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Dieser Artikel ist ein Leserbeitrag im Rahmen der Open-Spreeblick-Aktion.

Mama anschreien

Das Telefon klingelt in dem extra für Mama und Paps eingestelltem Ton. Düster klingt er. Auf eine klassische Art bedrohlich.

Ich höre Paps Stimme. Er faselt in seinem speziellen Klang irrelevantes Zeugs von Einkauf und Baumarkt. Ich weiß, der Grund seines Telefonanrufes ist ein anderer, für ihn kaum auszusprechender. Mama.  In den Jahren sind meine Antennen feiner geworden, meine Ohren besser, mein Gespür genauer.

Ich fühle, wie krumm er sitzt, die Last auf seinen Schultern zu schwer geworden. Ich höre das leise Durchströmen der Tränenkanäle und wie bissig er schaut, als er es selber bemerkt. Er steht vor dem Fenster, beobachtet die ruhige Straße, wünscht sich etwas, was sich zu beobachten lohnt und Abwechslung samt Ablenkung schafft.  Es passiert nichts.

Beinah beiläufig fallen die Worte Mama, Krankenhaus, Psyche. Ich wusste es.

Automatisch rolle ich die Augen, so wie Eltern ihre Augen rollen, wenn das liebe Töchterchen das dritte Glas Milch in Folge umkippt. Ein lauter Seufz, eine dicke Schwade blauer Dunst entfleucht meiner Lunge. Wut klettert Hand in Hand mit einer kleinen Ratlosigkeit in mir hoch, sitzt auf meiner Brust wie ein fetter, ekelhafter Perversling.

Die Kippe landet, geschickt durch zwei Finger geschnippt in meinem Garten. Während der seichte Sprühregen sie langsam erstickt bevor das saftige Grün die Hitze schmerzvoll bemerkt, ziehe ich mir mit den Zähnen eine weitere polnische Marlboro aus der Box. Meine feuchten Hände fingern in der Tasche meines dicken Mantels nach dem Feuerzeug. Ein tiefer Zug. Dicker grauer Rauch steigt aus mir auf. Innerlich koche ich wie ein alter, schwerer gusseisener Topf voll mehliger, zerfallender Kartoffeln. Der Deckel klappert hoch, stärkegefärbtes Wasser schäumt über, plätschert zischend auf die heiße Platte.

Bemüht um Ruhe, schreie ich Paps an. Wirre Worte gepaart mit widerlichem Nikotindunst aus meinem sonst so gewandten Mundwerk schwappen durch die Leitung, treffen auf die alten, sensiblen Ohren eines einsamen und verzweifelten Mannes.

„Stur bist du! Ich habe dir gesagt, lass sie nicht alleine zu der Alten fahren. Ich habe dir angeboten die Hunde zu nehmen, damit du hinterher fahren kannst. Mach verdammt ein einziges Mal die Goschen auf und sag was! Wo ist deine Meinung? Hast du eine? Sag sie! Ein viertel Jahr „Kur“, wie sie es nennt, kaputt gemacht innerhalb drei Tagen! Wo warst du?! Mama hätte niemals zu Ihrer Mutter fahren dürfen. Zurückgeworfen in die Vergangenheit, die sie in die Psychiatrie gebracht hat! Wieso siehst du nur zu? Wieso kannst du nicht einmal, ein verdammtes Mal hören, was ich sage!? Jetzt hat sie diese gottverdammte Hure von Mutter sterben sehen. Alleine geweint und getrauert um einen Menschen, der mir meine Mama genommen hat! FUCK.“

Ich bekomme eine stumme Antwort. Ein Knacken in der Leitung und ein kaum hörbares Luftausstoßen verraten ihn. Er wusste es. Vielleicht noch vor mir. Respektiert ihren Willen und handelt nach ihren abstrusen Wünschen. Nicht vorstellbar.

Ich schäme mich. Wiedermal habe ich geschrien. Habe meiner Wut Luft gemacht und direkt einen schweren Stapel auf die, auf dem krummen Rücken meines Paps lagernden Lasten geschmissen. Da liegen Sie nun drohend schwankend obenauf, noch warm wie ein großer frischer Haufen Scheiße. Volle Konzentration, sie zu halten, wie ein junges afrikanisches Buschmädchen was zum ersten Mal einen Wasserkübel auf dem Kopf balanciert. Wasser ist rar und kostbar, verliere es nicht. Nicht einen Tropfen. Auch Paps wird nichts von seinen Lasten verlieren, wider der Kostbarkeit. Verlorene Tropfen liest er sorgsam wieder auf, legt sie auf seine Schultern, weigernd auch nur einen davon anderen Schultern zu überlassen.

