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Der Heimvorteil: Professor Dr. Bernd Strauß klärt uns auf

Jeder Fan ist davon überzeugt, dass er seine Mannschaft zum Sieg schreien kann, manche würden sogar darauf schwören, dass es einen Unterschied macht, ob sie – wenn sie ein Spiel im Fernsehen schauen – zwischendurch die Toilette aufsuchen oder nicht. Ebenso glauben die Spieler selbst daran, dass die Unterstützung durch die Fans ausschlaggebend ist.
Auch die Sportwissenschaft kann die Existenz des Heimvorteils belegen.
Aber eine Tatsache scheint es auch zu sein, dass mit steigender Bedeutung des Spiels die Zuschauer sich zur Belastung für die Spieler entwickeln und der Heimvorteil sich in sein Gegenteil verkehren können.
Es gibt das Phänomen des choking under pressure, darunter sind Leistungsverschlechterungen unter Druck zu verstehen, obwohl die betroffenen Personen grundsätzlich motiviert sind, optimale Leistungen zu erbringen.
Das klingt natürlich gar nicht gut, deshalb hat fooligan bei Dr. Bernd Strauß nachgefragt, Professor für Sportpsychologie an der Universität Münster, der sich darum bemüht, Fußball jenseits von Phrasendrescherei und Mystizismus zu erforschen und verstehen zu helfen.

Fooligan:
Wenn man sich die Statistiken der Weltmeisterschaften, die bisher stattgefunden haben, anschaut, ist doch auffällig, wie gut die Heimmannschaften jeweils abgeschnitten haben. Mich würde interessieren, ob Sie dazu eine Theorie haben, oder ist die Datenmenge nicht groß genug, um eine Aussage zu machen?

Professor Dr. Bernd Strauß :
Sie haben recht, für viele Teams sind es Einzelereignisse, insofern sind die Datenmengen häufig statistisch nicht belastbar. Aber gleichwohl: Wir können ja einmal diskutieren und einen ersten Zugang finden.

Fooligan:
Einige Beispiele: Schweden, das sonst keinerlei Erfolge vorzuweisen hat, wurde bei der WM im eigenen Land Vizeweltmeister, England hat im eigenen Land den einzigen Weltmeistertitel gewonnen, Frankreich ebenso, Südkorea, das fußballerisch überhaupt noch nicht in Erscheinung getreten war, hat es bis in das Halbfinale bei der WM 2002 geschafft, Deutschland und Argentinien sind bei ihren Heimweltmeisterschaften Weltmeister geworden. Zudem ist den südamerikanischen Mannschaften erst einmal (1958 Brasilien in Schweden) ein Erfolg in Europa geglückt.

Professor Dr. Bernd Strauß:
Meistens ist es ja so, wenn man es nicht systematisch betrachtet, dass einem so herausragende Ergebnisse eher im Gedächtnis haften bleiben (Schweden 58), aber andere Ergebnisse nicht. Wenn man den Heimvorteil bei WMs oder auch sonst betrachten will, müssen Heimspiele und Auswärtsspiele sowie erfolgreichen und auch die nicht erfolgreichen Spiele gegenüber gestellt werden.

Fooligan:
Haben Sie da eine bestimmte Methode?

Professor Dr. Bernd Strauß:
Ich habe Folgendes für Sie für dieses Interview gemacht. Ich habe einmal den durchschnittlichen Rangplatz bei den Heim-WMs eines Landes (bei den meisten ist das eine Heim-WM, aber Italien, Mexiko und Frankreich haben zwei Turniere ausgerichtet) gegenübergestellt mit dem durchschnittlichen Rangplatz der drei besten Auswärts-WMs.
Die Rangplätze sind aber auch mit Vorsicht zu genießen, da sich die Anzahl der Endrundenteilnehmer verändert hat (heute 32 früher 16) und auch die Modi sind nicht die gleichen: Beispiel Mexiko 1970 Vorrunde überstanden, Viertelfinale ausgeschieden (6. bei Schulze-Marmeling), 2002, Vorrunde überstanden , Achtelfinale ausgeschieden (11. bei Schulze-Marmeling). Man müsste also die Ergebnisse an der Teilnehmerzahl und am Ausspielmodus relativieren.

