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Pepe II

(Hier ist Teil I)

Im Juni klingelte das Telefon, unbekannte Nummer mit kryptischer Vorwahl. Zugezogene Berliner gehen in solchen Fällen im Sommer selten ans Telefon, weil die Wahrscheinlichkeit, dass wildfremde Menschen anrufen und um Hauptstadtasyl bitten, zur Unumgänglichkeit wird in Monaten ohne r. Schwippschwager dritten Grades erinnern sich plötzlich des ‚lieben‘ Verwandten im Schatten des Fernsehturms und fragen nach einem Schlafplatz, ’nur für kurze Zeit‘ selbstverständlich, maximal drei Wochen oder so. Es reicht schon, einmal einen beinah Unbekannten in das Arbeitszimmer einquartiert zu haben, schon steht man im Ruf, eine bessere Bahnhofsmission zu sein. Ich kenne das, denn auch ich war einmal ein guter Mensch. Unverzeihlicherweise nahm ich den Hörer ab.

„Hi Fre… Fre… Ähm. Hi“, sagte das Telefon.
Die Stimme klang matt und grau.

„Moin Pepe“, sagte ich, es war drei Uhr nachmittags. (Ich sage immer „Moin“, auch wenn es mitten in der Nacht ist. Das ist eine Art Charakter-Frühwarnsystem. Jeder, der mit einem dämlichen Spruch antwortet, ist mit Sicherheit ein pedantischer, gezwungen jovialer, kleingeistiger Idiot, der weiterer Unannehmlichkeiten (die eine zwischenmenschliche Beziehung ja leider immer mit sich bringt) nicht lohnt. Kann ich empfehlen, klappt immer, außer in Hamburg.)

Pepe räusperte sich.

„Kann ich vorbeikommen.“
„Wann denn?“
„Übermorgen.“
„Und für wie lange?“
„Weiß noch nicht.“

Pepe schwieg. Selbst sein Schweigen klang matt und grau. In seiner Stimme war nichts mehr von diesem verträumten, abwesenden Singsang gewesen, nur Alter und Müdigkeit und Überdruss.

„Gut“, sagte ich. „Warum nicht.“

Natürlich gab es viele Gründe, ‚warum nicht‘. Unter anderem jenen nicht ganz unerheblichen, dass mir Zaza jenen Part meines Gehirns, das immer zu solchen unüberlegten Zusagen tendierte, mittels ihres Zeigefingers herausoperieren würde, und zwar durch die Nase. Glücklicherweise weilte sie gerade bei ihren Eltern, zwei Wochen. Oder aber der Umstand, dass ich, weil just in diesem Moment mit dem Endlektorat für mein erstes Buch beschäftigt, das Arbeitszimmer brauchen konnte. Und Zeit. Und Ruhe. Und überhaupt.

Am Abend klingelte es an der Tür. Hat Zaza schon wieder den Schlüssel verloren, dachte ich, als ich den Türöffner drückte, die Haustür anlehnte, ins Wohnzimmer ging und mich auf dem Sofa lang machte. Keine zwei Minuten hörte ich ein müdes, farbloses ‚Hallo‘ durch die Weite unserer Wohnung hallen, das klang, als käme es vom anderen Ende der Welt.

„Hallo?“

Vor mir stand ein bärtiger junger Mann in ungebügeltem weißen Hemd, der aus blutunterlaufenen Augen auf den Boden starrte. Seine Arme pendelten am Torso entlang, sein Kinn war am Brustbein festgewachsen. Unter seinem ungepflegten, wuchernden Bart schimmerte gräulich die fahle Haut durch. Ich hatte plötzlich das Bedürfnis, das Fenster aufzureißen.

„Hi Pepe“, sagte ich.

Ich wies ihm den Weg ins Wohnzimmer, nahm zwei Bier aus dem Kühlschrank, gab ihm eines und setzte mich aufs Sofa. Pepe stellte sich neben den Fernseher, ins andere Eck. Wannimmer ich ein Wort sagte, wich er einige Milimeter zurück, als würde ich ihn beschießen. Nach einer Viertelstunde stand er direkt an der Wand.

