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Train of thought


Hat nichts mit diesem Post zu tun, ist aber grandios: Hollie McNish via Upworthy.

Letzten Samstag in Kreuzberg, die wenigen und vor allem seltenen Sonnenstrahlen werden vor einem Café genossen. Links zieht in einiger Entfernung eine rot-weiße Flaggen schwenkende Demonstration von dannen, ich sehe nur noch den polizeilichen Abschluss, vielleicht ist es eine Solidaritätskundgebung zu den Protesten in der Türkei, ich weiß es nicht. Rechts, am Görlitzer Bahnhof, zieht die Blockupy-Bewegung vorbei – oder alle, die sich irgendwie dazu zählen. Im Café ist es gleich auf Großbild soweit, eines dieser anscheinend jetzt wöchentlich stattfindenden und immer von Bayern München gewonnenen Fußball-Endspiele findet statt, der vollbesetzte Tresen bestellt ein Bier nach dem anderen.

„Brot und Spiele“ kommt mir in den Sinn. Um dann auch eines zu bestellen.

Ich bin allein, doch auf dem kleinen Monitor meines unfair produzierten Taschencomputers donnern die Tweets und Facebook-Meldungen rein, in Frankfurt wird gekesselt, dabei dachte ich, das wäre seit vielen Jahren verboten. Der Abend wird später, die Berliner Demos sind woanders angelangt und Bayern wird wieder gewinnen, die Berichte aus Frankfurt sind beinahe so unfassbar wie die aus der Türkei. Das Hochwasser scheint zum ernsthaften Problem zu werden.

An diesem Abend wie an den folgenden Tagen überfliege ich die Nachrichten der großen Medienhäuser, verschlinge aber die Augenzeugenberichte aus Frankfurt und Istanbul. Ich beobachte, wie sich Hochwasser-Helferinnen und -Helfer über Facebook organisieren, verfolge die Debatten um die Echtheit verschiedener Bilder und Berichte aus der Türkei und ich denke darüber nach, wie sehr sich mein Medienkonsum innerhalb des letzten Jahrzehnts gewandelt hat, wie sehr ich einem einzelnen Blog-Post, einer Facebook-Debatte, einem einzelnen Tweet mehr Beachtung schenke als der fast überall gleich lautenden Presseagenturmeldung.

Dabei glaube ich weniger, seit ich das Internet kenne, nicht mehr. Ich zweifle jedes YouTube-Video an, das sowohl Augenzeugenbericht als auch Propaganda sein kann, mir ist bewusst, dass jeder ein Tumblr-Blog aufsetzen kann, ich weiß, dass Bilder leicht zu manipulieren sind. Ich kenne großartige Journalisten, ich weiß aber auch, wie Redaktionen funktionieren, und ich bilde mir ein, die Echtheit im Ton eines wütenden Bloggers zu erkennen, der mitten in der Nacht seine erschütternden Erlebnisse in die Tastatur hackt. Und klar – man kann viele Fotos fälschen. Aber nicht alle.

Die Kanzlerin wird Gummistiefel tragen, denke ich irgendwann, aber sie wird kein Wort über Frankfurt sagen. Ich erinnere mich an Merkels aktuelle Wahlversprechen, an die bisher unbeantwortete Frage nach der Finanzierung dieser und daran, wie mein Sohn neulich beim Zahnarzt doch noch länger auf dem Stuhl warten musste, weil im Behandlungsraum nebenan ganz unerwartet noch ein Privatpatient aufgetaucht ist – was die Praxishelferin dem Arzt genau so zugeflüstert hat. Ich denke an viele alltägliche Dinge, die in keinem Zusammenhang zu stehen scheinen, wie die sich häufenden und teils drastischen Berichte über Polizeikontrollen bei Fahrrad- und Autofahrern in Berlin oder privatisiertes Wasser oder die Einstellung des Fachs Informatik in Hamburg oder den NSU-Prozess und manchmal denke ich auch ganz kurz an de Maizière.

