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500beine für fooligan: WAT NE KANONE

Auch wenn ich in meiner Jugend chronischer Torschützenkönig war, ich kann mich nur an wenige Treffer genau erinnern. Darunter eine aus der Luft genommene Granate in Wuppertal (”Wat ne Kanone!”) und ein völlig verunglückter Elfmeterschuss in Baumberg am Rhein, wo ich halb in den Boden und halb vor den Ball trat.

Die entsetzten Aufschreie der Mitspieler im Rücken schaute ich der Pille hinterher, die wie in Superzeitlupe in Richtung Tor holperte, es sich kurz vor der Linie aber anders überlegte und eine grobe Unebenheit des Platzes nutzend von einem Hubbel abhob und dem verdutzten Keeper durch die fangbereiten Arme glitt: 1:0.

Mein erster Trainer hiess Alfred Becker. Ein kleiner sechzigjähriger Schlosser mit karierter Schiebermütze, der uns Jungs nicht gerade mit Samthandschuhen anfasste.
Den dicken Mario Duca hatte er besonders auf dem Kieker.
“Duca, fauler Hund! Dir kann man beim Laufen die Schuhe besohlen!”
Mario Duca, dem ich viele Jahre später die erste Begegnung mit der Gräfin verdankte, war einer von mehreren Söhnen italienischer Einwanderer in unserer Mannschaft. Wir hatten schon damals einen hohen Ausländeranteil, was hauptsächlich daran lag, dass der RSV aus dem Betriebssport hervorgegangen war.

RSV, das stand für Rasspe-Sport-Verein, und Rasspe war ein mittelständischer Hersteller von Landwirtschafts-Maschinen, viele Jahre einer der grössten Arbeitgeber vor Ort. Das Emblem von Rasspe, das auch hoch oben am Schornstein prangte, war ein dampfender Pfeifenkopf. Spötter nannten unseren RSV daher auch Ormsnut, Solinger Platt für: Atemnot.
Vereine wie die 1. Sportvereinigung, die immer in schmucken weissen Trikots aufliefen und vor Arroganz kaum aus den Augen gucken konnten, machten sich einen Spass daraus, uns zu verhöhnen, war der RSV doch ein Arbeiterverein durch und durch, beinahe britisch in seinem trotzigen Stolz.
Dass ich im Gegensatz zu meinen Mitspielern keine Schlosserlehre bei Rasspe absolvierte, sondern das Gymnasium besuchte, fiel mir eigentlich erst auf, als unsere Klasse kurz vor der Mittleren Reife eine Betriebsbesichtigung bei Rasspe machte.
Da standen meine Kameraden im Blaumann vor den lauten, ölverschmierten Maschinen, und ich kam mir reichlich schnöselig vor, in meinen glitzernden Blue Jeans.

Verrufen war der RSV in Solingen und Umgebung aber weniger wegen der sprichwörtlichen Atemnot oder der Arbeitervereinmentalität, sondern wegen des unmöglichen Platzes.
Der Platz war wirklich eine Rarität.
Teils Asche, teils Rasen.
Nicht Fisch, nicht Fleisch.
Ein Scheissplatz.

Die Asche erstreckte sich in Form eines grossen Hühner-Eis über den Spielplatz, nur an den Rändern und vor den Toren war Rasen ausgelegt.
Warum dies so war? Keine Ahnung. Vielleicht war den Altvorderen unterwegs das Geld ausgegangen, als der Platz 1909 angelegt wurde. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir jemals über die Gründe gesprochen hätten.
Es war halt so. Und fertig.

Aber der seltsame Platz hatte auch sein Gutes. Weil jeder danach strebte, auf dem (übrigens sehr gepflegten) Rasenbelag am Spielfeldrand zu stürmen, zogen wir automatisch ein offensives Flügelspiel auf, und ich war der Vollstrecker.
“Ihr sollt den mit den Locken decken!”, das war der Spruch, der mich in der Jugend durch die gegnerische Deckung brachte.

