Weisheit. Es ist, ganz allgemein gesprochen, eine schlechte Idee, sich am Tag vor einem Flug die erste Lost-Staffel anzusehen. Insbesondere, wenn man sich anschickt, statt des Pazifiks die Alpen zu überqueren. Und insbesondere, wenn man – wie ich – unter herber Flugangst leidet, aber kein Geld hat, anderweitig nach Lyon zu kommen.
Innenansichten. Anscheinend sollen bei einem Absturz aus erklecklicher Höhe die inneren Organe platzen, die Leber, die Lunge, die Milz. Im Flugzeugsessel bin ich mir zum ersten Mal meiner Milz bewußt. Sie ist, glaube ich, zart und feinfühlig. Flugzeugabstürze hat sie nicht so gerne. Platzen will sie auch nicht, unter keinen Umständen. Würde ich auch nicht wollen.
Stille, bedeutungsvoll. Ich bin kein guter Mitreisender, nicht im Flugzeug. Selbst bei transkontinentalen Flügen spreche ich kein Wort: Es ist mir unbegreiflich, wie man im Angesicht des Todes über Hauskatzen-Enddarmfäule oder Erektionsstörungen sprechen kann. Meine letzten Worte sollen bedeutungsschwanger sein. Deswegen lerne ich vor jedem Flug einen Aphorismus auswendig, den ich dem Sicherheitspersonal mit auf den Weg gebe: Irgendwas tiefsinniges. Wenn sie nach dem Absturz von Kamerateams interviewt werden, werden sie mit Tränen in den Augen meiner gedenken und sagen: „Da war so einer, der hat uns irgend so nen komischen Satz gesagt, und wir dachten, was für ein Idiot, aber jetzt…“ Wenn sie dann selbst dereinst sterben, dann sicher mit meinen Worten auf den Lippen.
Angesichts meiner Schweigsamkeit gestaltet sich zwar die Kommunikation mit dem Bordpersonal schwierig. Aber seit ich meinen Reisebegleitern vorab mitteile, dass ich an einer Geschichte über Taubstumme in der Dienstleistungsgesellschaft recherchiere und sie drin vorkommen werden, ertragen sie mit Engelsgeduld meine gestischen Ausführungen zur Getränkekarte, der Qualität des Mittagsessen und der Oberflächenbeschaffenheit von Schäfchenwolken vue d’en haut. Lächelnd, meist.
Zeichen und Wunder. Das muss ein Spaßvogel gewesen sein, der sich den Namen für den Lyoner Flughafen hat aussuchen dürfen. Saint-Exupéry, hat er gedacht, ha! Das passt doch. Ein Flugzeugabsturzopfer. Wenn diese Form von Humor Schule macht, legt Ford demnächst die nächste Fiesta-Serie auf Ayrton Senna aus, und Horden von Fallschirmproduzenten benennen sich in Möllemann um.
Die Anderen. Um nicht ganz dem Nahtodes-Wahnsinn zu verfallen, stelle ich mir gerne vor, wie die anderen, sollte das Flugzeug nicht in Flammen aufgehen und wir alle zu Asche verbrennen, aussehen werden, sobald die ersten Rettungstrupps zu spät kommen. Viel Freude hab ich an weißen Fleece-Jacken, die sich hübsch mit dem Blut der aufgeplatzten inneren Organe vollsaugen und vorzügliche Fotomotive abgeben. Insgesamt ist weiße Kleidung toll: aber auch Menschen, die ihre Schuhe eher lose um die Knöchel tragen, sind mir sympathisch. Je loser der Schuh, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass er beim Aufprall über die gesamte Unfallstelle segelt und, umgekippt und traurig, in der Landschaft liegt. Auch das: ein großartiges Fotomotiv.
Symptome. Hätte ich schon einige Jahrzehnter länger einige Schachteln mehr am Tag geraucht, Flugangst wäre wie Rauchen aufhören. Die zweite Nacht. Ohne Fressflashs allerdings. Die Magensäfte tanzen Rumba, die Hände wären gerne Wackersteine, die Waden krampfen, der Schweiß flieht mich und will gen Boden. Ich ja auch, verdammt, aber er traut mir nicht mehr. Defaitistenschweiß. Nur schreien tue ich nie, weil: Wozu denkt man sich so nen netten Aphorismus aus, wenn dann die letzten Worte doch wieder nur „Aaaaaahhhhhh“ sind.
Konsequenzen. Ich finde Fotos von den Seychellen doof. Technischen Fortschritt assoziiere ich mit einer elektrischen Zahnbürste. Und seit ich weiß, dass sich der amerikanische Präsident im Gefahrenfall in ein Flugzeug rettet (oder eher: zu retten glaubt), halte ich ihn, wer auch immer er sei, für einen ausgemachten Vollidioten.
Dieser Beitrag ist ein Update zu 200 ml.
Oh wie gut ich Dich verstehen kann… Ich fliege seit nunmehr acht Jahren nicht mehr. Hast Du schonmal Tabletten probiert?
Nee, noch nie. Taugen die was, und wenn ja, welche?
