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Nicht für das Leben

Der Standardalbtraum des westlichen Menschen dreht sich nicht um einen Atompilz über seinem Heimatdorf, nicht um ein Messer, das er seinem Vater in den Rücken bohrt, nicht einmal um das Verschwinden der Regenwälder. Der westliche Mensch träumt, dass er in die Schule kommt und alle wissen, dass eine Prüfung ansteht. Nur er nicht. Manchmal träumt er auch die Variante, dass mitten in seinem Studium einer übergeordneten Behörde aufgefallen ist, dass er noch einen Test in evangelischer Religionslehre absolvieren muss, um sein Abitur zu bekommen, aber sehr spät dran ist damit.
Der Mensch, aufrechter Beherrscher der Savanne, der im Gegensatz zu Affen durch nachäffen soviel lernen kann, der im Rohzustand wissbegierig ist wie es nicht tausend Delfine sind, der hat ein Lerntrauma. Warum ist das so?

Zuerst möchte ich mich, ganz der Psychoanalyse ergeben, den Gestalten widmen, die in meinen Träumen auftauchen. Denn man träumt schließlich nicht ein System, man träumt Menschen. Ich fange an mit Herrn Stoer, dem Musterbeispiel dafür, dass es kein richtiges Lehren im falschen gibt.

Unser Kunstlehrer Herr Stoer war ein Pracht-Mensch. Er sah aus wie Antje, das NDR-Walross, in schlank, fuhrwerkte fortwährend in seinem Gesicht herum wie Mel Brooks (mit der ganzen Hand von der Glatze herunterkommend in einer Bewegung Nase und Kinn zusammenschieben, dabei schmatzen), führte jedes Bild, das wir malen sollten, mit liebevoll ausgedachten Geschichten ein, an die ich mich noch erinnere – eine ging so:

In Siena sind alle Häuser rot, alle Straßen und sogar der Himmel. Am Strand, dessen Sand rot ist, liegen Menschen unter roten Sonnenschirmen, die trotz der Sonnenschirme auch langsam rot werden. Wir sollten durch diese Geschichte erkennen, dass Farben Nuancen haben, dass rot im Scheinwerferlicht anders aussieht als im Schatten. Wie könnte man das besser lernen als in Stoers ausführlichst erzählter, mit vielen Nebenkriegsschauplätzen – Erdbeereisverkäufer, Ketchupsuppenküchen, Feuerwehrwagen – ausgestatteter, unter geräuschvollem Gesichtskneten dargebotener Geschichte?

Außer dem Verstehen der Farben verdanke ich noch drei Dinge Herrn Stoer. Mein erstes außerkörperliches Erlebnis, meinen ersten Eva-Herman-Moment und etwas für das Leben.

Wir sollten eine Zeichnung mit Tusche anfertigen, dafür hatten wir Tuschefässchen kaufen müssen. Und auf gar keinen Fall, niemals nicht dürften wir unsere Mitschüler mit Tusche beschießen. Unterhalb der Todesstrafe wäre eine Sanktion in diesem Fall nicht denkbar. Herr Stoer ging raus, einige Minuten war er schon weg, da fingen Ben Becker und ich an, uns gegenseitig die Ohren zu flitschen, auf den Rücken zu hauen und selbstverständlich tauchte ich meinen Stift in das Tuschefässchen, um Ben Becker von oben bis unten zu schwärzen. Da kam Herr Stoer wieder rein. Er brüllte mich so laut an, dass Tauben von den Dächern der Schule stürzten, Gott sich ob der Flüche die Ohren zuhielt und der Teufel ein Stockwerk tiefer ging. Ich betrachtete die Szene von außen und dachte: Das arme Schwein, das da angeschrien wird.
Außerhalb meines Körpers kann ich ein sehr empathischer Mensch sein.

