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Dieser Artikel ist ein Leserbeitrag im Rahmen der Open-Spreeblick-Aktion.

Die Kunst des Abschieds

Ich hasse Abschiede. Damit meine ich nicht diese Abschiede auf der Straße, nach denen man sich am nächsten Tag ohnehin planmäßig wiedersieht und bei denen sich einige dennoch gebärden, als ginge der andere für die nächsten 30 Jahre in den Dschungel. Ich meine die Abschiede, bei denen die Tür zugeht und man nicht weiß, wann wir uns wiedersehen. Ob wir uns in diesem Leben überhaupt wiedersehen. Es sind diese Abschiede, die eine fatale Mischung aus Melancholie und Weltschmerz auslösen und man kann sich ein Leben nach diesem Tag kaum vorstellen.

Ich habe in den vergangenen Jahren leider mehrere solcher Abschiede erleben müssen. Es wird nicht einfacher, je öfter man es macht. Menschen, mit denen man wunderbare Zeiten verbracht hat, Erinnerungen teilt, von denen man gelernt hat, verschwinden plötzlich. Nicht aus der Welt, aber aus diesem kleinen Universum, das man sich hier aufgebaut hat. Einige habe ich wiedergetroffen, andere bisher nicht. Mit einigen habe ich noch Kontakt, mit der Mehrheit aber nicht wirklich. Es sind Begleiterscheinungen einer Welt, die uns rät, aus Gründen der Wirtschaftlichkeit immobile Güter anzuhäufen, aber gleichzeitig mobil auf Zuruf zu sein und eines Lebensabschnitts, der von vornherein nur auf Zeit gestellt ist. Ich halte den Abschied für eine der schwierigsten sozialen Interaktionen: er kündigt sich meist weit im Voraus an, man versucht sich vorzubereiten, legt sich Worte zurecht und vergisst sie doch unweigerlich wieder, wenn der Moment da ist, weil er so schnell vorbeigeht, dass man es kaum merkt.

Man tröstet sich in solchen Fällen gern damit, dass man ja nicht „aus der Welt“ sei, wie es heißt. Aber das Sprichwort sagt auch „Aus den Augen, aus dem Sinn“ – und daran ändert leider kein Facebook, Telefon und E-Mail dieser Welt etwas. Es gelingt nur selten, intensiven Kontakt zu wahren, mal ganz abgesehen davon, dass man eben doch gern jemanden da hätte, mit dem man essen, belangvoll und -los quatschen, ins Kino und zum Fußball gehen kann. Eben etwas mehr als alle drei Wochen eine Mail oder irgendwann auch mal ein Treffen, so schön und intensiv das dann auch sein mag. Ein anderes Argument ist, dass andere Leute kommen. Stimmt, deshalb halte ich auch nicht viel davon, den alten Zeiten hinterherzutrauern (jedenfalls nicht zu oft), wenn man aus den neuen etwas mindestens genauso Gutes machen kann. Trotzdem fehlt etwas und es braucht Zeit, derartiges wieder neu aufzubauen.

Für den Studenten kommt die Zeit des Abschieds meist am Ende des Sommersemesters, wenn viele ihr Studium beenden, ins Ausland gehen oder man gar selbst an der Schwelle zu einem neuen Lebensabschnitt steht. Das heißt, es ist wieder soweit. Ich gehe fest davon aus, dass es nicht nur mir so geht, sonst würde ich nicht derart öffentlich darüber schreiben und die Spreeblick-Leser damit nerven.

Meine Theorie lautet ja, dass es für die Gehenden immer leichter ist als für die Bleibenden – sie haben eine Perspektive, freuen sich auf das Neue und haben vielleicht auch schlichtweg den Kopf so voll, dass gar keine Zeit zum Traurigsein bleibt. Anders als bei den Hinterbleibenden, die in ihrem gewohnten Alltag feststecken und denen der Reiz der Zukunft meist kaum oder weniger bewusst ist. Aber ein bisschen ungerecht ist es schon, dass es – nach meiner sehr persönlichen Erfahrung – doch scheinbar immer die Besten sein müssen, die gehen, ganz nach dem alten Rock´n´roll-Motto „The best die young“. Denn in der Tat: jeder Abschied ist ein bisschen wie sterben.

Und irgendwann, wahrscheinlich sogar schon recht bald, wird man selbst derjenige sein, der sich nicht nur von einigen, sondern von vielen verabschieden muss, weil er es ist, der wegzieht. Dann werden – hoffentlich – die anderen ihn bitten zu bleiben und diesmal wird er es sein, der sagt, dass es eben jetzt nicht mehr anders geht. Weil das Leben weitergeht, weitergehen muss. Weil man bereit oder vielleicht auch gezwungen ist, den nächsten Schritt zu gehen.

Wie bringt man nun diesen Artikel (der so traurig und pathetisch eigentlich gar nicht werden sollte) zu einem halbwegs versöhnlichen Ende, das die sich ankündigende Depression noch abzuwenden vermag? Vielleicht hilft die Perspektive, dass jedes Ende – so unglaublich kitschig das jetzt wieder klingt – auch ein Anfang ist. Etwas hört auf, um etwas Neues beginnen zu lassen. Es ist im Moment des Abschieds ein schwacher Trost und er nimmt nicht die Angst vor dem Tag, an dem es soweit ist. Aber wenn wir akzeptieren, dass bestimmten Menschen nur eine begrenzte Zeit miteinander gegeben ist, dass das Leben letztlich die Summe seiner Teile ist und dass nach dem Schönen vielleicht etwas noch Schöneres kommt, dann können wir vielleicht auch irgendwann sagen: Es war gut, wie´s war und es ist gut, wie´s ist.