Eine weitere Besonderheit des RSV: Vereinsheim und Kabinen lagen etwa einen Kilometer vom Platz entfernt. Dazwischen waren Felder und Kartoffeläcker, die vor allem im Winter zu wahren Schlammwüsten mutierten.
Manch ein Team war schon erledigt, wenn es endlich unseren erbarmungswürdigen Nicht Fisch, nicht Fleisch-Platz erreicht hatte.
Wir waren schon eine gefürchtete Heimmannschaft.

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Die Todeself

Effizienz war das geringste Problem. Am 19. September 1941 marschierte die deutsche Wehrmacht in Kiew ein. Kaum 48 Stunden später hatten die Gäste 34 000 Juden umgebracht, eine halbe Million russische Soldaten in Kriegsgefangenenlager gesteckt und fingen bereits an, sich zu langweilen.

Zur allgemeinen Unterhaltung und Lockerung der angespannten Atmosphäre organisierten die Deutschen Fussball-Turniere. Das funktionierte so: Ein Team von gut durchtrainierten, wohlernährten Elite-Soldaten trat gegen eine Auswahl ausgehungerter, von den Entbehrungen des Kriegs gezeichneter Ukrainer an und demütigte diese, stellvertretend für die gesamte einheimische Bevölkerung, bis aufs Blut.

Ein Schatten aus Stahl und Tod hatte sich über das Land gelegt, und niemand vermochte ihm die Stirn zu bieten. Bis, eines Tages…

Ja, bis eines Tages die Betriebsmannschaft der Bäckerei Nr.1 auf den Plan trat.

Wie ein Lauffeuer machte die Nachricht die Runde. Die Bäcker aus Kiew hatten den Spiess umgedreht! Die Bäcker aus Kiew spielten wie die leibhaftigen Teufel! Die Bäcker aus Kiew gewannen ein Spiel nach dem anderen!

Der FC Start zahlte es den Deutschen heim!

Den Besatzern gefiel diese plötzliche Wendung der Dinge gar nicht. Sie setzten eine bisher ungeschlagene Flak-Elf auf die Bäcker an. Gute, schnelle, knallharte Jungs. Die Bäcker konnten nicht gewinnen. Die Bäcker gewannen 5:1.

Auch den Deutschen war längst klar, dass es hier um mehr als nur Fussball ging. Hier ging es um die Wirbelsäule eines niedergeknüppelten Volks. Die sich langsam, aber sicher wieder aufrichtete.

Also proklamierten sie ein Revanche-Spiel. Plötzlich hingen überall in Kiew Ankündigungen für die Partie; auf dem gleichen Papier, auf dem sonst die Erlasse publiziert wurden. Die Deutschen legten sich mächtig ins Zeug, stellten aus ihren Reihen die bestmöglichste Mannschaft zusammen und begannen sofort mit dem Training.

Und natürlich versuchten sie in Erfahrung zu bringen, warum zum Henker diese Bäcker so gut spielten. Sie setzten ihre Spitzel darauf an und fanden es heraus. Was sie hörten, gefiel ihnen gar nicht.

Hinter der Betriebsmannschaft der Bäckerei Nr. 1 steckten die Profi-Spieler der damals schon legendären Kiewer Fussballklubs Dynamo Kiev und FC Lokomotive. In den wirren Kriegszeiten hatten sie Asyl in der Brotfabrik gefunden. Top-Leute. Profispieler. Die Sahne der einheimischen Fussball-Elite.

Deshalb waren die Bäcker so gut.

Die Deutschen schäumten vor Wut und setzten einen SS-Mann als Schiedsrichter ein, der vor der Partie die Mannschaftskabine des FC Start betrat und die Spieler dazu aufforderte, erstens den deutschen Gruss formgerecht zu erwiedern und zweitens das Spiel zu verlieren. Ansonsten müsse man mit unliebsamen Konsequenzen rechnen. Wenn sich unter den Herren Spielern jemand befinde, der sich diesen zwei Bedingungen nicht gewachsen fühle, stehe es ihm selbstverständlich frei, zu gehen.