Meinem Eva-Herman-Moment ging ein Augenblick der Selbsterkenntnis voraus. Ich saß vor einem Selbstbildnis, das wir anfertigen sollten und sagte: „Das ist entartete Kunst.“
Herr Stoer wirbelte herum und rief: „Da! Du weißt gar nicht!“, er schlug die Hände über dem Kopf zusammen und näherte sich: „Was du da gesagt hast!“ „Doch, doch, die Nazis haben den Begriff verwendet, aber wenn ich ein Bild von mir zeichnen soll und es dann so aussieht – mhm?“

Herr Stoer seufzte angewidert, sagte: „Jaja, ein ganz Schlauer, aber malen tut er mit zwei linken Füßen“ und überließ mich wieder meinem überhaupt nicht Alter-Ego. Vielleicht doch kein Eva-Herman-Moment, ich musste schließlich nicht die Klasse verlassen. Und um eine Wertedebatte ging es mir auch nicht, allerdings fand ich, dass meine Mutter in die Küche gehörte, aber das lag eher an ihren Rouladen. Denkbar, dass Eva Hermans Mutter sehr gut gekocht hat.

Und was lernte ich fürs Leben? Durch Herrn Stoer lernte ich, dass ich nicht malen kann.
Meine Menschen waren seit eh und je Cephalopoden, meine Linien Krümmungen, meine Farbwahl die eines drogentoten Blinden. Jetzt wusste ich, dass das nicht geht. Dass das eine höchstens ausreichende Leistung ist. Eigentlich gar nicht bewertbar.

Also hörte ich auf, zuhause seeuntüchtige Wikingerschiffe zu malen und grüne Spinnennetze und ich malte meiner Mutter auch keine Miróbilder mehr, mit denen ich ihr zuvor immer wieder beweisen wollte, dass sie einen Künstler verehrt, dessen Bilder sogar ihr Sohn malen kann.

Für die einen mag der Himmel noch nicht die Grenze sein. Für mich ist er eine gerade Linie. Und die bekomme ich nicht hin.

wikinger.jpg

14 Kommentare

  1. 01

    Wunderbar, einfach herrlich die Geschichte.Danke.

  2. 02

    Ach wenn ich doch nur so malen könnte!

  3. 03
    dingsda

    hä? niemand hat sex?

  4. 04
    Jan(TM)

    Bei dem Tuschenkindheitstrauma ist es kein Wunder das Ben Becker noch heute Probleme hat.

    Und nächstes mal bitte eine Geschichte mit Sex, der Lieblingslektorin und irgendwas zum Thema „Dürfen Linke rechts blinken?(und umgekehrt)“.

  5. 05

    @dingsda: Also mein Kunstlehrer hatte Sex mit einer Klassenkameradin, falls es Dich beruhigt.

  6. 06

    Malte, kannst Du endlich mal mit diesem Eva Hermann Gedöns aufhören? Schrecklich, dass man überall mit dieser Unperson konfontiert wird.

  7. 07
    knecht

    wunderschön, das ist einfach,… ja ich nenne es kunst.
    danke malte.

  8. 08

    Immerhin hast auch Du auf Endlospapier gemalt — unsere Kinder kennen das nicht mehr.

  9. 09
    Jens

    So, so Wikingerschiffe. Wenigstens kannst du schreiben.
    Jetzt zeig doch auch mal die Miróbilder.

  10. 10
    heidrun

    schön.
    mein biolehrer sah auch aus wie das walross. ein aachener doppelleben?
    kunstunterricht – auch so ein aufreger-thema. mein kunstlehrer war ein rechthaberischer nazi & gescheiterter künstler, der mir viel böses wollte. da haste glück gehabt.
    @ stralau: meine kleine schwester klebt einfach die ganzen bögen aneinander. und natürlich malt sie die tollsten bilder der welt.

  11. 11
    Maltefan

    Für die einen mag der Himmel noch nicht die Grenze sein. Für mich ist er eine gerade Linie. Und die bekomme ich nicht hin.

    :-)

  12. 12
    xconroy

    Wann kommen die anderen außerkörperlichen Erlebnisse und die folgenden Eva-Herman*-Momente? (weil,von wegen „erste/s“)?

    *ist Eva Herman in Kleinbloggersdorf das, was Ron Paul bei digg ist?

  13. 13

    Ich musste tatsächlich ein paar mal laut lachen, als ich deine Story gelesen hab.
    Jaja, auch vor launischen Kunstlehrern muss man als Schüler gefeit sein.