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Sexueller Missbrauch an Schulen: Empörung der Betroffenen über das Entschädigungskonzept der Bischöfe – Aufruf zur Demo am 14. März

Etwas über ein Jahr ist es her, dass dieser Spreeblick-Artikel über sexuellen Missbrauch am Canisius Kolleg Berlin erschien. Die Diskussion unter dem Artikel mit knapp 500 Kommentaren und die folgend aufgedeckten Fälle an anderen Schulen sorgten für ein über die Grenzen des Landes hinausgehendes Medien-Echo.

Seitdem ist viel passiert – anscheinend. Runde Tische, engagierte Politiker und Vertreter von Institutionen versprachen Aufarbeitung und Entschädigung. Dass die Realität jedoch ganz anders aussieht, hat mir einer meiner damaligen Mitschüler, Matthias Katsch, dankenswerter in einem Gastbeitrag mitgeteilt:

Sprechen hilft! sagt die Bundesregierung −
WIR WOLLEN GEHÖRT WERDEN! sagen die Betroffenen

Warum wir uns über das Entschädigungskonzept der Bischöfe empören, und am 14. März in Paderborn demonstrieren wollen.
Von Matthias Katsch

Die deutschen Bischöfe haben diese Woche ihr lange angekündigtes Angebot an die hunderte von Opfern sexueller Gewalt in ihren Einrichtungen vorgelegt, die sich im letzten Jahr zu Wort gemeldet haben. Das ist gut, denn damit akzeptiert die Kirche in Deutschland, dass sie wie überall auf der Welt für die Folgen ihres kollektiven Versagens haftet. Die angebotenen Summen wirken allerdings erbärmlich für die reichste Kirche der Welt. Außerdem verbindet die Kirche ihr Angebot mit einer seltsamen Begründung: sie wolle nur stellvertretend für die Täter einstehen, heißt es. Damit wird wieder einmal deutlich, dass sie sich selbst für gänzlich unschuldig hält. Das ist ein grober Irrtum.

Die Kirche ist nicht nur in der Pflicht, weil die Täter in ihrem Namen über die Opfer kamen. Oder weil die Täter die katholische Lehre zur Sexualität in perfider Weise für ihre Zwecke des Missbrauchs einsetzten. Oder weil die geradezu himmlische Autorität des Priesters die Opfer in besonderer Weise einschüchterte und sprachunfähig machte. Oder weil diese Täter sozusagen immer den Lieben Gott im Gepäck hatten – welcher Pädophiler ist in einer solch komfortablen Situation?

Nein, die Kirche ist vor allem deshalb in der Pflicht, wegen des zweiten Verbrechens, das nicht die Täter, sondern die Institution an den Opfern begannen hat: das systematische Verheimlichen der Taten, das Schweigegebot, dass auch die Opfer verstummen ließ, das ganze ausgefeilte, weltweite „Täterschutzprogramm“. Täter wurden nicht gestoppt, sondern weiterversetzt, Verbrechen vertuscht. Opfer kamen nicht vor oder wurden abgewimmelt.

Für dieses institutionelle Versagen muss die Kirche jetzt endlich die Verantwortung übernehmen.

Deshalb ist es umso empörender, dass sie sich mit Beträgen im niedrigen vierstelligen Bereich aus der Affäre ziehen will. Noch mehr Unmut aber als die erbärmlichen Zahlungen, die sie anbietet, ruft das Vorgehen dabei hervor: Ein geheimes Untersuchungsgremium soll die eingereichten Anträge prüfen und entscheiden.

Dies entspricht leider der düsteren Tradition katholischer Intransparenz, und man muss kein Kirchenfeind sein, um sofort an die Geheime Inquisition zu denken, die dann im 20. Jahrhundert ihre modernen weltlichen Nachfolger fand.

Die Opfer sind ans Freie gegangen und haben angefangen zu sprechen. Obwohl kaum jemand sie dabei unterstützt, haben viele sich vernetzt. Die Kirche will sie jetzt wieder in ein klandestines Verfahren zwingen, dass jede Gemeinschaft unter den Betroffenen erstickt. Es gibt kein Dialoganbot, die Bitten der Opfer um Gehör laufen ins Leere.

Wir haben stets auf eine einheitliche Zahlung gedrungen – weil jede Zahlung nur zeichenhaft sein kann und weil es nicht die Schuld der Opfer ist, dass die Fälle solange im Verborgenen blieben und heute nur schwer aufzuklären und noch schwerer gegeneinander abzuwiegen sind. Sicher gibt es Gründe für Staffelungen nach der Schwere der Tat und der Auswirkungen im Leben der Betroffenen. Doch die Gründe für ein einheitliches Vorgehen wiegen aus unserer Sicht schwerer.