Der FC Start lief geschlossen auf. Das Zenit-Stadion war ausverkauft, die Stimmung war bedrohlich, und es wimmelte von SS-Männern und Schäferhunden; trotzdem waren Zehntausende gekommen. Viele von ihnen ahnten, dass es vielleicht die letzte Möglichkeit sein könnte, ihre Helden bei der Arbeit zu sehen. Als die Spieler des FC Start mit extra organisierten roten Trikots den Rasen betraten und den deutschen Gruss mit dem traditionellen Gruss des kommunistischen Sports beantworteten, stand die Menge auf wie ein Mann und presste die Faust an die Brust.

Das war nicht mehr Flak-Elf gegen Bäckerei Nr.1. Das war Deutschland gegen die Sowietunion.

Die Deutschen foulten unter den Augen des SS-Schiedsrichters, wo sie nur konnten und traten den gegnerischen Torwart bewusstlos. Trotzdem schossen die Bäcker ein Ding nach dem anderen. Das einheimische Publikum tobte und geriet derart in Ekstase, dass sich Nesthäkchen Klimenko, der bereits Verteidiger und Torhüter ausgespielt hatte, dazu hinreissen liess, den Ball auf der Torlinie zu stoppen und – statt ins Netz – zurück ins Spiel zu pfeffern.

Das Spiel war eine Ohrfeige für die Deutschen: Die Bäcker gewannen 5:3 und wurden zu Symbolen des Widerstands.

Zehn der elf Sieger wurden von der Gestapo verhaftet. Einer von ihnen wurde zu Tode gefoltert, die anderen ins Lager Siretz deportiert. Dort wurden die drei Beliebtesten von ihnen exekutiert, unter ihnen auch Nesthäkchen Klimenko.

Ein Zusammenhang zwischen ihrem Tod und dem gewonnenen Fussballspiel wird allerdings bis heute von rechtsgerichteten Kreisen bestritten und kann auch tatsächlich nicht erschöpfend nachgewiesen werden.

Wer sich eingehender mit dieser Geschichte beschäftigen will, der lese das Buch des Scorsese- und De Niro-Biographen Andy Dougan: Dynamo. Defending the Honour of Kiev

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Goal!

“Einige Leute halten Fußball für einen Kampf auf Leben und Tod. Ich mag diese Einstellung nicht. Ich versichere Ihnen, dass es weit ernster ist.”
Bill Shankley, Coach

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Schneesturm In München

Das Brüllen der zweimotorigen British Airways-Machine zerfetzte jäh die friedliche Stille, die der fallende Schnee seit Stunden über die pechschwarze Nacht gelegt hatte. Augenzeugen sollten später berichten, wie die AS-57 ungewöhnlich tief über die Dachgiebel der Häuser fegte, bis sie eines davon mit der rechten Tragfläche streifte, sofort in Flammen aufging und auf einem Acker zerschellte.

Im giftigen Zischen des brennenden Wracks löste ein junger Mann seinen Sicherheitsgurt, stand auf und sah sich um. Frank, der Reporter von der News Chronicle, hielt die Zeitung, die er gelesen hatte, immer noch in der Hand. Aber sein Kopf blickte jetzt, in seltsamer Opposition zu seinem restlichen Körper, durch aufgerissene, tote Augen über die Rücklehne hinaus ins Leere.

Bobby!

Irgendwo schrie jemand seinen Namen. Verdammt! Sollten sie lieber mal was gegen den Rauch tun.

Der schwarze Qualm biss sich in seiner Netzhaut fest und trieb ihm die Tränen in die Augen. Übel. Wirklich übel. Eine warme, dicke Flüssigkeit sickerte auf seine Zunge. Er kannte den Geschmack. Aber im Moment kam er einfach nicht darauf, woher.