Demokratie ist wirklich eine sehr fragile Sache, denke ich dann noch. Merkwürdig, dass oft genau diejenigen so unvorsichtig mit ihr umgehen, die durch sie an die Spitze gelangt sind.

(Auf Indiegogo wird für eine ganzseitige Anzeige gesammelt, die in der Washington Post oder der New York Times erscheinen soll, um zu erklären, was in der Türkei passiert. Innerhalb von einem Tag kamen die nötigen 50.000 Dollar zusammen, derzeit sind schon über 80.000 im Topf. Über das Design der Anzeige kann man hier abstimmen, was mit dem restlichen Geld passieren soll, wird auf reddit diskutiert. Völlig absurd an der grundsätzlich tollen Aktion ist natürlich, dass man 50k auf den Tisch legen muss, um ein möglichst medienwirksames Statement abgeben zu können.)

9 Kommentare

  1. 01
    nïkö

    johnny: volltreffer! – ich hab zwar kein fußball geguckt sondern bandgeprobt, aber irgendwie genauso und mit ähnlichen gedanken gehts mir auch grad!
    (immerhin kam grad die schöne nachricht rein, daß das fairphone wirklichkeit wird)

  2. 02
    Andreas

    Johnny: vielleicht ist das ja auch der Moment, den es brauchte, um Dich dazu zu bringen, diesem Blog nach frühen Jahren des Erfolgs und darauf folgender, gefühlter Sattheit und Irrelevanz wieder zu mehr Relevanz zu verhelfen und Dich wieder öfter solch wichtigen Themen zu widmen anstatt Dich selbst im Kreis von Musik-Youtube-Videos und irgendwie ja doch nur halb gesellschaftlich relevanter re:publica-Berichterstattung zu drehen. Um wieder Dinge zu bewegen. Siewissenschon.

    Disclaimer: ja, ich weiss, früher war mehr Konfetti. Und überhaupt. Aber dennoch.

  3. 03

    @#813041: Ich verstehe deinen Kommentar als sehr nett, also versteh‘ mich jetzt bitte auch nicht falsch, aber …

    Deine Sätze könnte man auch als ziemlichen Schlag ins Gesicht deuten. Denn was, glaubst du, bewegt mehr: Eine Konferenz mit 450 Sprecherinnen und Sprechern aus aller Welt und bundesweiter Berichterstattung über die Themen, oder das ein oder andere Blog-Posting hier?

    Auf der rp kannst du die Leute treffen und sprechen, über die ich hier aus meinem sicheren Sessel nur schreibe. Und YouTube und nur halb gesellschaftliche Relevanz? Das sehe ich sehr, sehr anders. Der Text hier hätte eine komplett andere Reichweite, wenn ihn ein junger Mensch in eine Kamera gesprochen hätte.

  4. 04

    Ja, so oder so ähnlich habe ich die letzten Tage auch erlebt.
    Diese ermüdend dauersiegenden Bayern, das spätherbstliche Frühsommerwetter und die Proteste in Frankfurt und Istanbul. Und nein, wir müssen nicht mit dem Finger auf die Türkei zeigen, wenn wir Demokratiedefizite anprangern wollen, hier in unserem Land werden von unserer Regierung und ihren Erfüllungsgehilfen in Uniform die Menschenrechte mit Füßen getreten. Aber solange es im Osten weiter regnet und die Kanzlerin einen auf Hilfe machen kann, wird das wohl die Wahl im Herbst nicht entscheiden. Das macht mich hilflos und wütend!

  5. 05
    Frank

    Also gibt man 50.000 Dollar aus, um old-fashioned eine Zeitungsanzeige zu schalten? In einem Medium dessen verdammte Pflicht es sein sollte sowieso unabhängig darüber zu berichten? Unddann in einer Gestaltung, die sowieso nicht beachtet wird? Ich glaube jeder einigermaßen begabte PR-Berater bekommt für die Kohle etwas aufregenderes hin.

