botswanischer Regisseur auf die Idee unsere Leidensgeschichte zu verfilmen, der Hölzerne Bär wäre ihm sicher, mindestens der Hölzerne. Ich rauchte Kette. Damals ging das ja noch, Kette rauchen, in der U-Bahn. War ja noch vor dem 11. September. Obama ging zur Schule, Twix hieß noch Raider und in der U-Bahn konnte man noch Kette rauchen. Der Potsdamer Platz, er sah damals allerdings schon genauso aus wie heute, als wäre die DDR nie untergegangen, als hätte sie sich tatsächlich weiterentwickelt. Der Potsdamer Platz, er sieht, heute wie damals, aus, wie sich senile Politbürohengste eine bessere DDR vorgestellt hätten, architektonisch zumindest.

Ich ging einfach dem Strom der trottenden Menge hinterher und stellte mich an einer der Schlangen an. Zwischen den traurigen Befehlsausführern hampelten immer wieder Wesen herum, die wie von einem anderen Stern zu kommen schienen. Sie mussten andauernd telefonieren, mit Bekannten, denen sie dann so Sachen in die Hörmuscheln schrieen, wie: „žDu kannst dir gar nicht vorstellen, wo ich gerade bin. Ich bin gerade am Potsdamer Platz und weißt du, was ich mir gerade hole? Ich hole mir gerade Eintrittskarten und weißt du für was? Genau, für die Berlinale. Weißt du eigentlich in welchem Film (es folgte irgendein englischer Name) mitspielt? Ach, is ja auch egal. Man bin ich aufgeregt!“ Telefonierten sie mal gerade nicht, so sahen sie durch einen hindurch. Für sie schien es nämlich keine Realität zu geben. Es sei denn, es gab uns Andere gar nicht. Wenn man rein wissenschaftlich an etwas herangeht darf man selbstverständlich auch die Möglichkeit der eigenen Nichtexistenz nicht ausschließen. Und ich, ich gehe ja immer rein wissenschaftlich heran. An alles. Auch an die Kasse. Wenn da einer bezahlt, zum Beispiel, weiß ich, dass jetzt, laut Adam Riese, einer weniger vor mir steht. Ich gehe wenigstens davon aus, dass es nichts nützt, rücke ich meinem Vordermann Sekunde um Sekunde dichter auf den Pelz. Wahrscheinlich aber existiert schon längst eine Maßeinheit des gefühlten Vorwärtskommens, so wie manche Zeitungen ja auch gefühlte Temperaturen abdrucken, als ob wir alle genauso fühlen. Humbug! Quatsch! Schwachsinn! Dann könnte man auch gleich die gefühlte Geschwindigkeit in Fahrzeugen oder die gefühlte Anzahl von Toten bei Kriegseinsätzen einführen.

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich da stehen musste, gefühlte 24 schriftliche Bewerbungen werden es garantiert gewesen sein, irgendwann war ich auf jeden Fall dran und zeigte der Schalterfrau das Heftchen mit den angekreuzten Filmchen. „žVon denen jeweils 2 Karten.“ Sie musste lächeln. „žDie sind alle weg.“ „žWeg?“ „žWeg, ja, ausverkauft.“ „žAch so. Na dann.“ Und ich ging, nicht im Mindesten enttäuscht, zurück zur U-Bahn, die mich vom Potsdamer Platz wieder Richtung Berlin kutschierte.
Am nächsten Tag musste ich natürlich noch einmal zum Potsdamer Platz, diesmal ohne Kreuze. Ich sollte einfach nur Karten holen. Karten für irgendwas. Karten für alles was noch übrig war.

Der Film, den wir uns dann gemeinsam anguckten, war, Bär hin, Bär her, sicherlich gut. Ich erinnere mich, dass er in einer anderen Sprache gezeigt wurde und die Dialoge von einem Sprecher deutsch eingesprochen werden mussten. Spätestens ab der Hälfte des Filmes habe ich allerdings geschlafen, meine angenehmste Erinnerung übrigens, bis heute, an die Berlinale.

(Text: Ahne)

6 Kommentare

  1. 01
    florian

    ganz groß, wie immer. ahne rules!

    trotzdem gehe ich heute abend hin – ist aber auch wesentlich einfacher heute, internet – let’s go baby.
    und es ist mein erstes mal – mal schauen ob ich einschlafe…

  2. 02

    Ahne, das ist ganz große Klasse! :)

  3. 03

    Großartig!

    Und ich als kleiner Filmblogger hätte ne geile Idee für dich: finde nen Independent-Regisseur und lass deine Leidensgeschichte wirklich verfilmen.

    Wenn’s nen Bären geben soll: Drama.
    Wenn’s etwas Geld geben soll: Komödie.
    Wenn’s egal ist: Romantische Komödie

  4. 04
    Stephan

    Ich hab gestern einen richtig guten Film gesehen! Und es war sehr spannend zu sehen, wie die Schaupieler bei Ihren Szenen reagieren und wie das Publikum. Ich fand es sehr interessant und gut! Berlinale rulez!!!

  5. 05

    Grummel

    Das ganze Gedöns um ‚Best of‘ von Seiten der bezahlten Jury ist mir so lang wie breit.
    Soll aber nicht heissen, dass der eine oder andere Film mich nicht interessiert.