Bobby!

Der Typ hörte nicht auf, zu schreien. Langsam ging er Bobby ernsthaft auf die Socken. Er starrte verständnislos in die Richtung, aus der die Stimme kam, und konnte jetzt durch den Rauch hindurch eine Gestalt ausmachen, die fuchtelnd auf ihn zukam, ihn packte und über brennende Frackteile und die leblosen Körper seiner Freunde hinweg durch die Flammen zerrte. Dabei spuckte er Worte, die kein Mensch verstehen konnte und stiess ihn ohne die geringste Vorwarnung durch ein schwarzes Quadrat hindurch in die Leere.

Bobby segelte durch das Nichts und landete in einem weichen, kühlen Bett aus Schnee. Na gut. Sollten doch einfach alle machen, wozu sie Lust hatten. Er würde erst mal liegenbleiben und eine Weile in den schwarzen Himmel schauen, aus dem tausende und abertausende von kleinen, weissen Punkten auf ihn herabtanzten.

Es wurde still. Bobby lächelte. Das war schon besser.

In der Maschine, die am 6. Februar 1958 über die Startbahn des Flughafens München-Riem hinausschoss, starben 21 Menschen. Sieben davon gehörten zur den legendären Busby-Babes, der Stammformation des Fussball-Clubs Manchester United. Gerade hatten sie das Europa-Cup-Spiel gegen Roter Stern Belgrad klargemacht und waren auf dem Rückflug in München zwischengelandet, um aufzutanken.

Der damals 19-jährige Bobby trug ein paar leichte Schrammen am Kopf davon. Sie verheilten schnell.

Acht Jahre später, an der Fussball-Weltmeisterschaft im eigenen Land, führte Captain Robert „Bobby“ Charlton seine Mannschaft ins Final in Wembley. Er war massgeblich dafür verantwortlich, dass Wunderkind Franz Beckenbauer keinen Fuss auf die Erde kriegte. England siegte mit 4:2 und wurde Weltmeister.

Dass der Pokal, den er an diesem Tag jubelnd durch das Stadion trug, eine Fälschung war, ist eine andere Geschichte. Bobby wusste es jedenfalls nicht. Das wussten zu diesem Zeitpunkt nur ganz wenige Leute.

Aber es wäre Bobby mit grosser Sicherheit auch völlig egal gewesen.

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2006 • März

Es ist Dienstag, früher Abend. Ich steh im Bad und rasier mich.
Gleich gehts zum Fußball. Alleine. Wie letztes Jahr gegen Schalke, als mir bei der Taschenkontrolle am Eingang ein übereifriger Ordner die Purpfeife abgenommen hat, weil die aus Metall war.
Nach dem Spiel konnte ich sie mir wieder abholen.
Spinner.

Das Badezimmerfenster steht offen. Im Hinterhof jätet der […]

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El Condor

“Zeige mir einen Helden, und ich zeige dir eine Tragödie.” Scott Fitzgerald

Sie nennen ihn den ‘Kondor’, und wenn die Chilenen von ihm sprechen, dann zittert ihre Stimme vor Ehrfurcht und Bewunderung.

In Chile ist er ein Volksheld. Und es ist nicht zu leugnen: Der Nationaltorhüter Roberto Rojas scheint nahezu magische Kräfte zu besitzen. Denn mögen die Ledergranaten auch noch so hart geschossen und noch so genau platziert sein, Rojas schwingt sich in die Lüfte und pflückt sie alle aus dem Himmel.

Und heute, am 3. September 1989, liegen die Hoffnungen seiner Heimat ganz besonders auf ihm.

Chile und Brasilien haben sich in der Qualifikation für die Weltmeisterschaft 1990 ein verbissenes Duell geliefert, und alles hängt nun an der letzten Partie. Für Chile ein Auswärtsspiel. Das Stadion in Rio de Janeiro ist bis auf den letzten Platz ausverkauft, die Stimmung kocht, und die beiden Mannschaften prallen aufeinander wie zwei D-Züge in voller Fahrt.

