Vor einem Jahr, da war der Himmel über Bayern schwarz wie die Seele van Gaals. 20 Punkte, Platz acht, in der Championsleague von Bordeaux zum Pilzesammeln geschickt und heulend wieder nach Hause gekommen: es sah nicht gut aus. Tabellenführer damals: Leverkusen. Spieltag dreizehn kamen sie nach München, und Uli Hoeneß sprach in kaum zu vernehmender Zurückhaltung, mit untertriebener Gestik vom „Spiel der Spiele“. Endergebnis: eins zu eins. Mitleidig sah man nach München und schickte Taschentücher für die kurze Nase van Gaals.
Gestern wieder „Spiel der Spiele“. Bayer mit nur zwei Punkten, Bayern mit einem weniger als letzte Saison. Gut, Bayer war erster, und Bayern stand kurz vor dem internationalen Exitus. Dann verlor Juve in Bordeaux, und keine drei Monate später feierte jeder Fussballsachverständige den „schrulligen“ van Gaal.
Damals war es ein gutes Spiel, dieses Mal nicht. Spannend ja, aber nicht ansehnlich. Es glich mehr einer Partie Poker, bei der die Kontrahenten immer viel zu früh sehen wollen: fortwährend kam es zu kleinen Scharmützeln im Mittelfeld, und wenn Bayer einmal den Ball kontrollierte, kam Renato Augusto, zog sich die Weihnachtsmütze über und schenkte ihn wieder her. Bayern hingegen versuchte, schnell und direkt nach vorne zu spielen, was dann ein Problem ist, wenn Kroos nicht schnell und Müller nicht direkt spielen kann. Schweinsteiger interpretierte seine Rolle als Zehner, indem er grätschte und kämpfte und Fleiß bewies, kurzum: als wäre er ein zu weit vorne stehender Sechser.
Irgendwie fuchste sich dann trotz allem Lahm rechts durch eine andächtig salutierende Leverkusener Abwehr, lupfte den Ball auf Schweinsteiger, der den Ball auf Gomez lupfte, der den Ball ins Tor lupfte. Manuel Friedrich schüttelte seine Schlagerstarfrisur. Es stand zu befürchten, dass Bayern sich mit verschränkten Armen am eigenen Sechzehner aufstellen und das Spiel zu Ende prokrastinieren würde.
Glücklicherweise für den blutleeren Kopf von Heynckes aber rannte Sidney Sam in ein von Pranjic unmotiviert in der Landschaft vergessenes Bein und fiel hin. Florian Meyer pfiff, Vidal schoss, Ausgleich. Erste Journalisten schrieben bereits „leistungsgerecht“ in den Vorspann ihrer Artikel, und sie hatten recht: es passierte nichts mehr. Bayer fehlt, wie letzte Saison auch, in entscheidenden Momenten die gute Idee. Wenn ein solider Brecher wie Vidal das Spiel strukturiert, ist das überraschendste, was passieren kann, ein Wadenbeinbruch des Gegenspielers. Und Bayern fehlt das System: Sechzig Prozent Ballbesitz, ja, aber keinen Plan, wie man in den gegnerischen Strafraum kommt. Am Ende durfte Ribéry noch ein paar Bälle in der Vorwärtsbewegung vertändeln.
Jedenfalls, was die Zukunft der Bayern betrifft: Letzte Saison waren es sechs Punkte auf die eins. Jetzt sind es vierzehn.
—
Alldieweil, in Irland:
(Was in Qatar geschah, wissen ja schon alle.)
—
In der NZZ prognostiziert Michael Gamper das Ende des Mittelfelds:
Im Falle des Fussballs ist zu beobachten, dass die Leistungen der Teams von Fans und Massenmedien fast ausschliesslich vom Ergebnis her beurteilt werden: Wer gewinnt, hat in letzter Konsequenz immer recht. Eine solche Betrachtung steht allerdings im Widerspruch zum Drang der öffentlichen Meinung nach Spektakel.(…) Die Quadratur des Zirkels ist angestrebt: Wie schafft man es, diejenigen Teams zu Siegern zu machen, die auch am spektakulärsten spielen? Alle Regeländerungen in Fussball und Eishockey der letzten Jahre streben die Vermehrung der Toranzahl an und beschneiden die Eingriffsmöglichkeiten der Verteidiger.