Ich sprach übers Wetter. „Ähm, ja, also, das ist hier ja wie Istanbul, dieses Viertel“, sagte er.

Ich fragte ihn, warum er in Berlin sei. „Machst Du eigentlich irgendwas, ja“, sagte er.

Ich verlor ein Wort über alte Bekannte, die auch in Berlin lebten. „Schön, ja, also, da bin ich, ja“, sagte er. Und: „Also, ja, danke fürs hiersein.“

Ich gab vor, schlecht zu riechen, und flüchtete in die Dusche. Zwanzig rituelle Waschungen später verließ ich aufgedunsen und sauber wie nie zu vor das Badezimmer und sah mich um: Pepe lag auf dem Sofa, in seinen Mantel gebettet, und schlief. Seine Sachen lagen mutwillig auf dem Boden des Wohnzimmers verstreut. Vor ihm stand aufgeklappt mein Rechner und surrte leise vor sich hin.

Es gibt wenige Dinge, die Bekannte und Freunde nicht ungefragt anfassen dürfen, es sind genau drei. Manuskriptschrank, Rechner und alles unterhalb des Bauchnabels: das sind verbotene Städte. Wer sich dort aufhält, dem wird die Zunge rausgeschnitten.

Ich nahm meinen Rechner an mich, der aufgeregt flackerte: drei Tabs waren offen. Facebook, der Mailaccount und eine flickr-Seite.

Ich erwähnte es bereits, ich war – es ist schon ein wenig her – einstmals ein guter Mensch. Ein kleiner Rest davon lebt immernoch in mir, weswegen ich ganze vier Sekunden darüber nachdachte, die Tabs einfach zu schließen, Zaza anzurufen und sie zu fragen, ob wir nicht spontan an die Ostsee fahren wollten für drei Wochen und zu warten, bis die Zeit Pepe wieder hingekriegt hätte. Stattdessen nahm ich den Rechner an mich und spazierte in meine Stammkneipe ums Eck.

„Alles wie immer?“, brüllte Dragan, der Wirt.
„Kann man so nicht sagen“, murmelte ich.
„Was?“, brüllte Dragen, der immer brüllte, weil er in Folge eines Jagdunfalls, sagte er, schwerhörig geworden war. Den meisten Schwerhörigen geht es wie allen Menschen, sie glauben, alle Welt müsse ihre Wahrnehmung teilen. Weil sie selbst zwischen pianissimo und mezzoforte keinen Ton verstehen, gehen sie davon aus, allen anderen Menschen müsse das genau so gehen.

Ich nickte und begann, mich durch Pepes Privatleben zu klicken. Der Flickr-Stream gehört einer gewissen Leila, die sich ausdauernd und in jedem erdenklichen Winkel selbst fotografiert hatte, meist mit offenem Mund und neckisch in die Kamera lächelnd. Sie war eine Art Photoshop-Schönheit, glatt und zart, mit großen Augen, immer alleine oder mit einer anderen, etwas weniger hübschen Freundin. Sie hatte die Sorte Gesicht, die man glaubt schon hundert Mal gesehen zu haben, ein Talkshow-Moderatorinnengesicht, ein B-Modell-Gesicht, aus dem man nichts lesen kann. Oder aber alles.

Pepe hatte sich für „alles“ entschieden. Sein Mailordner quoll über mit Entwürfen von Liebesmails, in denen er von Stränden sprach, von Bergen, von Blumen, von Tieren, von verwunschenen Orten und all dem anderen Humbug, den sich frisch Verliebte aus dem endorphingefluteten Hirn saugen. Er hatte Gedichte geschrieben, ellenlang, und viel davon erzählt, wie er einsam durch die Straßen diverser Städte eierte und dabei Glühbirnen diverser Straßenlaternen in Augenschein nahm.

