Damals, als wir unseren ersten Hund noch hatten und noch in Kreuzberg wohnten, da trafen wir beinahe jedes Mal beim Spazierengehen eine schon etwas ältere, leicht gebückt laufende Dame mit ihrem ebenfalls schon etwas älteren und leicht gebückt laufenden Hund.
(Kennt ihr das? Ihr seht bestimmte, euch im Grunde unbekannte Menschen an bestimmten Orten – Kneipen, Cafés, Internet-Konferenzen – mit feiner Regelmäßigkeit immer wieder und ihr denkt: „Mannomann, der ist echt immer hier, hat der kein Zuhause / eigenes Café / Arbeitsleben?“ Und dann fällt euch auf: Das denkt der oder die Andere sicher auch. Über euch.)
Die alte Dame war immer sehr langsam und freundlich, genauso wie ihr alter Hund, im Gegensatz zum Hund kam sie uns aber etwas verwirrt vor. Vielleicht altersverwirrt, etwas neben der Spur, etwas verrückt halt im Sinne von: Anders als die Anderen. Sicher nichts Schlimmes. Oder doch? Mit der Zeit dachte ich mir Geschichten zu der alten Dame aus, vielleicht hatte sie Furchtbares erlebt und war deshalb etwas verwirrt, vielleicht scheiterte sie auch an der modernen Welt und lebte in ihrem ganz eigenen Universum.
Jedes Mal, wenn wir die Lady trafen (und zwar jedes einzelne Mal, selbst wenn wir ihr auf einer Tour rund um den Kanal mehrfach begegneten), blieb sie kurz bei uns stehen, zeigte in die Richtung, in die wir unterwegs waren und warnte uns mit Blick auf unseren Hund:
„Passen Sie gut auf. Da vorne liegen Scherben.“
Immer bedankten wir uns für den freundlichen Hinweis und versprachen, auf die Scherben gut achtzugeben, damit unser Hund sich nicht die Pfoten zerschneiden würde. Unsere Versuche, das Gespräch noch für ein paar Sätze aufrecht zu halten, scheiterten meist, die Dame musste weiter.
Scherben haben wir nie gefunden. Nicht ein einziges Mal habe ich die Scherben gesehen, vor denen die nette Dame uns so oft gewarnt hat. Vielleicht lagen sie an ganz anderen Stellen, vielleicht gab es sie auch gar nicht.
Mittlerweile bin ich wieder regelmäßig mit dem neuen Hund unterwegs, meistens in einem als viel ruhiger und sauberer als Kreuzberg geltenden Bezirk Berlins, und alle paar hundert Meter zerre ich mit der Leine am Halsband des neugierigen (und beizeiten recht gefräßigen) Hundes, um ihn in eine andere Richtung zu lenken. Denn ich sehe andauernd Scherben. Zerdepperte Bierflaschen mitten auf dem Trottoir, zerbochenes Glas rund um Baumwurzeln, scharfkantig und glänzend Zerborstenes auf dem Gehweg im Park.
Ich weiß, dass Menschen jeden Alters im angetrunkenen Zustand nicht als Personen gelten, die man als bedacht oder umsichtig bezeichnen kann. Dass also im nächtlichen Heidewitzka-Zustand mal eine Pulle auf die Straße gedonnert wird: Kommt vor. Passiert. Ich bin Berliner, da rege ich mich nicht drüber auf. Ein bisschen Unmut kommt zwar ob der relativen Häufigkeit der Scherben in der Gegend schon auf, Zusammenleben funktioniert so eben nicht, und schließlich mache ich ja den Kot des Hundes auch weg, damit niemand reintritt, die könnten ja ihre Scherben … naja, könnten Sie, machen sie aber nicht, denn vermutlich waren sie betrunken und wäre ich beim Spaziergehen mit dem Hund betrunken, würde ich den Kot vielleicht auch nicht … Jedenfalls nervt das dann doch ganz schön, und gefährlich ist es auch.
Vorhin, als ich mit dem Hund draußen war, habe ich eine etwas jüngere Frau mit ihrem vierbeinigen Begleiter getroffen. Ich bin kurz stehengeblieben, habe ihren Hund freundlich angeschaut und dann in die Richtung gedeutet, in die sie unterwegs war. Und ich habe sie freundlich gewarnt:
„Passen Sie gut auf. Da vorne liegen Scherben.“
Trottoir. Habe ich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gehört, das jemand Trottoir sagt. Das ist für mich eins der Worte, von denen ich keine Ahnung habe wie man es richtig ausspricht. Darum bleibe ich bei Bürgersteig ;-)
@#1578583: Ganz leicht: Wie z.B. „Reservoir“ oder „Au revoir“. Aber mit „Trott“ vorne.
„Der Man am Fenster“
Schöner Text. Danke!
Einsame Menschen machen manchmal komische Sachen um etwas „sozialen Kontakt“ (wie ich dieses distanzierende Neudeutsch manchmal hasse) zu bekommen, v.a. ältere Menschen. Dabei überwiegt der Stolz oft die Einsamkeit und das Gefühl „gebraucht zu werden“- und so „muss man weiter“.
