15. September 1988.
Zwei Nächte hab ich mal wieder durchgesoffen, bis ich am Donnerstagmorgen völlig im Eimer wach werde. Bin so groggy, dass ich eine halbe Stunde einfach auf dem Bettrand sitze und dumpf ins Nichts stiere. Der Schädel dröhnt wie ein Moped in einem langen Tunnel.
Das Telefon klingelt, ich lass es klingeln. Da fällt mir ein, ich hab ja Geburtstag. Da will jemand gratulieren. Scheiss drauf. Erst mal einen Kaffee.
Ich hocke am Küchentisch und guck in mein Notizbuch: ‘Wenn man mit zehn Minuten Gutraufsein am Tag auskommen muss’, steht da. Wann hab ich das denn geschrieben? Mh, egal. Für die paar Minuten muss ich jedenfalls nicht zuhause bleiben. Da kann ich meinen Geburtstag auch woanders feiern. Wo ich schon immer mal hin wollte. In Schalke. In der Heimat der Idole meiner Jugend: Stan Libuda (An Gott kommt keiner vorbei, ausser Libuda) und Norbert Nigbur, dem Torhüter mit den Nasenlöchern wie eine Steckdose und Fäusten unter Strom. Das Telefon klingelt wieder. Ich muss raus hier.
Mit der S-Bahn Richtung Düsseldorf. Von da aus gehts dann um 12 Uhr 24 weiter nach Gelsenkirchen. Mit achtundzwanzig Jahren das erste Mal nach Schalke. Da soll es Kneipen geben, wo das Bier noch ne Mark kostet, und Stan Libuda, der legendäre Rechtsaussen, verkauft Zigarren in seiner Lotto-Annahmestelle. Hoffentlich erwische ich meine zehn Minuten Gutraufsein, wenn ich in seinen Laden reinmarschiere.
“Eine Cohiba, Herr Stan!”
“Ich bin ein genauso versoffener Hund wie du”, meint ein pfeifeziehender, wackeliger Penner, die Nase jodverschmiert, in der Schalterhalle des Düsseldorfer Hauptbahnhofs zum anderen Penner, der eine Fahne kalter Scheisse hinter sich herzieht.
Ich glaube, ich trinke heute lieber mal kein Bier.
Wo ist denn hier ein Telefon?
Damit im kommenden Winter ein Paar feste Schuhe an meinen Füßen sind, war mit meiner Mutter eigentlich ein kleiner Einkaufsbummel abgesprochen. Ich rufe sie vom Bahnsteig aus an.
“Mutti, ich bin unterwegs nach Schalke.”
“Wieso? Ist da heute ein Spiel? ”
“Nee. Ich fahr nur so dahin. ”
“Dann fall nicht unter die Räuber, Junge. Und kauf dir nicht wieder Fussballschuhe!”
Im Nahverkehrszug nach Gelsenkirchen über Duisburg-Meiderich, zweite Klasse, Raucherabteil, klappe ich den Aschenbecher auf, und ein Wölkchen Qualm bringt mir ein Geburtstagständchen. Bei jedem Halt rollt eine leere Bierdose durch das Abteil. Kein Schaffner hält es für nötig, mich zu kontrollieren, dabei bin ich heute doch ausnahmsweise mal zu gültig.
“ZUGESTIEGEN JEMAND!?”
Da ist er schon.
In Oberhausen steigt ein Kerl zu, gegerbte Haut, leichtes Reisegepäck. Er erzählt gleich, dass er das erste Mal seit vielen Jahren wieder in Oberhausen gewesen sei, auf einer Geburtstagsparty.
“Was ist bloß aus dem Ruhrgebiet geworden?” meint er bedauernd, er lebt mittlerweile in Saarbrücken. “Total tote Hose.”
Als er aussteigt, rollt die Bierdose in die andere Ecke.
In Gelsenkirchen finde ich Schalke nicht. Bin wohl mit dem Linienbus einfach durchgefahren, ohne es mitzubekommen. Also wieder zurück. Diesmal frage ich beim Fahrer nach, wo ich raus muss.