Es ist eine Partie, in der keine Gefangenen gemacht werden: Beide Teams kämpfen ohne Rücksicht auf Verluste, und die aggressive Stimmung auf dem Spielfeld überträgt sich auf die Zuschauer. Die brasilianischen Fans schreien sich in den Blutrausch; immer wieder landen Gegenstände auf dem Spielfeld.

Als Brasilien dann noch mit 1:0 in Führung geht, muss auch dem optimistischsten Chilenen klar sein, dass es jetzt schwer wird. Sehr schwer.

Plötzlich zuckt ein heller Pfeil durch die Nacht. Aus der johlenden Menge fliegt eine Leuchtrakete direkt auf den chilenischen Nationaltorhüter zu. Ein Blitz! Ein Schrei! Rojas, der Kondor, der Liebling des chilenischen Volks, wälzt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden.

Das Spiel wird unterbrochen, alles rennt zu dem Torhüter, der aus einer hässlichen Fleischwunde im Gesicht so heftig blutet, dass ein Raunen des Entsetzens durch das Stadion geht.

Auf dem Platz spielen sich jetzt tumultartige Szenen ab; nur mit Mühe können die Schiedsrichter die beiden Teams davon abhalten, aufeinander loszugehen. Rojas wird auf einer Bahre vom Feld getragen; der frische Verband um seinen Kopf ist blutgetränkt.

Die chilenische Mannschaft weigert sich geschlossen, die Partie fortzusetzen und verlässt unter dem ohrenbetäubenden Pfeifkonzert der brasilianischen Fans das Stadion.

Ganz Chile fürchtet um den Kondor und hält den Atem an. Als nach einer ersten Untersuchung bekannt wird, dass Rojas keinen ernsthaften Schaden davontragen wird, geht ein Seufzer der Erleichterung durch das Land.

Natürlich gehen die Chilenen davon aus, dass das Spiel annuliert, Brasilien für diese Ungeheuerlichkeit bestraft und Chile die Qualifikation zugesprochen wird.

Zunächst sieht es auch so aus. Aber dann taucht ein Foto auf. Ein Foto, das den Einschlag der Leuchtrakete zeigt.

Zwei Meter von Roberto Rojas entfernt.

Rojas gibt sofort alles zu. Die Chilenen sind schockiert. Noch schockierter sind sie, als Rojas eingesteht, sich die Wunde im Gesicht selbst zugefügt zu haben. Mit einem Messer, das er speziell zu diesem Zweck unter seiner Kleidung getragen hatte. Er hat nur auf eine Gelegenheit gewartet, es zu benutzen.

Auf Grund dieser Vorfälle wird Chile disqualifiziert, muss 31′000$ Strafe zahlen und ist für die Weltmeisterschaft 94 in den USA gesperrt. Das chilenische Volk wendet sich von seinem einstigen Helden ab und beschimpft ihn als verachtungswürdigen Feigling.

Das ist die Geschichte von Roberto Rojas, dem Kondor, dem geborenen Torhüter, der nach dem Vorfall in Rio auf Lebenszeit gesperrt wird.

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2006 • März

Carlotta hat mir gestern gesagt, ich sei der einzige Mensch, den sie kennen würde, der sich die Schuhe schnürt.
Und gerade meinte sie, sie hätte noch nie eine Single gesehen. Eigentlich hat sie gar nicht gesagt, sie habe noch nie eine Single gesehen, es hat sich eher im Rahmen eines Gesprächs rausgestellt, dass sie gar […]

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Viva México!

“Alles, was ich über Solidarität weiß, habe ich beim Fußball gelernt.” Albert Camus

AUGUSTO MARIAGO war ein strenger Mann. Das muss man auch sein, wenn man es Tag ein, Tag aus mit gefährlichen Kriminellen zu tun hat. Und oh ja, das hatte er. Schliesslich war er der Direktor des Gefängnisses für Schwerverbrecher in Guerrero, Mexiko.