Rangplätze sind daher wegen der unterschiedlichen Teilnehmeranzahlen suboptimal. Man könnte zum Beispiel die Leistungsfähigkeit von Teams in einer Dekade etc. berücksichtigen. Ein Team von 1954 hat nichts mehr mit dem von 1990 zu tun.
Bei der Betrachtung der Ergebnisse ist festzustellen, dass es häufig ähnliche Resultate gibt zwischen Heim- und Auswärts-WM, z.B. Brasilien, Deutschland, Italien, Argentinien. Deutschland ist eben zuhause, aber auch in Italien Weltmeister geworden. Als ähnlich in der Differenz würde ich auch Brasilien einstufen: zuhause Vizeweltmeister und alle 5 Titel auswärts. Bei Brasilien erlaube ich mir das Bonmot, dass es das entscheidende Spiel zuhause in Rio 1950 gegen Uruguay bei der höchsten weltweit registrierten Zuschauerzahl bei einem Fußballspiel verloren hat.

Nehmen sie die schwedische Mannschaft, die sie als so bedeutungslos klassifizierten. Im Mittel der besten Auswärts-WMs haben die den Platz 3,3. Schaffen nicht viele. Frankreich hat fast identische Ergebnisse zuhause wie auswärts, jedenfalls nach der gewählten Auswertungsmethode.
England hat zuhause besser abgeschnitten als auswärts, aber was ist mit Spanien? 12. bei der Heim-WM. Oder die USA. 14. bei der Heim-WM. Dagegen steht wieder Südkorea als 4. Aber denken Sie bei der WM 2002 auch daran, dass die Heimmannschaft Japan nur 9. geworden ist (in einem verloren gegangenen Spiel in Japan). Chile und die Schweiz gleichen einander auch wieder aus; Chile hat einen dritten Rang bei der Heim-WM belegt und im Mittel der drei erfolgreichsten Auswärtsweltmeisterschaften ungefähr den achten, die Schweiz dagegen wurde im eigenen Land nur Achter, bei den erfolgreichsten Auswärts-WMs jedoch im Schnitt Sechster.

Bei einer systematischen Alles-in-Allem-Betrachtung finden wir häufig keine oder nur geringste Differenzen und ein paar größere Unterschiede in beide Richtungen, die sich im gesamten ausgleichen. Wie gesagt, es sind nur kleine Zahlenmengen und man müsste das weit differenzierter untersuchen, aber der 1. Zugang führt nicht dazu, euphorisch von einem Heimvorteil bei Fußball-WMs zu sprechen.

Fooligan:
Sie haben ja an anderer Stelle beschrieben, dass das Heimpublikum keinen positiven Einfluss auf das Gastgeberteam hat. Gibt es denn noch andere Faktoren, die die Heimmannschaft bei Weltmeisterschaften begünstigen könnten?

Professor Dr. Bernd Strauß:
Ja, bei den ausrichtenden Ländern kommt noch folgendes hinzu:
Vor dem 2. Weltkrieg waren es sicherlich erhebliche Reiseprobleme, vielleicht auch noch 1950 für die Länder des jeweils anderen Kontinents, die die jeweiligen Kontinentalmannschaften begünstigt haben könnten.

Ausrichtende Länder legen häufig viel mehr Energie, Geld und Zeit in die Vorbereitung der Mannschaft (Südkorea ist ein Beispiel). Keine deutsche Mannschaft könnte sich über einen so langen Zeitraum einspielen. In Frankreich wurde in den 90er Jahren die Struktur mit Fußballinternaten etc. verändert, um den eigenen Nachwuchs besser zu fördern.
Und schließlich die Setzliste: Der Ausrichter gehört bei der Vorrundenauslosung zu den Gesetzten (wie der Weltmeister, und die stärksten Länder). Dies dürfte dann der Grund sein, warum der Ausrichter nicht gleich gegen die stärkeren Länder spielt.

Fooligan:
Das ist alles nicht sehr tröstlich, die deutsche Mannschaft ist ja gerade nicht besonders eingespielt und Gruppenkopf wären sie auch so wegen der Vizeweltmeisterschaft 2002 geworden.

Professor Dr. Bernd Strauss:
Der Glaube kann Berge versetzen. Ich bin der Überzeugung, dass ein Heimvorteil nur deshalb entsteht, weil die Spieler daran glauben und daraus das entsprechende Selbstvertrauen entwickeln. Der Heimvorteil entsteht im Kopf. Anders formuliert: Die mit einem unterstützenden Publikum assoziierten positiven Leistungs- und Selbstwirksamkeitserwartungen können tatsächlich für eine bessere Leistung sorgen.

Fooligan:
Vielen Dank, Herr Professor Dr. Strauß.
Lieber, Miro, lieber Michael, liebes deutsches Team: Wenn Ihr das hier gelesen habt, schnell wieder vergessen.
Wir schreien Euch zum Sieg.