“Wo willste denn hin, Jung?”
“Na, zum Stadion.”
“Zum Parkstadion?”
“Nein, zum altem Stadion. Glückaufkampfbahn.”
“Wat willste denn da? Ist doch total tote Hose da!”
Erst mal auf zwei Pils ins Schalker Vereinsheim. Frau Wirtin ist nicht gut zu sprechen auf einen der beiden Gäste. Der hat einen im Kahn und will immerzu singen und sucht sein Pils. Dann gibt er eine Lokalrunde.
“Mutter..”, meint er zur Wirtin, aber die hört das nicht gern.
“Da vorn ist die Tür, da schubs ich dich gleich raus.”
“Wenn Schalke verliert, geh ich sowieso nach Hause”, lallt er.
Frau Wirtin bringt mir ein Pils.
“Is dat Steno?” meint sie mit einem kurzen Blick auf mein Notizbuch. “Kann doch kein Schwein lesen.”
Das einzig Blau-Weisse, das noch durch Gelsenkirchen-Schalke fährt, ist ein Tanklastwagen von ARAL, wie ich mit einem Blick aus dem Fenster feststelle.
“Mein Gott, nee! Ich brauch doch nich zu betteln für ein klein Bierchen, hab ich nich nötig!” (Kriegt kein Bier mehr, verlässt Vereinsheim.)
Ich auch.
Ich guck mir Schalke an. Das Stadtviertel. Kleine Häuschen. Ein türkischer Junge im königsblauen Trainingsanzug humpelt an mir vorüber. Sonst ist niemand auf der Strasse zu sehen.
Ein paar Graffitis.
TÜRKEN UND SCHWULE AN DIE WAND
SATANSPENIS
BLOCK II – WIR FERWESEN
Hinter der Arbeitersiedlung dann das alte, verrottende Fussballstadion. Die legendäre Glückauf-Kampfbahn. Ein einziges Schild weist darauf hin. Die Tore sind verschlossen. Ich klettere über einen Zaun und finde mich auf der Gegengerade wieder. Zwischen den Stufen wuchert Unkraut. Ich latsche über den gut erhaltenen Rasen rüber zur Tribüne. Höre dreissigtausend Knappen “SCHALLL-KEE” brüllen. Rolf Rüssmann nimmt Anlauf zum Freistoss – Pfostenschuss!
Ich sitze auf der Ehrentribüne. Links die Stadtautobahn nach Bochum. Die dunkelrot lackierten Sitzplätze unter mir sind mit dickem Staub überzogen, die Gitter zwischen Spielfeld und Rängen ausnahmslos niedergerissen. Eine Reklametafel ist übriggeblieben: AFRI-COLA.
200 METER ZUM BLOCK II – ASIS UNERWÜNSCHT
Ein paar Minuten bleibe ich sitzen, einfach mal sitzen und denken, verdammt – aber es will sich keine Ehrfurcht einstellen. Als ich aufstehe, um das Stadion zu verlassen, steht in der Kurve dieser Mann. Erregter Mann, so eine Art Platzwart vielleicht.
“JA, WAT IS DAT DANN?!” brüllt er, die unvermeidliche Töle an der Leine. “GANZ SCHNELL RUNTER DA! DAT WOLLN WIR HIER ERST GAR NICH ANFANGEN, WOLL!?”
In aller Ruhe latsche ich zurück über den Rasen, steige die Stufen der Gegengerade hoch und verschwinde wie ich reingekommen bin, über den Zaun.
Vorm Stadion kniet ein Junge auf dem Radweg. Er öffnet vorsichtig eine Portionspackung Kaffeesahne, neben ihm wartet ein Kätzchen.
Unter der Autobahnbrücke ist ein Getrommel in Gange, ich vermute schon einen einsamen Stadtschlagzeuger in den zementierten Zwischenräumen, doch als ich genauer hinhöre, ordne ich das monotone Geräusch eher den Lastwagen zu, die über die Brückennähte rollen.
Ein wütend hingerotztes Graffiti:
KÖLSCH UND ATEMNOT!