Auf den nassen Stufen sitzend, spüre ich Kälte meinen Rücken hochkriechen. Kalter Nacken, heißer Kopf, pappiger Mund. Die Bierflasche verliert zischend ihren Kronkorken. Kühl sprudelt der Durstlöscher meine Kehle hinunter, sammelt sich in einer großen Pfütze meines  schweren Magens. Betäubt den Klumpen, den ich seit Jahren dort spüren kann. Manchmal stark, groß wie ein Fels. Manchmal klein, leicht und nahezu irrelevant wie ein Sandkorn. Noch ein Schluck, noch eine Zigarette. Künstliche Ruhe macht sich breit, legt sich über mich wie ein dunkles Tuch in einer sommerhellen Nacht.

Es folgt ein kurzer Plausch. Kind, Haus, Mann, Job. Alle vier verlangen viel Arbeit und Mühe ab. Nicht einfach zu handeln in diesen Zeiten. Klick.

Ein großer Schluck, ein tiefer Zug. Ein vertrauter Arm legt sich schwer um meinen Hals, zieht mir mit großen, starken, rauen Händen die Kapuze über die nassen Haare. „Du hattest wieder Recht?“ fragt mich die dunkle, basslastige Stimme, beinah wie aus dem Off. Nickend schweifen meine Gedanken in meinem noch immer viel zu heißen Kopf ab.

Ich denke an mein Kind. Wie sehr ich sie liebe, wie sehr ich ihr eine bunte Kindheit geben will, an die sie sich später erinnert und Tränen dabei lachen muss. Verwöhne ich sie? Bin ich zu spendabel? Zu nachgiebig? Zu streng? Zu lieblos? Zu bemutternd? Alles? Nichts?  Für sie, für ihre Kindheit, für ihr Lachen, gebe ich alles. Ich trage, renne, beiße, kämpfe, töte.  Eine schützende Mutter; das wildeste und gefährlichste Tier.

Mama ist nicht wild. Nicht gefährlich. Erst recht kein Tier.

Neue Kippe anzünden, rauchen. Gerne möchte ich mehr trinken. Habe ich gesprochen, nicht gedacht? Eine grüne Flasche mit dem bitteren Getränk wird mir in einer dieser haltenden Hände angereicht. Dankend nehme ich sie und sauge sogleich an dem kalten, feuchten Flaschenhals. Erneut genieße ich das kühle Ankommen der erfrischenden Flüssigkeit in meinem leeren Magen. Fühle wie der harte Brocken aus Griesgram und Wut umspült und narkotisiert wird.

Die Erinnerungen meiner Kindheit sind rar gesät. So wenig. Warum sind es so wenige, so kleine Erinnerungen, die ich hervorrufen kann? Die Gedanken fühlen sich blau an. Hell, schön, auf eine Art beduselt, mal kalt, mal warm. Wie Wasser – so schön, so wichtig, so gefährlich. Fehlt was? Was denn?

Die Zigarette ist ausgebrannt, die Flasche fast leer. Wunderschöne blaue Augen, umrandet mit einem dichten schwarzen Wimpernkranz schauen mich an. So sanft. So voll Liebe. „Pink mit Glitzer“ antwortet die zarte bassbesaitete Stimme sofort auf die Frage nach der Farbe der Kindheit. Komisch. Ich, aus wohlhabendem Hause, aufgewachsen in einem intakten Elternhaus; Er aus einem Billiglohnland, ausgewandert in die Fremde mit Arbeitereltern, auf der Suche nach einem Leben wie das meine. Kind einer Scheidung in der Mitte seines Lebens. So unterschiedlich wir sind. So unterschiedlich sind wir.

Mama hat mir die Frage nach der Farbe nie beantwortet. Aber ich weiß es. Es gibt keine. Sie kann keine Farbe sehen. Es gibt keine keine-Farbe.

Ich merke wieder Wut. Unverständnis und auf eine wahnwitzige Art auch Glück. Ein erneuter Versuch, alles zu betäuben. Trinken und Rauchen. Ich will reden Mama. Will dir von meinen Gedanken erzählen und dir Vorwürfe machen. Anschreien! Ich weiß, sie würde es nicht ertragen. Es wäre für sie der letzte Schimmer von Licht, den ich ihr nehmen würde und direkt wieder auf Paps voll gestapelten Rücken legen würde. Er trägt was er kann, sammelt auf und klebt notdürftig Scherben von dem, was Mama bei ihrem Sturz hat liegengelassen. Unbeachtet, welch Wichtigkeit sich dahinter verbirgt. Ich weiß es. Also schweige ich, nur um ab und zu auszubrechen, zu rauchen und zu trinken.

Erneut nehme ich das Telefon zur Hand und wähle die bekannte Nummer. Ob er mich auch am Klingelton erkennt? Wie er wohl klingt? Meine Gedanken werden von einem kurzen Knacken und einem rauen Gemurmel unterbrochen.

„Paps. Es tut mir Leid“

Klick