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Eins Null

Am Samstag saß Sandy, die Freundin von Karlos, auf meinem Bett, es war später Nachmittag, Sportschauzeit.
Ich hab eine kleine Tüte gebaut, der Fernseher lief, und Sandy, mal wieder zugekokst, war am Sprudeln, als hätte sie Presswehen im Sprachzentrum.

Es ging um einen Bekannten von ihr, der in seiner Jugend zuviel LSD geschluckt hat und der heute noch regelmässig ausrastet, mit Aschenbechern und halbvollen Flaschen um sich wirft. Der mit 130 Sachen durch die Stadt heizt, der seinen Freunden die Bude demoliert, wenn er glaubt, der Teufel sei ihm auf den Fersen.

“Ich mein, das ist zig Jahre her, aber es wird ja nicht besser, im Gegenteil, das wird immer schlimmer, der fährt einen komplett falschen Film, mit dem will keiner mehr was zu tun haben, letztens, da schellt es mitten..”

Ich lieg da, den Kopf an die Wand gelehnt, breit von der Tüte und mindestens ebenso beschädigt von früheren Trips, am liebsten wär ich zwischendurch aufgestanden und ins Freie geflüchtet, aber ich hab mich zusammengerissen und weiter zugehört und mit einem Auge das Eins Null für Stuttgart verfolgt.

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TRAINER

Mein Lieblings-Trainer war der Ekki. Der war schwer in Ordnung. Er nahm uns Jungs ernst, und er war jung. Gerade mal zehn Jahre älter als wir. Wenn überhaupt.
Ich erinnere mich an ein Spiel in der A-Jugend.
Es war am Ende der Saison und es ging um alles oder nichts. Aufstieg in die Niederrheinliga, wo Mannschaften wie Fortuna Düsseldorf und Mönchengladbach warteten, oder ein weiteres Jahr gegen die Sportfreunde Witzhelden.
Mitaufstiegskonkurrent war der Sport-Club Reusrath, der kurioserweise einen weiblichen Trainer hatte, die hagere Frau Zimmermann. Sie sah aus wie eines ihrer Hühner, die sie im Holzverschlag hinter dem Aschenplatz hielt. Wenn wir zum Auswärtsspiel nach Reusrath fuhren, in der üblichen Wagen-Kolonne, krähte und gackerte es aus allen Seitenfenstern.

Ekki nahm mich vor dem Aufstiegs-Match beiseite.
Ich sollte nicht nur die Nummer 10 des Gegners mattsetzen, sondern auch das eigene Spiel ankurbeln.
“Trainer”, sagte ich, “das schaff ich nicht.”
Zwar hatte er mich im Laufe seiner Amtszeit schon vom Sturm ins Mittelfeld zurückbeordert, was überraschenderweise gut funktionierte, doch dem Spielmacher der gegnerischen Mannschaft auf den Füßen stehen UND den Ball verteilen?
“Glummi”, sagte er, “du machst das.”

Das Spiel endete unentschieden, was uns nicht weiterbrachte. Wir hätten gewinnen müssen, um aufzusteigen. Dennoch war es das Spiel meines Lebens, an diesem Nachmittag. Ich rannte mir die Lunge aus dem Leib, ich verteilte die Pille wie eine ehrgeizige Stationsschwester, ich riss das Trikot mit der gegnerischen Nummer 10 in kleine Bröckchen und schnippte es noch ins Aus, als die Hühner in ihrem Verschlag schon den Aufstieg feierten.

Ohne dass Ekki je ein Wort darüber verloren hätte, er war Manager eines renommierten Solinger Unternehmens.
Kurz nach seinem fünfzigsten Geburtstag fiel er in der Kantine tot vom Stuhl. Einfach so.
Das Herz.
Ich war auf seiner Beerdigung, drei oder vier Jahre ist das her, an einem sehr blauen Frühlingstag. Ein Schwarm Kraniche zog über den Parkfriedhof und ich fragte mich ernsthaft, warum niemand “Hintermann!” ruft, wenn der Tod so plötzlich kommt.

