12

Scherben

scherben
Fotoquelle

Sie ist Ende 50, Anfang 60. Vielleicht auch etwas älter, vielleicht sogar ein wenig jünger, ihre hagere Erscheinung und ihr langsamer Gang lassen kein besseres Schätzen zu.

Es scheint unmöglich, ihr nicht zu begegnen, wenn man durch die Straßen unserer Nachbarschaft wandert. Sie ist konstant unterwegs mit ihrem ebenfalls hageren Hund, obwohl oder weil er wie sie nicht mehr so gut gehen kann. Mir ist aufgefallen, dass sie jetzt moderne Jogging-Schuhe trägt, die ihr sicher ein Arzt empfohlen hat.

Wenn man sie trifft und grüßt (man grüßt sie, weil man sie so oft trifft) weist sie auf einen entfernten Ort hinter sich und sagt immer den gleichen Satz:

„Vorsicht, da vorne liegen Scherben.“

Dann bedankt man sich freundlich für den Hinweis, lächelt, verabschiedet sich und geht weiter.

Und dann und wann fragt man sich, was wohl in ihrem Leben passiert sein mag. Und ob es mit Scherben zu tun hatte. Manchmal möchte man es wissen. Manchmal lieber nicht.

12 Kommentare

  1. 01

    Schön geschrieben. Ich sehe sie nahezu vor mir.

  2. 02

    Bitte wieder mehr solche Geschichten auf Spreeblick, Johnny!

  3. 03

    Sie hat mich auch in meiner Jogging-Phase immer vor Glasstückchen gewarnt, ich schätze, sie hat mit ihrem Hund eine Arzt-Odyssee hinter sich.
    Zu mehr als einem gewunkenem „Hallo“ habe ich mich bisher nicht getraut.

  4. 04

    Warum muss ich jetzt an „Streets of London“ denken?

    Guter Text! Ja, ich kann sie auch beinahe vor mir sehen. Mehr solche Geschichten, dem kann ich mich nur anschließen.

  5. 05

    Wir haben hier in der Nachbarschaft eine ältere Dame, die alles und jeden nach der Uhrzeit fragt. Gerne auch kurz nacheinander 2 Menschen. „Ich wollte mich nur noch mal vergewissern.“ Sie braucht immer sehr lange, bis Sie gefragt hat, da Sie ja höflich sein möchte. Jeder weiss aber, dass sie nur nach der Uhrzeit fragt. Eigentlich tragisch. Ich hab leider nie sehen können, ob sie sogar eine Uhr am Arm trägt, zutrauen würde ich es ihr.

  6. 06
    Lockengelöt

    Ich hab ja als Kind mal ne Mark von einer dieser Omas bekommen, weil ich immer so nett gegrüßt habe…

  7. 07

    Vielleicht erlebt die ältere Dame jeden Tag aufs Neue….wie in einer Zeitschleife oder bei Täglich grüßt das Murmeltier. Eigentlich eine schöne Vorstellung….abends den größten Quatsch bauen und morgens ohne Sorgen aufwachen…ist natürlich scheiße wenn man bei nem miesen Tag hängenbleibt.

    [nochmal drübergelesen: Ich sollte weniger Drogen konsumieren ;) ]

  8. 08

    Das erinnert mich gerade an den Typen der erst der Merkel schreiben musste, dass in seinem Garten Uran liegt..

  9. 09

    Das denke ich mir bei der einen oder anderen Person aus dem alltäglichen Leben auch immer wieder: was steckt da wohl für eine Geschichte hinter?

    Trotz der ebenfalls mitschwingenden Sorge, die auch in deinem letzten Absatz kam, habe ich mich mit z.B. dem einen oder anderen Bettler schon unterhalten. Aus einem Small Talk wurden da manchmal lange Gespräche mit total spannenden Lebensgeschichten – vom totalen Absturz bis hin zur freiwilligen Abkehr vom „gesellschaftlich anerkannten Leben“ war da alles bei.

    Mehr menscheln auf Spreeblick, mal wieder. Schön.

    (Aber die Frau aus der Straßenbahn morgens, bei der mal der Wachturm aus der Handtasche lugte, spreche ich trotzdem nicht an.)

  10. 10

    immerhin rennt sie nicht jede nacht halb drei durch die Straßen und schreit „Egon“…wie es hier ein Mann immer in unserer Straße tun muss.
    Warum?

  11. 11
    kleineMeinungamNachmittag

    ist mir auch schon begenet – ich dachte zuerst der hund wär in die scherben getreten

  12. 12