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Wie ich Norbert Nachtweih verteidigte…

Während der neunten Klasse war Martin der Boss auf unserem Schulhof. Er kam vor einigen Monaten mit seinen Eltern aus Frankfurt in das beschauliche Niederbühl. In den großen Pausen suchte er sich ab und an jemanden heraus, den er vor möglichst vielen Zeugen demütigen konnte. Das tat er nicht mit seinem überschaubaren Intellekt, sondern mit einem Schlag in die Magengegend. Oft war selbst dieser eine Schlag nicht nötig, denn dank seinem Ruf als Schläger hatten viele seiner Opfer schon in dem Moment die Hosen voll als er sie nur ansah und brachen oft prophylaktisch in Tränen aus. Martin war das egal. Er bekam was er wollte: Neues Auto-Quartett, das letzte YPS-Heft oder den einzigen Fußball auf dem Schulhof. Alles was er dafür auf dem Schulhof benötigte, war ein böser Blick und ein Körperhaken.


Auf seinem täglichen Beutezug über den Schulhof streifte sein Auge mein Panini-Sammelalbum der Bundesliga 1988/1989. Ich war gerade dabei meinen doppelten Norbert Nachtweih gegen Charly Körbel zu tauschen, als Martin sich mit seinen Lakaien vor uns aufbaute.

„Gib´ mir des Heft!“ befahl er mit leicht hessischem Akzent und zeigte andeutungsweise mit der rechten Hand auf das aufgeklappte Album. Mein Tauschkumpel Christian und ich standen auf, wobei sich bei Christian bereits die ersten Tränen in den Augenwinkeln sammelten und sein Kopf, vor lauter Wut auf den übermächtigen Erpresser und seine eigene Ohnmacht ihm gegenüber, knallrot anlief. „Und die Bilder auch!“ bellte Martin hinterher, während er in Erwartung des Albums seine rechte Hand öffnete und dabei für die mittlerweile aufmerksam gewordenen Zuschauer beide Augenbrauen, wohl nur zur Demonstration seiner Überlegenheit, für einen kurzen Moment hochzog.

Alle, die in dem Moment dort standen wussten genau was jetzt passieren würde: Entweder ich gab ihm mein Album freiwillig, oder ich sagte „Nein“, bekam einen schmerzhaften Hieb in den Magen und er nahm es mir dann weg. Das war halt schon immer so. Eine andere Möglichkeit aus der Situation herauszukommen schien es damals nicht zu geben.

Bis ich sie endlich fand: Nicht aus Wut über drohenden Verlust des Sammelalbums, sondern mit dem Hass auf Martins Arroganz befeuert, trat ich ihm mit dem rechten Knie in die Eier. Für einen kurzen Moment sah man auf Martins Gesicht Überraschung und Schmerzen zugleich, während er einen undefinierbaren Schmerzenschrei von sich gab und nach vorne krümmte. Vom unerwarteten Erfolg und dem Adrenalin im Blut angetrieben, schlug ich noch einem Schwinger in Richtung seines Kopfes und traf ihn dabei genau unter dem rechten Auge. Martin kippte zur Seite weg. Seine Lakaien wirkten wie versteinert. Sie sahen zwar was vor ihren Augen passierte, waren aber in dem Moment einfach unfähig das Geschehen zu begreifen, so dass sie nur kollektiv einen Schritt zurück weichten und den am Boden liegenden, sich vor Schmerz krümmenden Boss ungläubig anstarrten. Bei Christian liefen einzelne Tränen, seine Wangen entlang, aber er weinte nicht wirklich, sondern starrte ebenfalls auf Martin.

Inzwischen war auch die Pausenaufsicht in Form von Herrn Gerstner auf uns aufmerksam geworden und stieß hektisch in unsere Mitte. Mit einem Blick erkannte er was passiert war, half Martin langsam auf die Beine, der sich immer noch nach vornüber gebeugt beide Hände im Schritt hielt. Sein rechtes Auge schimmerte knallrot und war bereits leicht angeschwollen.

„Sofort ins Rektorzimmer! Aber alle beide!“ sagte Herr Gerstner streng und zeigte Richtung Schuleingang. Martin ging mit wackeligen Schritten voraus. Ich schnappte mir mein Panini-Album und meinen Stapel Bilder, grinste kurz den immer noch verdutzten Christian an und beschloss Norbert Nachtweih doch nicht für Charly Körbel herzugeben. Denn Charly Körbel spielte 18 Jahre lang nur für einen einzigen Verein: Eintracht Frankfurt.

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