Vor Ekki gab es zwei weitere Trainer, die Herren Becker und Klinkenmann.
Alfredo Becker trainierte uns von der E- bis zur C-Jugend. Er war der Typ Trainer, wie es ihn damals, in den späten Sechzigern, frühen Siebzigern, zuhauf gab: stramme Plauze, Kippe im Hals, Trinkernase. In seinem Fall kam noch eine schwere Gesichts-Akne dazu, als hätte man ihm in der Jugend eine Ladung Schrot verpasst, aus nächster Nähe.
Meist stand Alfredo Becker am Spielfeldrand und kratzte sich den Bauch.
“Duca, du fauler Hund, lauf!”
Mario Duca war unser freundlicher kleiner Italiener, dem ich viele Jahre später die erste Begegnung mit der Gräfin verdankte. Er sah ein bisschen so aus wie Honore de Balzac, wenn Honore de Balzac Mario Duca geheissen hätte.
“Duca, fauler Hund! Lauf!”
Mehr ist nicht geblieben von Alfredo Becker, einem Trainer von altem Schrot im Gesicht.

Dann war da noch der Klinkenmann. Er hat uns nur eine Saison lang gecoacht. Ein Volltrottel vor dem Herren. Von nichts eine Ahnung, aber immer am Plappern. Bei Heimspielen lief er nervös hinterm Tor auf und ab, ein grosser Mann, bestimmt zwei Meter gross, und der Wind brutzelte sein dünnes Haar zu einer Sturmfrisur hoch, die er verzweifelt in den Griff zu bekommen versuchte, er drückte sich das Haar platt bis zur nächsten Böe.
“Kommt heiss aus der Sahara!” plapperte er dann in den Wind und niemand hörte hin.
Als Geschäftsmann sorgte er nicht nur dafür, dass sein hüftsteifer Sohn Achim als Vorstopper einen Stammplatz genoss, er schusterte ihm sogar Berufungen in die Niederrheinauswahl zu. Alles nur Beziehungen.
Am Wochenende fuhr Klinkenmann mit Sohn und Frau gerne auf die Königsallee nach Düsseldorf. Da saßen sie dann zwischen all den Bonzen und Schickimickis herum und furzten vorstädtisch ins Gestühl.

Irgendwann in den Neunzigern hab ich beide wiedergesehen, Vater und Sohn, in einem schäbigen Kiosk am Stadtrand, den sie gerade übernommen hatten.
Das war ihnen so peinlich, sie taten so, als hätten sie mich nicht wiedererkannt. Ich liess mir eine schöne Tüte Süssigkeiten zusammenstellen. Für einen Heiermann. Aber nur süss-sauer. Keine Lakritze.
“Das schmiert von innen”, lachte ich.

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Warum Brasilien kein Weltmeister wurde, diesmal

Von der ersten Spielminute an stand der dicke Brasilianer vor dem gegnerischen Strafraum herum und tat so, als wartete er auf einen Kumpel, aber da kam kein Kumpel, also stand er weiter herum, setzte noch etwas Fett an und knöselte in der Nase bis kurz vor Spielschluß ein Ball in seine Richtung kullerte, “Ayy, da ist ja mein Kumpel!” schluchzte der Dicke und trat drüber.

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FC Olympia Hessler 63 (Eine Tatsachenreportage)

15. September 1988.

Zwei Nächte hab ich mal wieder durchgesoffen, bis ich am Donnerstagmorgen völlig im Eimer wach werde. Bin so groggy, dass ich eine halbe Stunde einfach auf dem Bettrand sitze und dumpf ins Nichts stiere. Der Schädel dröhnt wie ein Moped in einem langen Tunnel.
Das Telefon klingelt, ich lass es klingeln. Da fällt mir ein, ich hab ja Geburtstag. Da will jemand gratulieren. Scheiss drauf. Erst mal einen Kaffee.

Ich hocke am Küchentisch und guck in mein Notizbuch: ‘Wenn man mit zehn Minuten Gutraufsein am Tag auskommen muss’, steht da. Wann hab ich das denn geschrieben? Mh, egal. Für die paar Minuten muss ich jedenfalls nicht zuhause bleiben. Da kann ich meinen Geburtstag auch woanders feiern. Wo ich schon immer mal hin wollte. In Schalke. In der Heimat der Idole meiner Jugend: Stan Libuda (An Gott kommt keiner vorbei, ausser Libuda) und Norbert Nigbur, dem Torhüter mit den Nasenlöchern wie eine Steckdose und Fäusten unter Strom. Das Telefon klingelt wieder. Ich muss raus hier.