Zu den Verlierern solcher Entwicklungen gehören auf jeden Fall die Mittelfeldspieler. Kein Wunder, sind die grossen Stars der neunziger Jahre fast allesamt Stürmer, wenn doch die mittlere Zone zwischen den Strafräumen gar niemanden mehr interessiert – eine Entwicklung, die an der WM 1998 besonders deutlich zu beobachten ist. Cruyff, Beckenbauer, Netzer, Platini oder Zico: Sie alle würden heute in der Spitze spielen wollen, allenfalls noch als hängende Stürmer. Das Schwinden des Mittelfelds aus dem öffentlichen Bewusstsein ist ein epochaler Prozess, ein Dimensionsverlust für den Fussball. Denn es ist nicht nur das kolumbianische Kurzpassspiel in der Feldmitte, dem die Würdigung versagt wird, sondern es ist festzustellen, dass auch die Spielkunst der klassischen Nummern 10 gänzlich zu verschwinden droht. Die Tore von Vieri, Bierhoff, Ronaldo, Salas und Batistuta können darüber kaum hinwegtrösten.
Ich bin nicht einverstanden. Das Mittelfeld hat die letzten Jahre eine massive Aufwertung erfahren. Noch in den 50ern spielte man mit vier oder gar fünf Stürmern, ein Rechtsaussen wie Garrincha machte pro Spiel höchstens vier Schritte in die Defensive. Der letzte Paradigmenwechsel der Spielsysteme war die Umstellung vom 4-4-2 auf 4-2-3-1: die Überlegenheit des zweiten Systems besteht maßgeblich darin, eine numerische Überzahl im Mittelfeld herzustellen, und dadurch besser in die Zweikämpfe zu kommen. Dass es die klassische 10 nicht mehr gibt, liegt übrigens auch daran: es gibt nicht mehr genug Raum hinter den Spitzen, als dass man die Zeit hätte, von dort ein Spiel zu gestalten. Tatsächlich sind die modernen Spielmacher allesamt klassische 6er, sei es Andrea Pirlo, der Vorreiter dieser Interpretation, Xavi oder Schweinsteiger. Für Spieler wie Ronaldinho ist kein Platz mehr. (Update: Ich korrigiere, rio hat recht.)
Langfristig sehe ich eher eine Abschaffung des Stürmers: für Typen wir Mario Gomez, Luca Toni oder Peter Crouch ist schon heute kaum mehr Platz. Man braucht spielende Stürmer, oder man spielt ähnlich anachronistisch wie Frankfurt. Wahrscheinlich hat Russland die Richtung vorgegeben, als es im Viertelfinale der letzten EM gegen die Niederlande phasenweise ein 5-5-0 spielte, bis die Holländer vor lauter Wirbel auf den Platz kotzten. Noch sind die Trainingsmethoden nicht ausgereift genug, als dass die Spieler ausdauernd genug sind, um den notwendigen Laufaufwand bewältigen zu können, aber wer hätte vor zehn Jahren gedacht, dass Spieler wie Fabregas pro Spiel 14 Kilometer laufen können?
Ja leck mich am Arsch
Da muss ich Fred’s Kolumne lesen um zu erfahren dass hoch bezahlte Sportler ihren Auftrag nachkommen und sich zur Freude der spendablen Fans bewegen.
Prima
tolle kolumne dieses mal, list sich super! aber in einem punkt muss ich als barca anhänger widersprechen – Ronaldinho war nie ein klassischer Spielmacher hinter den Spitzen – in seinen Besten Barca Zeiten war er eher Flügelstürmer, zog er das Spiel meist über die linke Seite auf und konnte durch seine überragende Technik und dem vermehrten Platz auf der Flanke auch aus dieser nicht-zentralen Position gefährliche Situationen für die Mitspieler kreieren- oder eben selbst in die Spitze (zentral oder Richtung Eckfahne) stoßen…
@#776039: Tatsächlich! Ich hab ihn wie bei Milan hinter den Spitzen gesehen, aber jetzt, wo Du es sagst: stimmt, der kam auch häufig über links. Die legendären Spiele gegen Chelsea hat er aber hinter den Spitzen gespielt, nicht wahr?
Ich halte das alles für Unsinn. Wieso sollte ich mir gedanken darüber machen, ob das Mittelfeld oder die Stürmer oder die Abwehrspieler aussterben? Wieso sollte ich mir überhaupt Gedanken darüber machen, zu welcher Position ein Spieler zuzuordnen ist? Fußball ist doch immer Elf gegen Elf.
