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Dieser Artikel ist ein Leserbeitrag im Rahmen der Open-Spreeblick-Aktion.

Erstarrt

Da stand er nun.

Unfähig auch nur einen Schritt weiter zu laufen, stützte er seine Hände in die Hüfte und atmete tief durch. Sein Sprint das Bahngleis entlang, die größte körperliche Anstrengung seit Monaten, war letztlich vergeblich gewesen, denn der Zug, in dem er jetzt eigentlich sitzen sollte, bog schon in der Ferne um die Ecke und entzog sich seinem Blick. Wieder etwas bei Kräften, schlurfte er am vergilbten Bahnhofsgebäude seines Heimatstädtchens vorbei und ließ sich auf einen Stuhl im nahen Café fallen. In seinem Kopf spielten sich die unterschiedlichsten Hinrichtungsszenarien ab, stets in der Hauptrolle: Sein Chef, der schrecklich von ihm enttäuscht sein würde, da er das Treffen mit dem möglichen Partnerunternehmen verpassen würde. Gestresst tippte er eine kurz angebundene Erklärungsmail in sein Smartphone – vor einem Anruf hatte er tatsächlich Angst. Nervös rieb er sich seine schwitzigen Hände immer und immer wieder an der Hose ab, als er so da saß – taten- und antriebslos. Vielleicht sollte er noch einmal die Präsentation durchgehen? Vielleicht könnte das Meeting ja verschoben werden? Vielleicht war er noch zu retten? Der nächste Zug würde in zwei Stunden kommen und ihn endlich aus diesem Kuhkaff, das einmal sein Zuhause gewesen war, befreien. Diesen Routinefamilienbesuch, nur um sich blicken zu lassen und die Eltern zufrieden zu stellen, hätte er sich wirklich sparen sollen. Während es so in ihm brodelte, schweifte sein Blick ziellos in der Umgebung umher – und blieb an einem kleinen zerfallenen Häuschen neben der Bahnunterführung  hängen. Es stach für ihn unschön aus der Masse der Glasfronten der umgebenden Neubauten heraus, doch als er das Gebäude mit dem löchrigen Flachdach und der grauen Fassade, an der sich schon größtenteils die Farbe gelöst hatte, länger betrachtete, erwachte in ihm ein seltsam vertrautes Gefühl. Die Menschenmasse, die auf dem Trottoir beständig an der Baracke vorbeilief, verschwamm vor seinen Augen zu einem grauen Schleier und plötzlich öffnete sich das große Frontfenster der Hütte, ein alter Mann stand darin, mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht, das über sein Alter hinweg strahlte, und einer alten Marineuniform, die ein einziger Flickenteppich war. Die Kirchturmuhr schlug gerade zehn – natürlich öffnete da Seemann Sam sein Kiosk. Sein erster Kunde nahte auch schon, ein kleiner Junge mit einer neongrünen Jacke schlenderte verträumt darauf zu und blieb vor dem Fensterbrett stehen. Zwar konnte er nicht in das Kiosk hineinsehen und die einzigartige Auswahl an Süßigkeiten und Leckereien betrachten, doch das war gar nicht nötig, denn es genügte ein kleines „Hallo“ und ein schüchternen Blick in Seemann Sams Gesicht und dieser wusste sofort, dass er dem Jungen einen bunten, schneckenförmigen Erdbeerbananelollipop zu überreichen hatte. Ungläubig verfolgte der Jungmanager diese Szene, das Häuschen strahlte ihm mit einem Male in diesem so bekannten Orange entgegen, als der kleine Junge glücklich an seinem Lolli leckend weiter die Straße entlangging, um in der Masse zu verschwinden. Schon erschien der nächste grüne Farbkleks, wieder eine Jacke, dieses Mal von einem langhaarigen Jugendlichen getragen. Das leuchtende Orange war einem Beige gewichen und Seemann Sams Lächeln zuckte nur kurz über seine Lippen, als er den Jugendlichen begrüßte. Er drückte ihm die Tageszeitung in die Hand und während der Junge sie aufschlug, begann Seemann Sam schon mit wilden Thesen gegen die Regierung um sich zu schmeißen. Der Junge blickte von der Zeitung auf und begab sich in die unsicheren Gewässer einer Diskussion mit dem alten Seebären. Am Ende schwiegen beide, brachen dann in Lachen aus und verabschiedeten sich freundschaftlich winkend – da regte sich etwas auf dem Stuhl im Café. Tief drinnen, in seinem ausgelaugten Arbeitsweltkörper, unter der dünnen äußeren Schicht, die die letzten Jahre immer so hervorragend funktioniert hatte und eine Beförderung nach der anderen eingebracht hatte, brach das Gestein, das er so fest hatte pressen lassen, auf und eine unbeschreibliche Wärme durchfloss seinen Körper, zauberte ein Lächeln in sein Gesicht und als der Jugendliche verschwunden war und Seemann Sams Kiosk wieder grau und zerfallen da lag, ließ diese Wärme eine kleine Träne über seine Wange kullern. Ruckartig schreckte er aus seinen Tagträumen auf, als die Turmuhr zwölf schlug. Die Pflicht rief nach ihm, er hatte noch sieben Minuten, das wusste er, allerdings fühlte er sich nicht im Stande sich von diesem Stuhl mit dem flauschigen Kissen zu erheben. Er wollte auch nicht seinen Blick vom alten Kiosk abwenden und schon gar nicht sein gerade wiederentdecktes Zuhause verlassen. Sein Smartphone vibrierte – eine Mail vom Chef: das Meeting sei bisher gut verlaufen, um drei sei die nächste Sitzung, er rechne mit seiner Anwesenheit. Sofort spürte er diese Last, die sich auf seinen inneren Stein setzte und die Risse zusammen zu pressen versuchte.

Das Gesicht im Kragen seiner grünen Jacke vergraben, wartete er auf seinen Zug. Langsam fuhr dieser ein und in den Fenstern sah er sein Spiegelbild: Ein junger Mann, Anfang 30, tief unterlaufene Augen, von Stress und Müdigkeit gezeichnet, der fragend und unsicher blickte. Schließlich hielt der Zug, sanft glitten die Schiebetüren beiseite und offenbarten einen dunklen Schlund.

Da stand er nun.