  6. 06

    Sprache und Bilder der Berichterstattung der Massenmedien – und dazu zählt natürlich auch das Internet – sind ein ganz wesentlicher Baustein zur Aufrechterhaltung der Lethargie von Rezipienten, Bürgern und Betroffener. Diese Lethargie der Menschen ist notwendig, um die Ausbeutung von Ressourcen im Sinne einer ständigen Vermehrung der Guthaben privaten Vermögens zu gewährleisten. Die politischen repräsentativ agierenden Volksvertreter (ob in Gummistiefeln oder Lackschuhen) sind einzig und allein deswegen in Regierungshauptstädten dieser Welt, um diese Vermehrung privaten Vermögens voranzutreiben. Die große Mehrheit der Menschen wird mit Spielzeugen wie dem neusten I-Phone/-Androide-Pad u.v.a.m. bei Laune bzw. der bewährten Lethargie gehalten. Blockupy oder die Proteste in der Türkei werden mit brutaler Polizeigewalt, die von der herrschenden politischen Klasse großzügig bereitgestellt werden, niedergeknüppelt. Das müssen die noch jungen Menschen wissen, bevor sie auf die Straße gehen. Und sie müssten auch wissen, welche Entwicklung die politischen Bewegungen der BRD in der Vergangenheit induziert haben. Das müssten die noch jungen und die älteren Menschen kritisch analysieren, bevor sie wieder auf die Straße gehen.

  7. 07
    plan9

    „virtue never tested is no virtue at all“
    (billy bragg, song „Must I Paint You a Picture“, 1988)
    Dieser Weisheit (die vermutlich älter ist als Bliiy Bragg, und wenn nicht, wär’s auch keine Überraschung) geht mir nicht nur in den letzten Tagen, sondern eher Wochen, vielleicht sogar Monaten durch den Kopf.
    Sieht man Demokratie als gesellschaftliche Tugend, steht die derzeit sehr auf dem Prüfstand. Und zwar nicht in den Ländern, denen die Demokratie aus unserer großen Güte heraus (nennen wir es mal) überbracht werden soll, sondern genau in den Ländern der Überbringer.
    Erst recht, wenn man dann sowas von der „vierten Macht“ lesen muss:
    http://www.freitag.de/autoren/jaugstein/schluss-mit-kostenlos-warum-man-dem-springer-verlag-glueck-wuenschen-muss

    @juergen arne klein
    Wut? ja!
    Hilflosigkeit? Nein!

  8. 08
    andre

    Tja, manche Tage plumpsen einem wie eine Betonplatte auf das Gemüt,
    ABER – Zeigefinger hoch – der Regen ist nun einmal notwendig um die “ Versteppung Brandenburgs“ (einfach mal googeln) zu verhindern.
    In der Spätschicht habe ich mir die derzeitigen TOP TEN der steinigungswürdigsten Songs im MDR überlegt, meine ersten drei Favoriten wären :
    1. Led Zeppelin – When the Levee breaks
    2. B.J. Thomas – Raindrops Keep Falling on my Head
    3. Lassie Singers – Regen,
    und dann muss ich in der Pause so ein Depri-zeugs lesen.
    Irgendwer sollte Dir verbieten, am Samstag ohne deine Frau in der Kneipe rumzuhängen.

    Grosse Bitte: in der Hangover 3-Werbung auf deiner Seite war von „himmlischer Stimme“ die Rede;
    lade doch mal diesen jungen Mann in deine Radiosendung ein
    http://www.youtube.com/watch?v=p7MSmOCNE80
    der Mann ist echt großartig.

  9. 09

    Ohne resigniert oder sarkastisch klingen zu wollen:
    Diese Zweifel und „Bedenken“ sind wichtig und notwendig. Sie helfen uns, wieder die notwendige Distanz zu unserem Mikrokosmos und den manchmal so alles umfassenden Themen zu bekommen.
    Deshalb: Alles ändern – und weiter so!