Auf dem Weg aus Schalke hinaus dribble ich durch eine abgewetzte Reihenhaussiedlung. Kissen auf der Fensterbank, jeder hat seinen eigenen kleinen Garten. Ein Junge steht auf der Haustreppe, fragt seinen laubfegenden Vater:
“Heute ist Donnerstag, ne?”
Er steckt sich eine Camel an.
Ich lande in Gelsenkirchen-Hessler, in einer anderen Vereinskneipe. FC Olympia Hessler 63.
Frohe Botschaft Hessler!
“Wann ist Schalke eigentlich zum letzten Mal Meister geworden?” frage ich die Männer am Tresen.
“58, glaub ich.”
Genervt vom Rumstiefeln und angeschlagen vom Suff der letzten Tage fühle ich mich fiebrig, ohne dass Fieber wirklich austritt, fühl mich seitlich in den Tunnel gepfiffen. Auf dem Boden der Kneipe entdecke ich einen kleinen gelben Plastikwassernapf für Miniaturhunde, ich bin gerührt, siebenundzwanzig Jahre sind um. Ich habe Geburtstag und bin in Gelsenkirchen. Ich sehne mich zwanzig Jahre zurück, die Ohren am Kofferradio Bajazzo von Telefunken, samstags, den Bundesliga-Reportagen lauschend, wenn Stan Libuda zum Tanz aufspielte.
Wo ist eigentlich dem Libuda seine Zigarrenbude?
Und wieso ist der FC Olympia Hessler nicht berühmt geworden? Wieso der FC Schalke?
Die Männer am Tresen haben sich zum Skat niedergelassen.
“Hat der die Zehn! Leck mich am Arsch!”
Die Schnäpse werden als “Schweinchen” geordert.
“Manni, bring noch fünf Pils!”
“Schweinchen dabei?”
“Sicher!”
“Fünf?”
“Fünf! Und wat is mit dem Käffchen fürn Heinz? Schon durchgeträllert?”
Am Tresen ist ausser mir nur ein Jeansheld übriggeblieben, mit klobigen Beinen, die nach Ketchup riechen. Seine Gesichtshaut ist rein. Männer mit reiner Gesichtshaut sind verdächtig. Mehrmals und ungefragt tut er kund, wie sehr ihm “Mercedes Benz” von Janis Joplin in CD-Qualität gefalle.
“Einfach a-capella is dat! Dat is super!”
“My friends all drive Porsche”, singt sogar der Wirt mit, und mir schlafen die Füße ein.
Rückfahrt über Düsseldorf. Überall müde Donnerstagsmenschen beim Nickerchen. Mir gegenüber ein Schulmädchen. Sie schnübbelt Süssigkeiten aus ihrer Bonbontüte, die sie nach jeder Entnahme wieder verschliesst, sehr ordentlich und selbstvergessen untersucht sie auch den Mückenstich an ihrem Ellbogen, speichelreibend, ein einziges Mal verzieht sie ihren Mundwinkel, als sie einen sauren Drop erwischt.
In drei Tagen hat die Gräfin Geburtstag. Eigentlich wollte ich ihr ein blaues Nachthemd bauen, als Geschenk. Ich liebe es, wenn sie abends im Nachthemdchen durch die Wohnung huscht. Ich werde später noch bei ihr reinschneien. Das werde ich tun.
Um zehn Uhr abends komm ich in Solingen an. Vorm alten Hauptbahnhof warten die Taxis.
Ein Taxi.
“Zum Mumms”, sag ich.
“Mumms? Da ist doch tote Hose, donnerstags”, meint der Fahrer.
Der soll die Klappe halten und Taxifahren.
Endlich steh ich am Tresen. Das Mumms ist mein Wohnzimmer, und es sind Bekannte da. Weil mein Kugelschreiber leer ist, leih ich mir von Marina, der Zapferin mit dem netten Schürzchen, einen Stift mit roter Mine.
“Ich hätte auch gern einen Kuli mit roter Mine”, sag ich zu Karlos, der schon ziemlich hinüber ist.
“Ich kann dir meine rote Fresse leihen”, erwidert der.
Ich bin daheim.