Schön zu lesen dass es noch Leute gibt die ohne Empathie-Scheuklappen durch den Kiez/das Leben gehen. ;-)
War das die Frau?
@#1578839: Ganz genau. Offensichtlich lässt sie mir keine Ruhe. Oder ich fange von vorne an, hier. (Musste bei der Feststellung, dass der Artikel mit „scherben-2“ gespeichert wurde, auch suchen, finden und lächeln.)
Moin Johnny, was ein wunderbarer Text. Ich mag es, wenn jemand sehen und fühlen kann. Und erkennt, das das (eigentlich) Banale manchmal eben nicht ganz so banal ist wie es scheint.
Schöne Grüße nach Berlin
Ralf
@#1578863: Bei Mozart hieß das „Variationen auf ein Thema“. ;)
Toll geschrieben! Vielen Dank!
Mal wieder ein richtig schöner Johnny-Text. Danke!
Das mit den Flaschen zerschmeißen ist kein Versehen sondern offenbar ein Trend in Berlin. Ähnlich wie das Öffnen von öffentlichen Mülleimern, der dann das Trottoir mit Müll überschwemmt. Vielleicht Gentrifizierungsprotest, vielleicht Feuerwerk des kleinen Mannes.
Das mit den Scherben ist tatsächlich eins der Dinge, die ich nicht vermisse, seit ich aus Berlin wieder weggezogen bin… München hat auch seine Vorteile….
Toller Text!
Vielen Dank für diesen einfühlsamen Text. Dank der Verlinkungen habe ich auch die Texte über Josefine und den „neuen Hund“ gelesen. Ja, so ein Hund kann das Leben ganz schön verändern. :o)
Zum Glück muss ich hier im Münchner Umland, wo wir leben beim Gassi gehen nicht auf Scherben aufpassen – da liegt die Priorität eher darauf, dass der Hund nicht Hasen jagt. ;o)
Aber wir sind regelmäßig in Leipzig, da gibt es auch Ecken in denen Gassigehen mit dem Hund einem Eiertanz gleicht weil der Gehweg mit Scherben übersät ist.
Und ich denke mir auch jedes Mal – als Hundehalter wirst du quasi „standrechtlich erschossen“ wenn Dein Hund auf den Gehweg kackt und Du lässt ein winziges Krümelchen liegen. Aber wenn da quadratmeterweise Scherben rumliegen, beschwert sich keiner.
Selber Schuld , wer einen Hund in einer Großstadt hält. Da hab ich lieber tausend zerbrochene Flaschen,als ein Hundehaufen auf dem Weg.
@ „O.“ Man könnte dir jetzt und zukünftig zerschnittene Füße wünschen!
Wenn man bösartig wäre. Berlin ist nicht nur Großstadt. Warst du mal in Lübars, Wannsee, Grunewald etc. Da kann man toll Hunde spazieren führen. Da ist von Großstadt keine Spur.
Es geht m.E. auch einfach um Rücksicht und den normalen Menschenverstand.
Die Mülleimer stehen nicht zur Zierde herum. Und wenn Kinder im Park nicht mal mehr im Sommer Barfuß laufen können, weil es Menschen gibt, denen alles an der Regio glutaea vorbeigeht. Dann ist das einfach subterran!
Ich mag den Artikel übrigens. Und ja, ich habe auch so Menschen gesehen und getroffen, die immer da sind und die mir manches Mal suspekt vorkamen.
@Johnny Trottoir … sehr cool! Made my day!
@#1580546: Das erinnert mich an eine Begegnung mit einem begeisterten Münchner auf Berlinbesuch: „Berlin ist so toll, hier kann man auf die Straße scheißen und keinen interessiert es.“
Doch, tut es.
Toller Text! Ich wohne auch direkt am Kanal. Es gibt hier immer noch eine Dame, die vor Scherben warnt – und manchmal vor dem Postboten: „Der holt gerade wieder eine Kiste Bier!“ – „Na, soll er mal“ denke ich – bedanke mich lächelnd für den Hinweis und wünsche ihr einen schönen Tag. ;)
Schöner Text. Ach wären es doch nur eingebildete Scherben!
Die jungen Menschen von heute haben alle zittrige Hände, da ist es völlig unmöglich Bierflaschen über einen längeren Zeitraum hinweg festzuhalten oder gar an der Hauswand abzustellen. Das ist auch irgendwie spießig, das Abstellen. Das würde auch bedeuten, dass man ein winziges bisschen Rücksicht auf irgendwen nimmt, und darauf hat man dann auch keinen Bock. Man fährt doch nicht aus dem Vorort den weiten Weg in die Stadt, um Rücksicht zu nehmen, das muss man ja schon zu Hause! Rücksicht ist total retro. Auf Toiletten pullern ist auch retro, am besten den Leuten direkt vor die Füße und dann wundern, dass die das nicht so gut finden. Städte sind doch dafür da, um die Sau rauszulassen, oder? Wer in der Stadt wohnt ist übrigens selber schuld, der darf sich nicht beschweren. Der soll doch in die tollen Vororte ziehen, da gibt es keine Scherben, da können die Kinder von der Straße essen!
Früher gab es in Berlin nur diese Scherben: https://www.youtube.com/watch?v=Jb2IU8FYmJw