So ging das seitenlang, einige ausgesucht schwülstige Mails hatte er sogar abgeschickt. Geantwortet hatte Leila offensichtlich nie, vielleicht sprach sie kein Deutsch: auf dem Facebook-Profil, das sich im dritten Tab versteckte, stand, sie stamme aus England, sie studiere in Italien und, als erstes Update, „heading Berlin“. Aha.

Als ich nach Hause kam, war das Sofa leer, Pepes Sachen waren verschwunden. Aus dem Arbeitszimmer hörte ich es werkeln, als ich leise anklopfte, antwortete mir eine bedächtige Stille. Ich versuchte, die Tür zu öffnen, aber sie war abgesperrt.

In den nächsten zwei Tagen war von Pepe nichts zu hören, nichts zu sehen. Nur sein eigenartig schwefeliger Geruch hing zwischen den Wänden, und seine Schuhe standen im Gang. Hin und wieder klopfte ich an seine Tür, doch er antwortete nicht: vergraben in meinem Arbeitszimmer, roch er vor sich hin.

Als ich zwei Tage später nach Hause kam, war die Wohnung leer, die Tür zum Arbeitszimmer stand weit offen.

Pepe war verschwunden.

Es wunderte mich nicht. Wäre es nicht Pepe gewesen, wer weiß, vielleicht hätte ich mir Sorgen gemacht oder mich geärgert. Aber Pepe hatte sich schon immer verhalten wie eine Naturkatastrophe: entweder, man akzeptierte, dass er über das eigene Leben hereinbrach und irgendwann weiterzog und versuchte, einen Umgang zu finden. Oder man verzweifelte daran. Nachdenken brachte nichts.

Manche in früher Kindheit narzistische Charaktere tendieren dazu, sobald sie aus dem Elternhaus sind, sich in Selbstzweifeln zu ergehen und beginnen, weil sie die verlorene Liebe eines überengagierten Elternteils nicht finden können in ihrem Umfeld, zwischen Paranoia und Omnipotenz zu oszillieren. Klassischerweise durchlaufen sie dann eine Regression, das heißt, sie flüchten sich hinter angelernte, aber bereits überwundene Verhaltensweisen zurück: sie vernachlässigen die Hygiene, sie ziehen sich zurück, sie verstecken sich.

Drei Wochen nach Pepes Besuch kam der Anruf seiner kleinen Schwester. Ob wir wüssten, wo Pepe sei, nein. Ob wir ihn gesehen hätten die letzte Zeit, kann man so sagen. Ob wir wüssten, wohin er gehen wollte, nein. Was denn überhaupt mit ihm los sei.

Die Schwester seufzte. Angefangen hatte es wohl damit, dass Pepe nach Stuttgart gezogen war, um dort zu studieren, wie sein Vater immer sagte, Kunst. Er habe wohl Geschmack am Reisen gefunden und sich vom Nahen Osten bis nach Brasilien, von Indien bis nach San Francisco treiben lassen, ohne Absicht. Er habe wohl hin und wieder nach Hause geschrieben, von dieser oder jener Frau erzählt, Clara, Marcella, Zeruyah, die Namen haben gewechselt wie die Briefmarken. Im Laufe der Zeit habe er immer seltener geschrieben, irgendwann überhaupt nicht mehr. Er habe wohl, habe sich im Nachhinein herausgestellt, in Peru in einem sozialen Projekt einen Job gefunden. Währenddessen, sie schluckte, habe zu Hause die Mutter einen Schlaganfall erlitten. Jetzt könne sie nicht mehr sprechen und nicht mehr laufen. Das habe er aber erst sechs Monate später erfahren. Das sei jetzt zwei Monate her. Er sei bisher nicht zu Hause gewesen.

