11
Dieser Artikel ist ein Leserbeitrag im Rahmen der Open-Spreeblick-Aktion.

Warum du um 8:28 einen Beitrag für Spreeblick schreibst

Wir kennen uns noch nicht. Ich gehe jedenfalls davon aus. Da ich mich zum ersten Mal mit Spreeblick auseinandersetze. Wobei, ich kann mich dunkel erinnern, schon mal einen Kommentar verfasst zu haben. Aber mehr war nicht. Gut. Kommen wir zum Punkt. Es geht darum, warum ich am frühen Morgen einen Beitrag hier schreibe. Habe ich etwas Wichtiges zu sagen? Bin ich überhaupt jemand, der Wichtiges zu sagen hätte? Haha. Wir sind im Internetz. Jeder darf sagen, was er will. Das ist gut. Das ist schlecht. Gut für mich, weil ich mir nun Vieles von der Seele schreiben kann, schlecht für dich, weil du dich jetzt fragst, was ich hier verdammt noch mal zu suchen habe und warum ich dir deine Zeit stehle. Ja, gute Frage. Wirklich.

Ich bin schon viel herumgekommen, in den virtuellen Welten und habe allerlei soziale Netzwerke ausprobiert. Mein eingehender Erfahrungsbericht liegt erst ein paar Tage zurück und wurde unter dem klingenden Titel auf meinem Blog veröffentlicht: Über Trotteln und Trantüten oder Warum dich Facebook depressiv macht und Google+ dich befreit. (link) Wer keine Zeit hat, diesen langen Beitrag zu lesen, und wer hat heutzutage überhaupt noch Zeit?, dem kann geholfen werden, in dem er oder sie oder es einfach weiterliest. Das kostet zwar auch Zeit, aber ich hoffe, weniger.

Bevor ich ins Detail gehe, muss ich mich vorstellen. Ich heiße Richard K . Breuer und bin ein Wiener Autor und Schriftsteller. Wenn Sie jetzt mit der Achsel zucken und murmeln Wer?, dann ist es nur ein weiterer Beweis, dass man auch durch soziale Medien seinen (geringen) Bekanntheitsgrad kaum über den allseits bekannten Tellerrand steigern kann. Gestern ist es mir wieder aufgefallen, worin das soziale Netz krankt und Kopfweh verursacht. Bei mir jedenfalls. Also, ich habe ein „privates“ Facebook-Profil mit genau 700 „Freunden“. Die Anführungsstriche („“) sind von zentraler Bedeutung. Ich habe nämlich kein privates Facebook-Profil, genausowenig wie ich 700 wirkliche Freunde habe. Gut, das liegt freilich auf der Hand, wir wissen, dass gerade diese kreativ selbstständige Meute (Autoren, Musiker, Designer, Fotografen, Texter, Grafiker, Schauspieler, Regisseure, Maler, Künstler usw. und so fort) und der nervig kreative Haufen (SEO-Typen, Manager, Werbeleute, PR-Sippe usw. und so fort) alles tun, um Aufmerksamkeit und Klicks zu generieren. Wer sich ein wenig im Netz tummelt, merkt bald, dass es wie auf einem Markt zugeht. Jeder preist sich an. Jeder drängt sich in den Vordergrund. Der eine laut, der andere leise. Aber es geht nun mal darum, wahrgenommen zu werden. Vermutlich nicht anders wie im echten Leben. Echtes Leben? Ach ja. Das gibt es auch noch. Man hört davon.

Vermutlich wissen Sie, worauf ich hinaus will, oder? Viel eher stellen Sie sich jetzt die Frage, warum ich Sie plötzlich sieze, während ich Sie noch im ersten Absatz gedutzt habe. Gute Frage. Sagen wir, dieses Sie ist irgendwie ernsthafter und distanzierter. Auch wenn wir hier auf Spreeblick vermutlich eine lockere Gemeinschaft von jungen Leuten sind. Hm. Eigentlich ist ja das ganze Netz eine Anhäufung von jungen und lockeren Leuten. Angeblich.