Vor allem aber: die Entschädigung − oder wie wir vorziehen es zu nennen − die Genugtuungszahlungen müssen sich in der Höhe an dem orientieren, was inzwischen in Europa üblich ist. In Irland, Portugal oder Österreich wurden den Opfern deutlich höhere Summen zugesprochen für ihren Lebensschaden. Es ist pervers, dass für eine Persönlichkeitsrechtsverletzung durch den Abdruck eines Paparazzi−Fotos Schmerzensgelder im fünf− und sechsstelligen Bereich verhängt werden und die Opfer schwerster Lebensbeeinträchtigungen von den Institutionen, die dies mit zu verantworten haben, mit den berühmten Peanuts abgespeist werden sollen.

Denn jenseits des geldwerten Vorteils der in einer Zahlung steckt, und der den Betroffenen zu gönnen wäre, würden solche Minisummen eine erneute Abwertung und Entwertung der einzelnen Opfers durch die Institution signalisieren. Genauso empfinden viele Betroffene daher das Angebot der Bischöfe.

Vor einem Jahr spielte Spreeblick eine entscheidende Rolle bei der Selbstfindung der Betroffenen. In hunderten von Einträgen offenbarten sich da Betroffene sexuellen Missbrauchs aus verschiedenen Schulen und Einrichtungen des Jesuitenordens und der katholischen Kirche und tauschten ihre Erfahrungen aus. Für viele war dies das erste Mal, dass diese Männer überhaupt darüber kommunizierten. Inzwischen haben sich auch viele Angehörige und Co−Betroffene zu Wort gemeldet und eine gesellschaftliche Debatte über sexuelle Gewalt in allen Institutionen einschließlich der Familie ausgelöst.

Ohne die Hilfe der internetbasierten Kommunikationskanäle hätten sich in der Folge nicht hunderte von Menschen, die teilweise seit Jahrzehnten keinen Kontakt mehr miteinander hatten und über die halbe Welt verstreut waren, wieder finden können. Nur so konnten sie sich auch mit Betroffenen aus anderen Institutionen vernetzen.

Dass parallel persönliche Treffen nötig waren und sind, um Vertrauen aufzubauen und aus der Betroffenheit zur Tat zu gelangen, stützt diese wichtige Rolle der neuen sozialen Medien nur: denn auch diese Verabredungen fanden meist übers Netz statt.

Mit der Seite www.eckiger-tisch.de hat sich ein Teil der Betroffenen aus den Jesuiteneinrichtungen, die die Welle der Offenbarungen ausgelöst hatten, eine Plattform geschaffen und in der Folge auch tatsächliche Eckige Tische mit Verantwortlichen veranstaltet.

Aber so wichtig das Netz als Öffentlichkeit und als Organisationsmittel auch ist: politische Wirkung entfaltet sich in der Öffentlichkeit durch Präsenz in der realen Welt. Deshalb wollen wir unsere Wut und Empörung über das Angebot der Bischöfe und ihr Vorgehen nicht herunterschlucken oder in Internetforen wüten, sondern wir wollen nach Paderborn zur Frühjahrstagung der Bischöfe fahren, um uns dort zu artikulieren.

Wir hoffen, dass erneut das Netz helfen kann, um die Menschen zu erreichen.

Wir hoffen, dass möglichst viele Menschen uns am 14. März unterstützen und die Betroffenen nicht allein dort auf dem Domplatz stehen lassen! Wir bitten um die Solidarität, nicht nur aber auch gerade der Katholikinnen und Katholiken, die sich für das unsensible Vorgehen und das schäbige Angebot ihrer Hirten schämen.

Wir hoffen, dass sich gerade junge Menschen aus katholischen Bildungseinrichtungen, Vereinen und Verbänden, in denen wir zu Opfern wurden, angesprochen fühlen.

Alle gemeinsam wollen wir den Bischöfen und der ganzen Kirche deutlich machen:

WIR WOLLEN GEHÖRT WERDEN!

UPDATE Infos zur Demo gibt es hier, auf Twitter kann man der neu gegründeten Bundesinitiative ebenfalls folgen.

8 Kommentare

  1. 01

    Glückwunsch zu diesem wichtigen und richtigen Artikel. Was die Kirche da abzieht ist finsterstes Mittelalter. Ich wünsche euch allen Mut und alle nötige Kraft, das durch zu stehen. Lasst euch nicht mundtot machen!

  2. 02

    Wenn ich irgend kann, werde ich Euren Protest unterstützen:
    http://nicsbloghaus.org/2011/03/03/5-000-euro-fuer-lebenslanges-leid/

  3. 03

    Es ist ein Skandal ohne Gleichen.

    Die Opfer müssen sich erneut erniedrigen
    um sich soz. billig auszahlen zu lassen.
    Mir fehlen die notwendigen Worte.

