Schwitzend und irgendwie auch entkräftet erreiche ich das Abteil. Abteil…früher waren Züge immer in Abteile unterteilt, mittlerweile fährt der Pöbel in Waggons, mit wie an einer Kette aufgereihten Sitzreihen. Vollkommen ausgeliefert ist der Reisende. Schreienden Kindern, schreienden Eltern, Schreienden Greisen. Obwohl der Greis an sich ja eher flüstert. Wie im Wartezimmer eines Arztes sitzen sie da. Mit ihren farblich angeglichenen Jacken und den in Alufolie eingepackten Broten. Meistens bekommt man gar nicht mit, wenn sie sich unterhalten, die Köpfe eng aneinander gerückt. Flüster Flüster.
Ich fahre zum ersten Mal in meinem Leben in der ersten Klasse. Ich schreibe es bewusst aus. Erste Klasse. Die Fahrkarte ist die Eintrittskarte in ein besseres Leben. Welch übertriebene Vorstellungen ich doch von dieser Klasse hatte. Air Condition, stufenlos regulierbar für jeden Sitz. FALSCH! Privatschaffner mit Auszeichnungen, der wie ein Kapitän auf einem Luxusdampfer, Geschichten seiner vielen Reisen erzählt FALSCH! Der Bordbistrobüttel, der an den Platz kommt und einem eine feine Auswahl verschiedener Weinsorten aus der ganzen Welt vorschlägt. Mit Kostprobe versteht sich. FALSCH! Junge Knaben, die einem die Türen zum Abteil öffnen, damit man sich nicht die Finger dreckig macht, an dem vom Prekariat beschmutzen Griffen. Ebenfalls FALSCH!
Dabei fühlte ich mich doch schon am Bahnhof einer besseren Klasse angehörig, als mir schmierige BWL Studenten am FDP Stand kostenlosen Kaffe anboten. „Nein Danke Guido! Da trink ich lieber meinen eigenen Urin, oder kaufe mir wahlweise einen Kaffee am Bahnhofskiosk, als dass ich mir von dir und deinen Schergen gönnerhaft einen ausgeben lasse! Nicht mit mir!“ Wer weiß denn auch, was da drin ist? Womöglich bewusstseinserweiternde Drogen. Beim 3% Stimmungstief traue ich denen ja persönlich alles zu. Das unter Drogen setzen der Bevölkerung? Pah! Ein Kinderspiel! Vielleicht hätte ich auch das eben geschriebene nicht nur denken, sondern auch sagen sollen. Wie triumphal wohl dieser Moment für mich gewesen wäre. Huch, schon im Zug. Schon vorbei.
Klappern tut es an allen Ecken und Enden. Die Klimaanlage, die nur warm, oder sehr warm kann. Die nicht verstellbaren Sitze… Aber man kommt ins Gespräch, wenn man denn will. Gleich am Anfang fragt mich ein sympathischer Mann Ende 30, ob ich denn reserviert hätte. „Ja, das traust du mir nich zu was? Glaubst wohl, du und deine Business Kollegen wären hier schön geschützt, vor den neidischen Blicken der Arbeiterklasse?“
„Wagen 9 Platz 41“ antworte ich stattdessen und wedele dabei mit meinem Ticket. Dabei schaue ich ihn an und merke, dass er es gar nicht so gemeint hat, wie ich es, immer vom abgrundtief bösen im Menschen ausgehend, aufgefasst habe. Tut mir leid, Fremder, erzähle von dir.
Seine Frau und er hatten anfänglich auch eine Fernbeziehung. Er in Hannover, sie in West Berlin. Alle Zwei Wochen haben sie sich gesehen. Sie hatte ein Auto, einen alten, roten Golf, mit dem sie nach Hannover fuhr, das Auto nach dem Wochenende stehen ließ und die Rückfahrt mit dem Zug antrat. So musste immer nur einmal mit dem Zug gefahren werden.
„So MUSS man sich ja sehen“, denke ich. Selbst wenn der eine zweifelt, oder es unpersönlich beenden will. Das Auto muss zurück. Da führt kein Weg dran vorbei.
Am fürchterlich hässlichen „Hundertwasser“ Bahnhof in Uelzen steigt er aus. Jedes mal, wenn ich dort vorbei fahre denke ich „Mensch da muss der gute Friedensreich nen schlechten Tag gehabt haben. Oder hat er sich am Ende für die Bahn des Geldes wegen prostituiert?“ Klar, besser als der Bahnhof in, sagen wir Hopfgarten bei Geithain in Sachsen (ich hab das eben recherchiert) ist er allemal, aber dieses pseudo- Mediterrane. Ich brauch das nich.
„Tschüss, schönes Wochenende und es hat mich gefreut.“ Hat mich gefreut. Das ich auch nie weiß, wann gut is. Das Tschüss und die gut gemeinten Wünsche zum Wochenende hätten doch auch gereicht. Ja gut, er war nett, aber deshalb gleich „es hat mich gefreut“?