Mit der S-Bahn Richtung Düsseldorf. Von da aus gehts dann um 12 Uhr 24 weiter nach Gelsenkirchen. Mit achtundzwanzig Jahren das erste Mal nach Schalke. Da soll es Kneipen geben, wo das Bier noch ne Mark kostet, und Stan Libuda, der legendäre Rechtsaussen, verkauft Zigarren in seiner Lotto-Annahmestelle. Hoffentlich erwische ich meine zehn Minuten Gutraufsein, wenn ich in seinen Laden reinmarschiere.
“Eine Cohiba, Herr Stan!”

“Ich bin ein genauso versoffener Hund wie du”, meint ein pfeifeziehender, wackeliger Penner, die Nase jodverschmiert, in der Schalterhalle des Düsseldorfer Hauptbahnhofs zum anderen Penner, der eine Fahne kalter Scheisse hinter sich herzieht.
Ich glaube, ich trinke heute lieber mal kein Bier.
Wo ist denn hier ein Telefon?
Damit im kommenden Winter ein Paar feste Schuhe an meinen Füßen sind, war mit meiner Mutter eigentlich ein kleiner Einkaufsbummel abgesprochen. Ich rufe sie vom Bahnsteig aus an.
“Mutti, ich bin unterwegs nach Schalke.”
“Wieso? Ist da heute ein Spiel? ”
“Nee. Ich fahr nur so dahin. ”
“Dann fall nicht unter die Räuber, Junge. Und kauf dir nicht wieder Fussballschuhe!”

Im Nahverkehrszug nach Gelsenkirchen über Duisburg-Meiderich, zweite Klasse, Raucherabteil, klappe ich den Aschenbecher auf, und ein Wölkchen Qualm bringt mir ein Geburtstagständchen. Bei jedem Halt rollt eine leere Bierdose durch das Abteil. Kein Schaffner hält es für nötig, mich zu kontrollieren, dabei bin ich heute doch ausnahmsweise mal zu gültig.
“ZUGESTIEGEN JEMAND!?”
Da ist er schon.

In Oberhausen steigt ein Kerl zu, gegerbte Haut, leichtes Reisegepäck. Er erzählt gleich, dass er das erste Mal seit vielen Jahren wieder in Oberhausen gewesen sei, auf einer Geburtstagsparty.
“Was ist bloß aus dem Ruhrgebiet geworden?” meint er bedauernd, er lebt mittlerweile in Saarbrücken. “Total tote Hose.”
Als er aussteigt, rollt die Bierdose in die andere Ecke.

In Gelsenkirchen finde ich Schalke nicht. Bin wohl mit dem Linienbus einfach durchgefahren, ohne es mitzubekommen. Also wieder zurück. Diesmal frage ich beim Fahrer nach, wo ich raus muss.
“Wo willste denn hin, Jung?”
“Na, zum Stadion.”
“Zum Parkstadion?”
“Nein, zum altem Stadion. Glückaufkampfbahn.”
“Wat willste denn da? Ist doch total tote Hose da!”

Erst mal auf zwei Pils ins Schalker Vereinsheim. Frau Wirtin ist nicht gut zu sprechen auf einen der beiden Gäste. Der hat einen im Kahn und will immerzu singen und sucht sein Pils. Dann gibt er eine Lokalrunde.
“Mutter..”, meint er zur Wirtin, aber die hört das nicht gern.
“Da vorn ist die Tür, da schubs ich dich gleich raus.”
“Wenn Schalke verliert, geh ich sowieso nach Hause”, lallt er.
Frau Wirtin bringt mir ein Pils.
“Is dat Steno?” meint sie mit einem kurzen Blick auf mein Notizbuch. “Kann doch kein Schwein lesen.”

Das einzig Blau-Weisse, das noch durch Gelsenkirchen-Schalke fährt, ist ein Tanklastwagen von ARAL, wie ich mit einem Blick aus dem Fenster feststelle.
“Mein Gott, nee! Ich brauch doch nich zu betteln für ein klein Bierchen, hab ich nich nötig!” (Kriegt kein Bier mehr, verlässt Vereinsheim.)
Ich auch.

