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Dieser Artikel ist ein Leserbeitrag im Rahmen der Open-Spreeblick-Aktion.

Stochern im Nabel: Das Internet, Real Life und Befindlichkeiten

Real Life, vom Internet aus gesehen

Real Life, vom Internet aus gesehen

 

Computer und Waschmaschinen lösen Probleme, die wir ohne sie nicht hätten. Da digitaler Kulturpessimismus gerade groß in Mode ist, variiere ich: Auch das Internet löst vor Probleme, die wir ohne es nicht hätten. Sicher, das Netz spart unglaublich viel Zeit und Geld. Google Maps ist so viel praktischer (und preiswerter) als eine Sammlung Stadtpläne aus Papier. Interessieren wir uns für ein Thema, fragen wir den großen Bruder Suchmaschine, der so gut wie immer wissenswertes auszuspucken weiß. Wissen wir erst einmal, welches Modell eines Telefons, Kaffeeautomaten oder Teilchenbeschleuniger wir uns kaufen wollen, sagt uns die Preissuchmaschine, wo wir es am billigsten bekommen. Egal ob wir eine Ferienwohnung suchen oder einen Partner: Das Netz weiß, wo wir etwas finden und andere sagen uns, wie sie es finden.

Seltsam nur: Wir verbringen mehr Zeit im Netz, als wir einsparen – erheblich viel mehr Zeit. Das fängt schon bei den sozialen Netzwerken an: MySpace ist wahlweise tot oder eine Vermarktungsplattform für Musikanten, Twitter eher asoziale Aphorismenschleuder denn soziales Netzwerk (und genau dafür liebe ich es) oder eben Facebook: Es verdammt mich dazu, das Sozialgeflecht meines Alltags im Netz abzubilden. Während aber Kumpel K. beim gelegentlichen Bierchen ein angenehmer Zeitgenosse ist, nervt er auf Facebook mit Farmville-Schweinchen, Glückskeks-Weisheiten und Einladungen zum Online-Poker. Wäre es nicht für alle Seiten angenehmer, wenn ich meinen Umgang mit ihm auf das genannte Bierchen beschränken würde? Nur kann ich ihn nicht entfreunden – er wäre selbstverständlich beleidigt.

Facebook-Freunde sind also keine echten Freunde, aber eben auch keine falschen. Ich möchte nicht wissen, wie viele meiner Leser, die mir wegen gewisser Inhalte folgen, meine Katzenbilder hassen. Und umgekehrt. Meine Angewohnheit, beim Heavy-Metal-Bäcker zu frühstücken, kennen mittlerweile die meisten und ist doch völlig irrelevant. Google bietet neue Lösungen auf neue Probleme, indem alter Wein aus alten Schläuchen eingeschenkt wird – die sozialen Gruppen, in denen wir verschiedene Rollen einnehmen, leben auf, indem wir Menschen in verschiedene Kreise einsortieren. Algorithmusgewordenes Schubladendenken. Für die Kollegen nur noch Fachartikel und harmlose Katzenbilder; Politik für Freunde und gerade eben noch für die Familie; schmutzige Witze, die unverblümte Meinung und der ganze wirklich interessante Kram nur für die vorher zurechtgestutzte Kreis-Öffentlichkeit – Hauptsache, der bürgerliche Name steht dran.

Ich fürchte, Social Media funktioniert nicht wie gedacht. „Ist die Nachricht wichtig, wird sie mich finden“, hieß es mal – tatsächlich erreichen einen nur sehr wenige Nachrichten, wenn man sich ausschließlich auf persönliche Kontakte verlässt und was die so twittern oder bei Facebook veröffentlichen. Wir leben nicht nur in einer Blase gleichgesinnter – wir leben in einer Blase der Irrelevanz. Das ist aber egal, weil letztlich das relevant ist, was uns interessiert. Dummerweise möchte aber die Gesellschaft ein Wörtchen dabei mitreden, was uns zu interessieren hat.

Schriebe ich, „Ein Leben ohne Fußball ist möglich aber sinnlos“, dann wird der Fußballhasser still den Kopf schütteln und für sich denken: noch so ein Idiot halt, aber sonst nicht viel dazu sagen. Fußball ist schließlich eine gesellschaftlich anerkannte Leidenschaft. Ich schrieb aber „Ein Leben ohne Twitter ist möglich aber sinnlos“ auf Google+ und konnte schon vorher sicher sein, den einen oder anderen empörten Kommentar zu ernten. Die Leidenschaft für eine Sache wird da gerne mal als Lebensdefekt gesehen. Ob ich es amüsant oder traurig finde, mit so einfachen Mitteln noch trollen zu können, entscheidet da bloß die Tagesform.

Dabei haben wir uns uns schon jetzt in eine zivilisatorische Abhängigkeit vom Internet begeben, die von den meisten Abhängigen, die das Internet nicht aktiv zu nutzen glauben, dumpf geahnt wird. Reagiert wird mit einer diffusen Angst vor dem Netz, ganz als ob wir nicht schon lange von vielen anderen Infrastrukturen abhängig wären, ohne dass uns das stört. Eine Ergänzung der Infrastruktur wird offenbar erst dann als Segen empfunden, wenn sie nicht mehr neu ist.

Aber zurück zur Abhängigkeit: Ist es eine Sucht oder eine Lebensform, wenn zum Beispiel Michael Seemann – für wenige Tage ohne sein iPhone – beschreibt, wie seltsam sich das anfühlt, ohne das Ding in der Hand über die Straße zu gehen und beim Bräter Burger zu ordern, während er Menschen beobachten muss ansatelle seiner Timeline – und dass ihn das langweilt? Wir brauchen also Dating-Seiten, weil wir der Liebe unseres Lebens ziemlich sicher nicht im Waschsalon begegnen werden, wenn wir wir dort nur in unsere Laptops starren statt in den Ausschnitt der hübschen Wartenden gegenüber? Das Internet gibt vor, Probleme der analogen Alltagswelt zu lösen, löst aber anscheinend vor allem doch diejenigen, die wir ohne es nicht hätten.

Natürlich spiele ich Advocatus Diaboli. Ich glaube das selbstverständlich gar nicht, was ich da oben schreibe. Das Internet ist mein Lebensraum, in dem ich mich ausgesprochen wohl fühle, und ich kann einfach nichts verkehrtes daran entdecken. Zumal es so etwas wie eine Grenze oder Unterschied zwischen „realem“ und „virtuellem“ Leben nicht gibt. Trotzdem habe ich keine „echte“ Antwort auf den Vorwurf, das sei doch alles gar nicht „echt“ und halte vom Leben ab – außer dass ich anders empfinde. Empfinden ist immer subjektiv.

Emotionale Verbundenheit zum Netz – die gleiche Befindlichkeit wie bei einem Bahnhof? Und, lieber Leser, wie empfinden Sie?