Am 7. Juni 1970 spielt die Mexikanische Nationalmannschaft im Zuge der Weltmeisterschaft im eigenen Land um alles oder nichts. Zwar hatte man Gruppengegner El Salvador mit 4:0 vernichtet, aber erst das Spiel gegen die ‘Roten Teufel’ aus Belgien würde entscheiden, welche der beiden Mannschaften das Viertelfinal erreichen sollte. Ganz Mexico starrte wie gebannt auf das Azteca-Stadion in Mexico City und hielt den Atem an.

Der strenge Augusto Mariago verfolgte das Spiel in seinem Büro, das er eigens zu diesem Zweck mit einem Fernseher ausgestattet hatte.

Kurz vor Ende einer nervenaufreibenden Zitterpartie entschied Mexico das Spiel durch einen heftig umstrittenen Elfmeter für sich und zog ins Viertelfinale ein.

Augusto Mariago war ein strenger Mann, kein Zweifel. Aber zuallererst war er Mexikaner. Als der Schlusspfiff den Sieg besiegelte, sprang er schreiend auf, griff sich seinen Dienstrevolver und rannte, ‘Viva Mexico’ brüllend und wild um sich schiessend, durch die Gänge der Strafanstalt.

Und schloss alle Zellen auf.

Denn, natürlich handelte es sich um Schwerverbrecher und Kriminelle. Aber zuallerst waren es Mexikaner, und an einem solchen nationalen Freudentag erschien selbst dem strengen Augusto Mariago eine Amnestie mehr als angebracht.

142 Mörder, Vergewaltiger und gemeingefährliche Irre ergriffen jubelnd die Flucht und waren schnell im Schutz der umliegenden Vegetation verschwunden.

Augusto Mariago wurde vor Gericht gestellt und freigesprochen. Er habe, so das Gerichtsurteil, aus patriotischer Erregung gehandelt.

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Der Fussballkrieg

In den frühen Morgenstunden des 14. Juli 1969 tauchte über Tegucigalpa ein Propeller-Flugzeug des Typs P-51 auf, warf über dem Zentrum der Stadt eine Bombe ab und verschwand am Horizont.

Die Explosion, die mehrere Wohnhäuser in Stücke riss, versetzte die Hauptstadt Honduras’ in Angst und Schrecken und markierte den Anfangspunkt zu einem kurzen, aber erbitterten Krieg zwischen zwei lateinamerikanischen Nachbarstaaten.

Auf den ersten Blick betrachtet hat ein bewaffneter Konflikt dieser Art nichts Ungewöhnliches. Der Krieg, so Clausewitz, ist auch nichts Anderes als die Fortsetzung der Diplomatie mit anderen Mitteln.

Aber für einmal lag der Stratege falsch. Im vorliegenden Fall war der Krieg nicht die Fortsetzung der Diplomatie. Sondern die Verlängerung eines Fussballspiels.

Das Hinspiel in Rahmen der Qualifikation für die Weltmeisterschaft 1970 in Mexiko fand im bereits oben erwähnten Tegucigalpa statt. Zwischen Honduras und El Salvador war es bereits seit längerem zu politischen Scharmützeln gekommen, da Wirtschafsflüchtlinge aus Salvador brachliegendes Land in Honduras besetzt hatten. Dementsprechend geladen war die Stimmung am Vorabend des Spiels, als die Mannschaft aus Salvador in einem Hotel der honduranischen Hauptstadt Quartier bezog.

Keiner der Spieler sollte ein Auge zumachen: Das Hotel wurde von einer schreienden und pfeifenden Menschenmasse belagert, Steine flogen in die Zimmerfenster, Böllerschüsse wurden abgefeuert und die Fahrzeuge angereister Fans in Brand gesteckt. Die Explosionen der Tanks waren bis in die frühen Morgenstunden zu hören.