Ich guck mir Schalke an. Das Stadtviertel. Kleine Häuschen. Ein türkischer Junge im königsblauen Trainingsanzug humpelt an mir vorüber. Sonst ist niemand auf der Strasse zu sehen.
Ein paar Graffitis.
TÜRKEN UND SCHWULE AN DIE WAND
SATANSPENIS
BLOCK II – WIR FERWESEN

Hinter der Arbeitersiedlung dann das alte, verrottende Fussballstadion. Die legendäre Glückauf-Kampfbahn. Ein einziges Schild weist darauf hin. Die Tore sind verschlossen. Ich klettere über einen Zaun und finde mich auf der Gegengerade wieder. Zwischen den Stufen wuchert Unkraut. Ich latsche über den gut erhaltenen Rasen rüber zur Tribüne. Höre dreissigtausend Knappen “SCHALLL-KEE” brüllen. Rolf Rüssmann nimmt Anlauf zum Freistoss – Pfostenschuss!

Ich sitze auf der Ehrentribüne. Links die Stadtautobahn nach Bochum. Die dunkelrot lackierten Sitzplätze unter mir sind mit dickem Staub überzogen, die Gitter zwischen Spielfeld und Rängen ausnahmslos niedergerissen. Eine Reklametafel ist übriggeblieben: AFRI-COLA.
200 METER ZUM BLOCK II – ASIS UNERWÜNSCHT
Ein paar Minuten bleibe ich sitzen, einfach mal sitzen und denken, verdammt – aber es will sich keine Ehrfurcht einstellen. Als ich aufstehe, um das Stadion zu verlassen, steht in der Kurve dieser Mann. Erregter Mann, so eine Art Platzwart vielleicht.
“JA, WAT IS DAT DANN?!” brüllt er, die unvermeidliche Töle an der Leine. “GANZ SCHNELL RUNTER DA! DAT WOLLN WIR HIER ERST GAR NICH ANFANGEN, WOLL!?”

In aller Ruhe latsche ich zurück über den Rasen, steige die Stufen der Gegengerade hoch und verschwinde wie ich reingekommen bin, über den Zaun.
Vorm Stadion kniet ein Junge auf dem Radweg. Er öffnet vorsichtig eine Portionspackung Kaffeesahne, neben ihm wartet ein Kätzchen.

Unter der Autobahnbrücke ist ein Getrommel in Gange, ich vermute schon einen einsamen Stadtschlagzeuger in den zementierten Zwischenräumen, doch als ich genauer hinhöre, ordne ich das monotone Geräusch eher den Lastwagen zu, die über die Brückennähte rollen.
Ein wütend hingerotztes Graffiti:
KÖLSCH UND ATEMNOT!

Auf dem Weg aus Schalke hinaus dribble ich durch eine abgewetzte Reihenhaussiedlung. Kissen auf der Fensterbank, jeder hat seinen eigenen kleinen Garten. Ein Junge steht auf der Haustreppe, fragt seinen laubfegenden Vater:
“Heute ist Donnerstag, ne?”
Er steckt sich eine Camel an.

Ich lande in Gelsenkirchen-Hessler, in einer anderen Vereinskneipe. FC Olympia Hessler 63.
Frohe Botschaft Hessler!
“Wann ist Schalke eigentlich zum letzten Mal Meister geworden?” frage ich die Männer am Tresen.
“58, glaub ich.”
Genervt vom Rumstiefeln und angeschlagen vom Suff der letzten Tage fühle ich mich fiebrig, ohne dass Fieber wirklich austritt, fühl mich seitlich in den Tunnel gepfiffen. Auf dem Boden der Kneipe entdecke ich einen kleinen gelben Plastikwassernapf für Miniaturhunde, ich bin gerührt, siebenundzwanzig Jahre sind um. Ich habe Geburtstag und bin in Gelsenkirchen. Ich sehne mich zwanzig Jahre zurück, die Ohren am Kofferradio Bajazzo von Telefunken, samstags, den Bundesliga-Reportagen lauschend, wenn Stan Libuda zum Tanz aufspielte.
Wo ist eigentlich dem Libuda seine Zigarrenbude?
Und wieso ist der FC Olympia Hessler nicht berühmt geworden? Wieso der FC Schalke?

Die Männer am Tresen haben sich zum Skat niedergelassen.
“Hat der die Zehn! Leck mich am Arsch!”
Die Schnäpse werden als “Schweinchen” geordert.
“Manni, bring noch fünf Pils!”
“Schweinchen dabei?”
“Sicher!”
“Fünf?”
“Fünf! Und wat is mit dem Käffchen fürn Heinz? Schon durchgeträllert?”

