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Dieser Artikel ist ein Leserbeitrag im Rahmen der Open-Spreeblick-Aktion.

Das Ende meiner Kindheit

Man munkelte etwas von einem Geheimtipp, damals im Buchladen. Eine britische Autorin, plötzlich erfolgreich mit einem Kinderbuch, diverse Übersetzungen, begeisterte Kundschaft; kurzum, eine Empfehlung für den neunjährigen Jungen, der ich damals war und Harry Potter und die Kammer des Schreckens zum ersten Notenzeugnis in der Grundschule geschenkt bekam. Es war das dickste Buch in meinem Regal. Und das Tollste.

Mein Bettregal. Seinen Zusammenbruch erwarte ich täglich

11 Jahre später bin ich mit der Schule fertig, aber immer noch habe ich ein eigenes Harry-Potter-Regal, direkt über meinem Bett. Die deutschen Titel sind alle dabei, die ersten sogar noch ohne das Harry-Potter-Logo, das erst später erfunden wurde. Ich besitze englische und französische Übersetzungen und sämtliche Filme auf DVD. Ich erwarte täglich, dass mir das Regal auf den Kopf fällt.

Geschmacksverirrungen zur Genüge

Meine Grundschullehrerin ist schuld daran: Sie hatte uns Kinder konsequent an die Potter-Industrie herangeführt. Erst das Einmaleins und danach zur Belohnung eine Runde Harry Potter und der Stein der Weisen, monatelang ging das so. Aus heutiger Sicht eine Erzählung für Kinder mit schrägem Humor, für uns damals ein Buch voller Action und Spannung. Und so fanden dann der unvermeidliche HARRY POTTER™-Bleistift und das HARRY POTTER™-Radiergummi ihren Weg in meine Federmappe. Diese Geschmacksverirrungen gab es zur Genüge, wie etwa auch die unfassbar hässlichen Sammelbilder, die ich neulich beim Aufräumen wieder gefunden habe. Im Unterricht lasen wir in zwangsabonnierten Leselernzeitschriften etwas von einem Film, der gedreht werden sollte.

Das Mitwachsen ist das Geheimnis des Erfolgs, davon bin ich überzeugt. Die Bücher wurden dicker, unsere Lesefähigkeiten besser. Die Filme wurden düsterer, ihre Hauptdarsteller in unserem Alter wuchsen mit uns und dem Gruselfaktor der Handlung. Wir Jungs entdeckten irgendwann, dass Hermine alias Emma Watson ein in jeder Hinsicht äußerst bezauberndes Wesen war. Die Abermillionen, die die Hauptdarsteller dabei verdient haben, kann man Gage nennen. Oder ein Schmerzensgeld für die psychische Belastung, Zaubertränke mischend erwachsen zu werden.

Drehbuch-Inhalation

Inzwischen hat Regisseur David Yates aus Film 8 eher ein abgefilmtes Buch als einen Film gemacht, dabei aber dankenswerterweise die langweiligen Teile gekürzt. Das erinnert dann weniger an einen Actionfilm als das hektisch erzählte Ende eines Dramas. Visuell ist das Ergebnis besonders überzeugend, die 3D-Version aber nur der Mode und den Box-Office-Zahlen geschuldet. Merkwürdig genug, dass Hunderttausende sich Filme ansehen, dessen Drehbuch sie zuvor inhaliert haben. Das ist auch nötig, denn inzwischen ist es für den unvorbereiteten Kinogänger beinahe unmöglich geworden, sich in dem Geflecht aus Figuren und Handlungssträngen zurechtzufinden. Die Strippenzieherin des Wahnsinns: Joanne Rowling.

Die bis zur Unkenntlichkeit wiedergekaute und an dieser Stelle wiederholte Story von der sich reich schreibenden Sozialhilfeempfängerin ist längst eine eigene Legende geworden. Sie ist vor allem romantisch. Den Multimedia-Menschen, die wir Kinder der 90er ja nun mal sind, kommt es geradezu absurd vor, mit Worten auf Papier unfassbar reich zu werden. Wir sind es gewohnt, als kreativ denkende Menschen reflexartig auf unsere dräuende Hartz-IV-Karriere hingewiesen zu werden.

Geschmacksverirrungen, entdeckt beim Aufräumen

Dass jemand trotz alledem solchen Erfolg hat, erscheint uns deshalb umso unfassbarer. Dabei haben wir, die hartgesottenen Fans, mit unser aller Taschengeld dazu beigetragen. Egal ob Hörbücher, Kinokarte, Soundtrack, neues Buch oder DVD, ab einem bestimmten Punkt haben wir bedingungslos zugegriffen (immer um Mitternacht, versteht sich). Es hätte der größte Mist sein können. Wir hätten es trotzdem gekauft, mit einer Ergebenheit, wie nur grenzdebile 15-Jährige sie aufbringen können. Jetzt bin ich ein grenzdebiler 20-Jähriger. Mir geht es nämlich immer noch so.

Von unserer Konsumlaune haben viele andere Autoren des Genres profitiert, allen voran die Amerikanerin Stephenie Meyer, die im Schlepptau ihren moralinsauren Vampir-Quatsch unter die Mädchen bringen konnte. Aber gekauft wurde beispielsweise auch Cornelia Funke mit ihren viel intelligenteren Fantasy-Titeln, die auf der Bestsellerliste der New York Times gelandet sind. Wäre das ohne Harry Potter je denkbar gewesen?

Gesunde Portion Scham

Bei ihm gibt es inzwischen Foren, in denen sie sich über die besten Kopfschmerztabletten für den Zustand nach Non-Stop-Konsum aller Potter-Filme austauschen. Es gibt multinationale Fansites, denen Autorin höchst selbst Rede und Antwort steht. Es gibt eine faneigene Hilfsorganisation namens Harry Potter Alliance, Frame-by-Frame-Analysen der Kinotrailer und mitternächtliche Sondervorstellungen im Kino. Bei früheren Gelegenheiten haben sich die Besucher noch in Umhänge und Spitzhut gehüllt, mittlerweile hat sich in der Kernzielgruppe eine gesunde Portion Scham ausgebildet.

Auch bei mir: Ich studiere jetzt, und das Kapitel Harry Potter ist für mich beendet -– und meine Kindheit damit auch. Es war eine verdammt schöne Zeit.

Theo Müller, 20, Student aus Oldenburg
www.streifkeks.de