Özil zum Beispiel, spielt hinter den Spitzen, ist aber – in Relation zu Khedira – selbst eine Spitze. Dass er darüber hinaus noch auf den Flügel weicht, verkompliziert die Namensnennung weiterhin.
Will heißen: Das ganze Spiel war und ist fluide. Ein Hummels oder ein Badstuber entwickelten in den letzten Monaten einen Vorwärtsdrang, wie in früher Beckenbauer oder Sammer von der Libero-Position ausübten. Sind sie deswegen Liberos? Oder vielleicht Spielmacher? Die Außenverteidiger sind ein weiteres Beispiel. Deren Aktionsradius ist derart enorm, dass man sie eigentlich eher Flügelläufer rufen müsste. Jonathan Wilson will deswegen gleich die gesamte Formationsbenennung über den Haufen werfen. Aus einem 4-2-3-1 wird ein 2-4-3-1. http://www.guardian.co.uk/sport/blog/2010/oct/26/the-question-barcelona-reinventing-w-w
Und dass die SGE anachronistisch spielt, finde ich auch fraglich. DIE Mannschaft der letzten Saison, Inter Mailand, verließ sich im Endeffekt auch oft auf Militio.
@#776052: Weils Taktik ist! Und spannend! Malerei ist ja auch bloß Farbe auf Papier, trotzdem gibts nen Unterschied zwischen Tizian und meinen Strichmännchen.
Nennt man nicht deswegen die Formation nach der defensiven Ausrichtung? Ein 4-4-2 ist also die Formation, die eine Mannschaft in der geordneten Rückwärtsbewegung spielt.
Spannend ist es, keine Frage. Nur ist es doch mehr als Abwehr, Mittelfeld, Sturm.
Das ist eine gute Frage. Guckt man sich beispielsweise Dortmund an, dann verteidigen Schmelzer und Piszczek immer vor der Mittellinie. Die defensive Grundformation mit Viererkette sieht man fast nie.
@#776049: da hast du recht, in den chelsea spielen fand er sich oft zentral wieder – die vorgabe von frank rijkaard war damals aber, dass dinho als einziger einfach totale narrenfreiheit hatte und sich da hinstellen konnte, wo er wollte / es der gegner zuließ, spielmacher & taktgeber war deco…
übrigens eine kleine anmerkung zu deinem letzten absatz – dieser wird nämlich z.b. durch das heutige barcelona spiel perfekt bestätigt:
barca spielt unter guardiola nämlich seit ca. knapp einem jahr völlig ohne stürmer: villa besetzt den linken, pedro/bojan den rechten flügel und beide machen das spielfeld extrem breit und ziehen erst in die zentrale, wenn sie von den außenverteidigern überlaufen worden sind – messi spielt (meist) nicht mehr auf dem rechten flügel, sondern als ein (ganz klein wenig nach rechts versetzter) offensiver mittelfeldspieler und stößt punktuell ins sturmzentrum vor, hier sucht er dann oft den doppelpass mit pedro/villa oder den dann ebenfalls nachrückenden iniesta/xavi… man hat also faktisch ein völliges stürmervakuum in der zentrale (kopfbälle gewinnen die bei ihrer größe eh nicht ;-) ), aber das macht barca so wenig ausrechenbar: es kann abwechselnd von den flügeln (villa/pedro & av) oder der zentrale (messi, iniesta, xavi) in den stafraum vorgestoßen werden, in der offensivbewegung hat man dann meist sogar 6 bis 7 spieler auf höhe der strafraumgrenze…(alves das kleine duracell-häschen ist eh mehr flügelspieler als außenverteidiger)
andersrum könnte man aber auch sagen, dass barca mit 6-7 stürmern spielt, die sich auch nach hinten orientieren. das ist nur eine frage der betrachtung und wenig sinnstiftend.
als ich sehe da schon unterschiede – habe noch keinen verein z.b. in der bundesliga gesehen, der in der vorwärtsbewegung wirklich (erstmal) keinen stürmer im strafraum/auf dem weg dahin hat..wie man die spieler dann benennt mag ja wirklich betrachtungsweise sein (v.a. im hinblick auf barca’s/cruyffs „total football“ philosophie), aber die position und laufwege der spieler unterscheiden sich dann doch erheblich…