Am Tresen ist ausser mir nur ein Jeansheld übriggeblieben, mit klobigen Beinen, die nach Ketchup riechen. Seine Gesichtshaut ist rein. Männer mit reiner Gesichtshaut sind verdächtig. Mehrmals und ungefragt tut er kund, wie sehr ihm “Mercedes Benz” von Janis Joplin in CD-Qualität gefalle.
“Einfach a-capella is dat! Dat is super!”
“My friends all drive Porsche”, singt sogar der Wirt mit, und mir schlafen die Füße ein.

Rückfahrt über Düsseldorf. Überall müde Donnerstagsmenschen beim Nickerchen. Mir gegenüber ein Schulmädchen. Sie schnübbelt Süssigkeiten aus ihrer Bonbontüte, die sie nach jeder Entnahme wieder verschliesst, sehr ordentlich und selbstvergessen untersucht sie auch den Mückenstich an ihrem Ellbogen, speichelreibend, ein einziges Mal verzieht sie ihren Mundwinkel, als sie einen sauren Drop erwischt.

In drei Tagen hat die Gräfin Geburtstag. Eigentlich wollte ich ihr ein blaues Nachthemd bauen, als Geschenk. Ich liebe es, wenn sie abends im Nachthemdchen durch die Wohnung huscht. Ich werde später noch bei ihr reinschneien. Das werde ich tun.
Um zehn Uhr abends komm ich in Solingen an. Vorm alten Hauptbahnhof warten die Taxis.
Ein Taxi.
“Zum Mumms”, sag ich.
“Mumms? Da ist doch tote Hose, donnerstags”, meint der Fahrer.
Der soll die Klappe halten und Taxifahren.

Endlich steh ich am Tresen. Das Mumms ist mein Wohnzimmer, und es sind Bekannte da. Weil mein Kugelschreiber leer ist, leih ich mir von Marina, der Zapferin mit dem netten Schürzchen, einen Stift mit roter Mine.
“Ich hätte auch gern einen Kuli mit roter Mine”, sag ich zu Karlos, der schon ziemlich hinüber ist.
“Ich kann dir meine rote Fresse leihen”, erwidert der.
Ich bin daheim.

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Der flimmernde Kung-Fu-Fußball der Gräfin

Mit der Gräfin Fußballgucken ist wie ein 90minütiger Paukenschlag. Ich mein, sie hasst ja nicht nur die Männer, die einen Steifen kriegen wenn sie das Kindergeld unterschlagen, sie hasst auch die flimmernde Kung-Fu-Spielweise der Japaner und Südkoreaner, und sie macht aus ihrem Herzen keine Mördergrube.
“Die sind wie die Ameisen, die Japsen! Nur am wimmeln!”

“Mann, was sind die blass! Denen fehlt Eisen!”
“Das sind doch keine Männer auf dem Rasen da, das sind Memmen! Ne richtige koreanische Memmenschwemme ist das!”
Der Höhepunkt dann, als sie auch noch China mit ins Boot holt:
“GEH DOCH NACH MAO UND WERD KONSUMIST!” brüllt sie einen asiatischen Spieler an, die ihrer Meinung nach eh alle gleich aussehen, wie einer schlechten Duplikat-Werkstatt entflohen.
Die Welt zu Gast bei der Gräfin, und am Sonntag muss sie wieder ran.
Die Welt.

(Vorschau zu:
JAPAN-KROATIEN
FRANKREICH-SÜDKOREA,
beide Sonntag, 18.06.)

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MÄNNER ZWISCHEN PFOSTEN

Der triebgesteuertste Spieler
in einer Mannschaft ist der Torhüter,
der seine Instinkte ausleben muss,
der wild, wild sein Haus bewacht,
sein Über-Ich.

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Wir können noch viel besser!

Jammerdeutsche seien wir, lese ich. Dabei fangen wir doch gerade erst an! Wir können noch viel besser! Oder was glauben die anderen Nationen, was hier los ist, wenn die Apokalypse eintritt und unsere Mütter uns auffressen weil wir nicht Weltmeister geworden sind!?