Am darauffolgenden Sonntag besiegte Honduras die zitternden Nervenwracks aus Salvador mit einem effizienten 1:0. Das entscheidende Tor durch den Stürmer Cardona fiel in der letzten Minute und traf Salvador wie ein Schlag.

Ganz besonders wie ein Schlag traf es Amelia Bolanios. Sie weinte bitterlich, schaltete den Fernsehapparat ab und schoss sich mit der Pistole ihres Vaters ins Herz. Sie war zwölf Jahre alt.

Die Zeitungen machten das patriotische Mädchen zu einer Märtyrerin, und zu ihrer Beisetzung erschienen Hunderttausende. Und die Nationalgarde. Und der Präsident Salvadors. Und die Nationalmannschaft.

Eine Woche später fand in San Salvador das Rückspiel statt. Wie man sich vorstellen kann, standen die Zeichen nicht auf Entspannung.

Die Salvadorianer revanchierten sich herzlich für die Gastfreundschaft, die ihren Spielern eine Woche zuvor in Honduras zuteil geworden war. Das Hotel wurde vom hysterischen Mob mit Tierkadavern bombardiert und buchstäblich zerlegt. Als endlich der Morgen kam, wurden die übernächtigten Spieler mit bewaffneten Panzerwagen ins Stadion gebracht, das mehr an eine militärische Sperrzone als an den Austragungsort eines Fussballspiels erinnerte. Hunderte von Soldaten der Nationalgarde mit entsicherten Waffen hatten das Spielfeld umstellt, und statt der Flagge von Honduras flatterte ein fäkalienbeschmutzter Fetzen an der Fahnenstange.

Einen Sieg hätte die Nationalmannschaft Honduras’ wohl kaum überlebt. Aber soweit kam es glücklicherweise nicht. Gastgeber Salvador triumphierte mit einem eindeutigen 3:0 und erzwang ein Entscheidungsspiel ( – das tatsächlich wenig später noch ausgetragen wurde; allerdings auf neutralem Boden in Mexiko-City. Salvador gewann 3:2 und ging dann in der ersten Runde der WM sang- und klanglos unter).

Die Verlierermannschaft wurde umgehend zum Flughafen eskortiert und kam mit der Schande davon. Die honduranischen Fans hatten nicht soviel Glück. Sie wurden niedergeknüppelt, verfolgt, und viele von ihnen schafften es nicht mehr über die Grenze.

Aber die wurde ja wenige Stunden später sowieso geschlossen.

Der Krieg trägt in der 1945 beginnenden Zählung der Hamburger Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (Akuf) die Nummer 100, und kurioserweise dauerte er auch genau 100 Stunden. Das hohe Mass an Opfern zeugt von der Entschlossenheit, mit der er geführt wurde. 5000 Menschen liessen ihr Leben, doppelt so viele wurden verletzt. Nach fünf Tagen erzwang die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) einen Waffenstillstand.

Die beiden Kriegsparteien Honduras und Salvador trennten sich mit einem 0:0 unentschieden.

Die damalige Öffentlichkeit beachtete diesen Zwischenfall kaum. Denn die Aufmerksamkeit der Welt wurde von einem anderen Ball in Anspruch genommen. Einem sehr grossen Ball, der sich seit sehr langer Zeit mit einer Orbitalgeschwindigkeit von 1.03 km/s um die Erde dreht.

Der Schatten, den Stürmer Neil Armstrong zwei Tage nach Einstellung der Kampfhandlungen auf die kalte Mondoberfläche warf, schob sich auch vor das Geschehen in Lateinamerika. Und machte es zu einer Randnotiz des Weltgeschehens.

Zum Thema: Der polnische Journalist und Autor Ryszard Kapuscinski hat diesen Krieg hautnah miterlebt. Was der Mann als Auslandskorrespondent in Afrika, Asien und Lateinamerika erlebt hat, beschreibt er umwerfend und clever in seinem Buch ‘Der Fussballkrieg’