Kommen wir nun wieder zurück. Zu meiner gestrigen Eingebung. Also, ich habe ein „privates“ Facebook-Profil mit 700 „Freunden“. Gut. Seit rund einer Woche habe ich auch für mich eine Fan-Page (Seite) angelegt, auf der sich gerade mal 55 „Fans“ tummeln. Der Versuch, „Freunde“ auf zuvorkommende Weise auf die Seite zu locken, kann als mühsam und schwierig bezeichnet werden und ist sicherlich ne Untertreibung. Ich will jetzt nicht zu sehr in die Details gehen, aber Facebook hat es gut verstanden, unbekannte Kreative auch unbekannt bleiben zu lassen. Nur Marken und berühmte Persönlichkeiten sind im Kopf der Leutchen und deshalb klicken diese Leutchen auf alles, was sie kennen und schätzen oder anhimmeln. Damit ist auch schon gesagt, dass man mich weder kennt, vermutlich nicht sonderlich schätzt und natürlich nicht anhimmelt. Mit anderen Worten: das soziale Netz spiegelt nur die reale Welt wider. Das getraut sich freilich keiner sagen, der etwas zu sagen hätte. Weil es darum geht, die Illusion aufrechtzuerhalten. Die Leutchen sollen glauben, dass durch das Web und das soziale Netz eine Gleichheit und Freiheit und Brüderlichkeit entstanden ist. Wem das jetzt bekannt vorkommt, der hat im Geschichtsunterricht gut aufgepasst.

Die soziale Revolution im Netz hat (noch?) nicht stattgefunden. Der Kommerz-Gedanke (Was bringt es mir?) nimmt stetig zu. Das Prostituieren ist allgegenwärtig. Keiner weiß, ob man dir nicht etwas verkaufen will. Nehmen wir diesen Beitrag. Ist er geschrieben, um einen kritischen Blick auf die soziale Komponente des Webs zu machen? Oder doch nur, um mich in den Vordergrund zu spielen und Ihnen – hübsch dezent, also unterschwellig – meine Bücher unter die Nase zu halten? Und falls Sie diesen Beitrag kommentieren und dabei auf ihre Webseite verweisen, ist es, weil Sie etwas zu sagen haben, oder doch nur, um andere auf Ihre Webseite zu lotsen? Und möchte die Mannen von Spreeblick nicht durch die von den Lesern geschriebenen Beiträge neue Leser anziehen? Immerhin werde ich in meinem Blog und in meinen Medien-Kanälen einen Link auf diesen Beitrag setzen. Also, warum schreibe ich diesen Beitrag? Und warum wird er hier veröffentlicht?

Ja, je länger ich mich im sozialen Gefüge aufhalte, umso mehr wird mir die Schieflage des Systems klar. Es erinnert an myspace. Gestern habe ich wieder einmal einen Blick auf mein Profil geworfen, das ich sicherlich schon seit gefühlten Jahren nicht mehr gesehen habe. Als ich mir damals im weltweit größten Netzwerk der Welt ein Profil erstellte, war es mit dem Gefühl verbunden, ich würde jetzt zu einer großen Gemeinschaft gehören. Jeder würde mit jedem wollen. Gut, zugegeben, die Suchfunktion (Alter, Single, Geschlecht – mit kleinem Foto) lud einem förmlich ein, nach attraktiven Menschen Ausschau zu halten. Kein Wunder, dass viele User Allergisch auf Anfragen des anderen Geschlechts reagierten und man(n) sich alsbald schäbig und letztklassig vorkam, wenn man doch nur ins nette Gespräch kommen wollte. Naja. Damals war myspace der Wilde Westen der sozialen Netzwerke. Alles war erlaubt, bis es verboten wurde. Seien wir ehrlich, die jungen Leutchen waren damit allesamt überfordert. Ja, man bemerkte bald, dass ein System mit Freiheit und Gleichheit und Brüderlichkeit eine Menge an Spamern und Möchtegern-Celebritys und nervigen Idioten anzog wie Motten das Licht (sic!). Deshalb scheiterte am Ende myspace. Ruhe es in Frieden.

Facebook ging genau in die andere Richtung. Starr und steif präsentiert es sich. Während myspace den Wilden Westen repräsentierte, ist es bei Facebook das machiavellische  Italien der Renaissance, wo keiner dem anderen über den Weg traut und man sich Tricks und Kniffe überlegt, andere in seinen „Machtbereich“ zu locken. Und Google+? Ist die USA, nach dem sie sich von der Englischen Krone befreit und die Konstitution eingeführt haben. Die Siedler und Bürger wissen, worum es geht, sie sind Fremden gegenüber interessiert und aufgeschlossen. Ja, man spürt eine Aufbruchstimmung. Es wird ernsthaft diskutiert, wichtige Themen verhandelt. Klingt puritanisch. Ist es vielleicht auch. Diaspora*? Ist eine Insel, bevölkert von allerlei interessanten Menschen, die sich Gedanken machen und die Welt zum Guten ändern wollen – was durchaus nicht ungefährlich ist.

So! Jetzt ist bald eine Stunde um. Ich denke, ich sollte zu einem Ende kommen und die Frage im Titel beantworten. Damit würde ich einen Kreis schließen. Und das ist ein gutes Zeichen. Wirklich. Also, warum habe ich um 8:28 einen Beitrag für Spreeblick geschrieben?

Weil ich es kann!