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500beine für fooligan: WAT NE KANONE

Auch wenn ich in meiner Jugend chronischer Torschützenkönig war, ich kann mich nur an wenige Treffer genau erinnern. Darunter eine aus der Luft genommene Granate in Wuppertal (”Wat ne Kanone!”) und ein völlig verunglückter Elfmeterschuss in Baumberg am Rhein, wo ich halb in den Boden und halb vor den Ball trat.

Die entsetzten Aufschreie der Mitspieler im Rücken schaute ich der Pille hinterher, die wie in Superzeitlupe in Richtung Tor holperte, es sich kurz vor der Linie aber anders überlegte und eine grobe Unebenheit des Platzes nutzend von einem Hubbel abhob und dem verdutzten Keeper durch die fangbereiten Arme glitt: 1:0.

Mein erster Trainer hiess Alfred Becker. Ein kleiner sechzigjähriger Schlosser mit karierter Schiebermütze, der uns Jungs nicht gerade mit Samthandschuhen anfasste.
Den dicken Mario Duca hatte er besonders auf dem Kieker.
“Duca, fauler Hund! Dir kann man beim Laufen die Schuhe besohlen!”
Mario Duca, dem ich viele Jahre später die erste Begegnung mit der Gräfin verdankte, war einer von mehreren Söhnen italienischer Einwanderer in unserer Mannschaft. Wir hatten schon damals einen hohen Ausländeranteil, was hauptsächlich daran lag, dass der RSV aus dem Betriebssport hervorgegangen war.

RSV, das stand für Rasspe-Sport-Verein, und Rasspe war ein mittelständischer Hersteller von Landwirtschafts-Maschinen, viele Jahre einer der grössten Arbeitgeber vor Ort. Das Emblem von Rasspe, das auch hoch oben am Schornstein prangte, war ein dampfender Pfeifenkopf. Spötter nannten unseren RSV daher auch Ormsnut, Solinger Platt für: Atemnot.
Vereine wie die 1. Sportvereinigung, die immer in schmucken weissen Trikots aufliefen und vor Arroganz kaum aus den Augen gucken konnten, machten sich einen Spass daraus, uns zu verhöhnen, war der RSV doch ein Arbeiterverein durch und durch, beinahe britisch in seinem trotzigen Stolz.
Dass ich im Gegensatz zu meinen Mitspielern keine Schlosserlehre bei Rasspe absolvierte, sondern das Gymnasium besuchte, fiel mir eigentlich erst auf, als unsere Klasse kurz vor der Mittleren Reife eine Betriebsbesichtigung bei Rasspe machte.
Da standen meine Kameraden im Blaumann vor den lauten, ölverschmierten Maschinen, und ich kam mir reichlich schnöselig vor, in meinen glitzernden Blue Jeans.

Verrufen war der RSV in Solingen und Umgebung aber weniger wegen der sprichwörtlichen Atemnot oder der Arbeitervereinmentalität, sondern wegen des unmöglichen Platzes.
Der Platz war wirklich eine Rarität.
Teils Asche, teils Rasen.
Nicht Fisch, nicht Fleisch.
Ein Scheissplatz.

Die Asche erstreckte sich in Form eines grossen Hühner-Eis über den Spielplatz, nur an den Rändern und vor den Toren war Rasen ausgelegt.
Warum dies so war? Keine Ahnung. Vielleicht war den Altvorderen unterwegs das Geld ausgegangen, als der Platz 1909 angelegt wurde. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir jemals über die Gründe gesprochen hätten.
Es war halt so. Und fertig.

Aber der seltsame Platz hatte auch sein Gutes. Weil jeder danach strebte, auf dem (übrigens sehr gepflegten) Rasenbelag am Spielfeldrand zu stürmen, zogen wir automatisch ein offensives Flügelspiel auf, und ich war der Vollstrecker.
“Ihr sollt den mit den Locken decken!”, das war der Spruch, der mich in der Jugend durch die gegnerische Deckung brachte.

Eine weitere Besonderheit des RSV: Vereinsheim und Kabinen lagen etwa einen Kilometer vom Platz entfernt. Dazwischen waren Felder und Kartoffeläcker, die vor allem im Winter zu wahren Schlammwüsten mutierten.
Manch ein Team war schon erledigt, wenn es endlich unseren erbarmungswürdigen Nicht Fisch, nicht Fleisch-Platz erreicht hatte.
Wir waren schon eine gefürchtete Heimmannschaft.