Jede Geschichte, die tragisch ist, klingt in ihrer Zusammenfassung nach einer Karrikatur. Genauso, wie mir Pepe als Karrikatur erschien, als er durch unsere Wohnung spukte, kam mir jetzt seine kleine SChwester vor. Ich stand in der Küche und rauchte, sah auf den aufgeräumten Schrank, die Gläser blitzten, wir hatten kürzlich die Spülmaschinentabs ausgetauscht. Ich sah auf die frisch gewischte Tischplatte, gestern hatte ich dort Zwiebeln geschnitten. Ich sah die Flecken an der Wand hinter dem Mülleimer und dachte: „Ein Glück, dass ich noch ein bisschen Wandfarbe dahabe, vielleicht lässt sich das überstreichen.“

Das ist jetzt drei Monate her. Pepe meldet sich hin und wieder, mit Postkarten oder kleinen Mails. Er ist wieder nach Hause gezogen, er macht jetzt eine Ausbildung, Graphik-Design. „Was reelles“, hatte er geschrieben, da habe ich ein bisschen gelacht. Aber nur leise.

Die erste seiner Mails kam drei Wochen nach dem Anruf der Schwester. Er bedankte sich für die schöne Zeit in Berlin und schrieb, es falle ihm schwer, jetzt, da er zu Hause sei, sich wieder an Deutschland zu gewöhnen. Er habe die Gewohnheit angenommen, morgens den ZDF-Fernsehgarten zu schauen, das beruhige ihn.

Und am Ende hatte er mich gefragt, wie es mir so gehe.

13 Kommentare

  1. 01
    Mads Bjørnstad

    Schönes Ding.

    Etwas gewählt und verhalten für meinen Geschmack.
    Im Zweifelsfall ist Montag und tja, auch einen Text kann man upmashen.

    Schönes Ding.

  2. 02
    JanM

    Sehr schön. Vielleicht bisschen antiklimaktisch im Abgang.

  3. 03

    Sehr schön!

    Moin sage ich auch immer, allerdings nicht um die Leute zu testen sondern einfach so.
    Bei „Graphik-Design. „Was reelles““ musste ich schlucken. Aber wenigstens konntest du lachen, wenn auch leise ;)

    Freue mich schon auf die Fortsetzung!

  4. 04
    Thoma

    „[…] (Ich sage immer „Moin“, auch wenn es mitten in der Nacht ist.[…])“

    Tja, warum solltest Du auch nicht IMMER „moin“ sagen. Schließlich ist „Moin“ die Kurzform von „muien Dag“, was soviel wie „guten Tag“ bedeutet… oder „muien Obend“, eben „guten Abend“.
    „Moin“ heißt also einfach „Guten“ [irgendwas]

    Und NICHT(!!!), wie viele fälschlicherweise glauben „Morgen“

  5. 05

    Moin ist und bleibt universell, aber das nur am Rande. Eine sehr schöne Geschichte und ich freue mich auf weitere.

  6. 06
    schaumalda

    @thoma
    LOL Lies den Text nochmal ;-)

  7. 07

    @#768424:

    Wenn schon klugscheissern dann richtig: Das heisst nicht moin, sondern mooooin. Mit langem O. So. Mussjamalgesagtwerden.

  8. 08
    max12

    schön zu lesen

    aber dieses: sagte ich, sagte er, sagte ich, sagte er

    ganz furchtbar, und auch adequat nicht im geringsten zu umgehen *grübel*

  9. 09
    Ariane

    Ich finds auch sehr schön!

    Und am besten beim Moooiiiiiiin ist noch, wenn man das Ende des Wortes ein wenig singt :)

  10. 10

    Der Fernsehgarten kommt doch nur sonntags. Völlig unrealistisch, das Ende!!^^ Davon ab habe ich sehr gern gelesen.

  11. 11

    @ critter: Da muss ich dir Recht geben. Und wer bis dann schon aus dem Bett gefallen ist, der wird das sicher nicht einschalten *lol*

  12. 12

    @Betten Hüpfer; @ critter: Ich kann euch versichern, dass der Fernsehgarten ein echter Hingucker sonntags ist. Macht das mal nicht so schlecht!