  4. 04
  5. 05
    Schnuppi

    Ich würde gerne ein paar Gedanken und Überlegungen zum Thema Pädophilie und katholische Kirche loswerden. Selber habe ich an einer staatlichen Schule Abitur gemacht, bin aber neben einem katholischen Internat aufgewachsen. Über dieses habe ich nie irgend etwas von sexuellem Missbrauch an Schülern mitbekommen, weder von Lehrern, noch von Schülern oder ehemaligen Schülern, noch durch Bemerkungen meiner Eltern.
    Selber bin ich von meiner Mutter sexuell missbraucht worden, wahrscheinlich mehrfach, dazu kamen wahrscheinlich im gleichen Alter auch Quälereien wie z.B. zappeln lassen, wenn ich etwas dringend wollte etc. Erinnerungen daran habe ich keine, was darauf schließen lässst, dass das Ganze irgendwann im Alter zwischen null und vier Jahren passiert sein muss. Leider habe ich das erst mit 41 herausgefunden, weil ich durch Zufall auf einen Wikipedia-Artikel über Pädophilie stieß. Zudem haben mir auch die Bücher von Alice Miller geholfen. Durch diese Bücher ist mir klar geworden, dass die Gewalt in der Welt jeweils von Generation zu Generation weiter gegeben wird, wenn die betroffenen Menschen sich dieser Gewalt nicht mindestens bewußt werden. Die Fälle familiärer sexueller Gewalt sind wohl wesentlich häufiger als solche in Vereinen, Schulen oder eben kirchlichen Einrichtungen. Laut einer Dunkelziffer soll jeder vierte Erwachsene schon einmal missbraucht/vergewaltigt worden sein.
    Meine Mutter hatte mir meinen Verdacht vor drei Jahren indirekt bestätigt, als ich zu Ihr sagt: „In Deiner Familie hat es sicher keinen sexuellen Missbrauch gegeben, oder?“ Sie schüttelte heftig mit dem Kopf, blickte aber zu Boden. Mir wurde dadurch klar, dass meine Mutter mich anlog, dass sie wusste was sie mir angetan hatte, dass sie selber Opfer von sexuellem Missbrauch (Vergewaltigung) war (höchstwahrscheinlich durch ihren Vater) und dass sie es die ganze Zeit wusste (es also zum letzten Mal irgenwann nach ihrem sechsten Geburtstag, oder bei starker Verdrängung, deutlich später stattfand).
    Vermutlich, aufgrund ihres Verhaltens, das ich mir rückblickend noch einmal vor Augen gehalten habe, wurden auch zwei Schwestern meiner Mutter von ihrem Vater sexuell missbraucht. Ein Bruder von ihr erzählte mir etwa ein Jahr voher Geschichten über seine Mutter, d.h. über ihr Verhalten, das mich sehr stark an meine Mutter erinnerte. So kam mir der Verdacht, auch aufgrund anderer Berichte über meinen Onkel (erst sehr spät Sex und nicht gerade ein Casanova), dass auch er Opfer sexuellen Missbrauchs durch seine Mutter geworden ist. Sein Bruder wurde Pfarrer. Dieser Bruder ist noch mit über sechzig Jahren zusammengezuckt, wenn man nur das Wort Sex erwähnte. Und wenn man gleichzeitig vielleicht noch den Begriff Haushälterin erwähnte da bekam er vor Panik große Augen. Was kann einen erfahrenen, hoch intelligenten, alten Mann dazu veranlassen in Panik zu geraten, wenn man das Thema Sex anschneidet? Ist das nur wegen der jahrzehntelangen sexuellen Enthaltsamkeit (bei meinem Onkel bin ich mir da ziemlich sicher)?

    Als Antwort kam für mich dann nur in Frage, dass auch er Opfer seiner Mutter wurde. Ich selber hatte als Jugendlicher auch ab und zu mal den Gedanken Priester zu werden. Ministrant wurde ich Dank Eltern schon zwangsweise. Wenn mein Onkel sexuell missbraucht wurde und Priester wurde und ich als sexuell missbrauchter Junge ebenfalls den Gedanken hatte Priester zu werden, wie steht es dann mit all den anderen Männern, die früher Priester geworden sind? Könnte es da einen Zusammenhang geben? Männer die Angst vor Sexualität und oder Frauen haben/hatten, wurden/werden zu Priestern?

    Nach Alice Miller geben wir die Gewalterfahrungen jeweils an die nächste Generation weiter, d.h. sexuell missbrauchte Menschen, missbrauchen später, wenn sie nicht auf jemanden, möglichst in jungen Jahren, treffen, der ihnen zeigen kann, was Liebe wirklich bedeutet, selber andere Menschen, am ehesten schwache oder abhängige Menschen.
    Die Frage ist wie es heute in der/den Kirche/n aussieht? Eigentlich sollten Priester u.a. auch Seelsorger sein. Keinen der Priester und Pfarrer, die ich kennengelernt habe, würde ich selber als Seelsorger bezeichnen. Den einzigen, den ich kenne, ist Eugen Drewermann. In der Gegend, in der ich wohne, beträgt die Wartezeit für einen Platz bei einem Psychologen/Psychotherapeuten ein Jahr.

    Ich habe die 480 Kommentare beim anderen Artikel erst zum Teil gelesen. So weit ich weiß wurde letztes oder vorletztes Jahr die Verjährungsfrist für sexuellen Missbrauch auf 30 Jahre angehoben. Betrifft das nur schwere Fälle und ist das korrekt, dass es die Verjährungsfrist erst ab dem 18.ten Geburtstag losgeht?