Der Haftbefehl gegen den Soziologen Andrej Holm, dessen Lebensgefährtin anlässlich der Ereignisse um Holm ein Blog führt, in dem sie sehr eindringlich ein Leben unter Überwachung beschreibt, ist heute vom BGH aufgehoben worden.
[…] darf nach den Bestimmungen der Strafprozessordnung (§ 112 Abs. 1 Satz 1 StPO) ein Haftbefehl nur dann erlassen werden, wenn der Beschuldigten einer Straftat dringend verdächtig ist. Dies ist nur der Fall, wenn die große Wahrscheinlichkeit besteht, dass er der ihm vorgeworfenen Tat schuldig ist und deswegen verurteilt werden wird. Eine solche Wahrscheinlichkeit, dass er sich an einer terroristischen Vereinigung mitgliedschaftlich beteiligt hat, kann im Fall des Beschuldigten zur Zeit nicht bejaht werden; denn die in den bisherigen Ermittlungen aufgedeckten Indizien sprechen nicht hinreichend deutlich für eine mitgliedschaftliche Einbindung des Beschuldigten in die „militante gruppe“, sondern lassen sich ebenso gut in anderer Weise interpretieren.
Im aktuellen Blogblick der Netzeitung schreibt Bov Bjerg über die Situation des verfolgten Paares.
Die Familie wird von Zivilpolizisten verfolgt, von eigens installierten Videokameras observiert, die Telefone werden abgehört. Der Beschuldigte und seine Angehörigen haben keine Möglichkeit, ihr Privatleben zu schützen, ohne sich verdächtig zu machen und die Haftverschonung zu gefährden.
In seinem Blog vergleicht Bjerg die Überwachung Holms mit seinen eigenen Erfahrungen, die er in der DDR gemacht hat.
Holms Fall hatte weltweit für Aufsehen gesorgt, da die Umstände, die ihn zum Verdächtigen machten, äußerst bizarr waren.
Das BKA war auf Holm aufmerksam geworden durch eine Internetrecherche zu bestimmten Stichworten, die auch die „žmilitante gruppe“ in ihren Bekennerschreiben benutzt, unter anderem „žGentrification“ und „žPrekarisierung“. Daraufhin wurde er über ein Jahr observiert.
Da Holms Forschungsschwerpunkt unter anderem die Gentrifizierung ist – und er somit gar nicht umhin konnte, diesen inkriminierten Begriff zu verwenden – forderte eine Vielzahl von internationalen Wissenschaftlern in einem offenen Brief die Einstellung des Verfahrens.
In diesem offenen Brief wird das Kafkaeske des Vorgehens der Bundesanwaltschaft recht deutlich:
Die Sozialwissenschaftler seien wegen ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit, ihrer intellektuellen Fähigkeiten und dem Zugang zu Bibliotheken die geistigen Köpfe der angeblichen „Terror-Organisation“. Denn eine Vereinigung „militante gruppe“ soll laut BAW dieselben Begriffe verwenden wie die beschuldigten Sozialwissenschaftler. Als Beleg dafür gilt ihr der Begriff „Gentrification“, einer der Forschungsschwerpunkte von Andrej Holm und Matthias B. in den vergangenen Jahren, zu dem sie auch international publiziert haben. Ihre Forschungsergebnisse haben sie dabei nicht im ivory tower gelassen, sondern ihre Expertise auch Bürgerinitiativen und Mieterorganisationen zur Verfügung gestellt — so wird eine intellektuelle Urheberschaft konstruiert.
Wie lange muss denn nun ein Mensch überwacht werden, bis genug Beweise gegen ihn vorliegen? Oder andersherum, in der menschlichen Variante: Wann sieht die Bundesanwaltschaft ein, dass jemand unschuldig sein kann, obwohl er ein Gehirn hat?
Wurde aber auch Zeit, dass er endlich mal langsam Ruhe bekommt. Es kann ja echt nicht angehen, dass sich Ermittlungsbehörden völlig verselbständigen und dabei Grundregeln des demokratischen Rechtsstaates immer wieder mit Füßen treten.
zum kotzen.
Die Frage ist: wann gibt es eine demokratische Eignungsprüfung für Juristen? Die haben doch alle eher auf ihren Burschenschaftlerkodex den Eid abgelegt, statt auf das Grundgesetz.
ist da ein kleiner fehler im text?
„und er somit gar nicht umhin konnte, diesen inkriminierten Begriff zu googlen“
müsste heißen „zu verwenden“, oder?
@ svengali
vielen dank, ich habe internetrecherche falsch gedeutet. ich war davon ausgegangen, dass holm gegoogelt hatte. das bka hatte die suchmaschine angeworfen.
Hallo Johnny,
in diesem Fall kann man durchaus von Terror durch den Staat sprechen und es gibt hier ein sehr interessantes Blog der Freundin von Andrej Holm.
Objektive Chronologie der Situation bei Telepolis:
04.08.2007 – Angeblicher Schlag gegen Militante Gruppe
23.08.2007 – „Gentrification“ und „Prekarisierung“
01.09.2007 – Andrej H., § 129a und die verdächtigen Begriffe
22.10.2007 – Ein Weblog des Terrors
25.10.2007 – Verdacht ist nicht genug
Ehrlich gesagt empfinde ich das als Skandal und einen Wink mit der Latte aus dem Sicherheitszaun von Herrn Schaeuble. So eine Zukunft will ich nicht!
„Bibliothekswesen werden wissenschaftliche Bibliotheken von öffentlichen Bibliotheken unterschieden. Diese Unterscheidung wird jedoch nicht von allen als unproblematisch angesehen, da die meisten wissenschaftlichen Bibliotheken auch öffentlich zugänglich sind und der allgemeinen Informationsversorgung dienen […]“
http://de.wikipedia.org/wiki/Wissenschaftliche_Bibliothek
Um was für eine Bibliothek handelte es sich denn eigentlich?
um die bibliothek im institut von andrej h., die eine wissenschaftliche bibliothek aber auch öffentlich zugänglich ist.
Unschuldig trotz Gehirn? Das Böse ist immer und überall. ;-)
„Wann sieht die Bundesanwaltschaft ein, dass jemand unschuldig sein kann, obwohl er ein Gehirn hat?“
Was würde denn ein Lingusit/in dazu sagen?
In unserem Rechtssystem sind all jene, die kein Gehirn haben unschuldig. Das ist sehr einfach erklärbar: Wer nicht (nach)denken kann ist sich seiner Schuld nicht bewusst und kann nichts über die Konsequenzen seines Tuns wissen. (siehe Jugendrecht usw.)
Wenn meine native Aufgabe also ist ‚Schuld suchen‘, dann würde ich im ersten Schritt die Suchen, die Schuld sein können. Also jeder, der denken kann.