Ich habe lange Zeit gebraucht, um mich von meiner Flugangst zu lösen. Fing sehr ploetzlich an. Vor dem Gateway gestanden … nicht eingestiegen … so oft habe ich meinen Namen noch nicht ueber eine Lautsprecher-Durchsage gehoert, wie an jenem Tag, als ich morgens nach München fliegen sollte. Kam über Nacht … hatte eigentlich nie grosse Probleme damit … aber da … bin etwa zwei Jahre nicht geflogen. Habe mir vorgestellt, wie irgendein Crossbeam mir meinen Kopf abreisst, oder man von mehreren Bänken passagieren erdrückt wird. All diese apettitlichen Dinge …
Nur das ich das nicht so stehen lassen wollte. Ich hab das vor etwa zwei Jahren angepackt und bin drueber hinweg gekommen. Mittlerweile so oft geflogen, das ich vom Vielfliegerprogramm der Lufthansa auch Nutzen habe …
Vielleicht hilft ja das, wie ich meinen Weg aus der Flugangst zusammengefasst habe: http://www.c0t0d0s0.org/archives/1884-Weg-aus-der-Flugangst.html
Ich hab die Empfehlung von einer Bekannten einer Freundin, die unter der gleichen Angst leidet. Sie hat die vom Hausarzt verschrieben bekommen und meinte, noch nie so angstfrei geflogen zu sein. Nebenwirkung: Man kriegt auch sonst nicht viel mit von den Geschehnissen um einen herum bzw. kann sich nicht so gut erinnern (Bordfilm etc.). Halten wohl so ca. 8 Stunden vor und sind „suuuuper“ (Zitat Bekannte meiner Freundin).
Namen hab ich nicht parat, da sie aber eh verschreibungspflichtig sind, wird Dir da dein Hasuarzt weiterhelfen können.
was ein zufall, auf rtl punkt12 empfehlen sie gerade klopftherapie und das mantraartige beten von selbstliebe-floskeln. in etwa: das flugzeug wackelt jetzt zwar arg aber ich liebe und achte mich wie ich bin.
am beispiel einer bankangestellten ausm pott hats geholfen.
@#621173: Danke dafür. Das mit dem Vorabend-Chein probier ich mal aus.
@#621182: Angesichts der Berichterstattung und dem Hang zu absurden Reality-Shows auf rtl war es vielleicht gar nicht so weit hergeholt, das ich eben
gelesen habe. Gewundert hab ich mich jedenfalls nicht.
denn wie sagte mathias richling so schön frei nach schäuble: „wer sich in ein flugzeug begibt, der ist dazu bereit, darin umzukommen.“
ich bin da glücklicherweise mit einer gehörigen portion nerven ausgestattet und dann auch manchmal so unsensibel bei der landung „wir können immer noch sterben, wir können immer noch sterben“ vor mich hinzubrabbeln, wenn meines wissens flugängstige neben dran sitzen.
vorher erste staffel lost ist echt hardcore! da war mir beim gucken auch ein wenig schummerig, bei bestimmten szenen.
ich hab auch flugangst, und mir hilft da am besten fatalismus. wenn ich mich in ein flugzeug begebe, habe ich mit dem leben quasi abgeschlossen. ich empfinde es als geschenk des universums, wenn ich es überlebe. ich schätze das problem ist die angst vor dem kontrollverlust, man kann nix tun. deswegen hilft es mir, alle kontrolle bewusst fahren zu lassen.
ausserdem hat es mir auch geholfen mit einem freund zu reden der flugzeugingenieur ist. der hat erstmal von den dümmsten flugzeugabstürzen erzählt und gelästert, dass das meistens menschliches versagen des piloten ist. seitdem hör ich mir immer ganz genau die ansagen an und versuche vertrauen in den piloten zu schöpfen.
bei turbulenzen suche ich mir immer ne stewardess die nett und kompetent aussieht und beobachte sie, solange die noch gelangweilt dreinschaut is alles ok.
ausserdem glaube ich (und ich will hier nix gegenteiliges hören!), dass start und landung am gefährlichsten sind, das ist auf langstreckenflügen praktisch, da kann man die angst auf zweimal 5 minuten konzentrieren und danach erleichtert sein. endorphine sind mein freund. ansonsten versuch ich nicht soviel zu denken und nicht soviel zu hinterfragen, mich quasi für die dauer des fluges in den mindset eines BILDlesers zu versenken.
Falsch: Taubstumme.
Richtig: Gehörlose Menschen.
Wie kann ein Mensch stumm sein, wenn er über eine vollwertige Sprache (Gebärdensprache) verfügt?
also ich steige auch immer mit schwitznassen händen ein und bin während des fluges eigentlich nicht ansprechbar, da ich ununterbrochen autogenes training mache. bei mir kommt dann noch etwas platzangst dazu. aber ich schalte meine phantasie so gut es geht ab, vorher, wie nachher. vielleicht auch nicht die beste lösung.
achja, die meisten unfälle passieren beim starten und beim landen – das hilft, die zeit in der luft etwas ruhiger zu verbringen.
oh, ich sollte besser die kommentare lesen, bevor ich poste – hihi – nomsa hats ja schon erzählt
@#621174: wars grün und muss man es rauchen?
@Freddy: ;) Nein, schon eher so rund und durchaus schluckbar.
Die lustigste und nachvollziehbarste Darstellung eine Flugangst, die ich seit langem gelesen habe. Leiden kann seine humorvolle Berabeitung haben und so kann man sagen, du hast uns gezeigt, das Flugangst zu den Creative Writing Techniken gehört. Danke für dieses Geschenk. Writing by Fearmanagement.
… und in guter gesellschaft biste auch, kuck: http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/print/sport/712792.html
Dass Du auf Glinker verweist statt auf Bergkamp, lässt den Grad Deiner fußballerischen Verblendung deutlich erkennen ;)
nee, den grad meiner fußballerischen verblendung erkennt man daran, dass mein liebster manchmal neben einem strubbeligen wesen angetan mit einem rotweissgestriffenen fußballtrikot aufwacht und sich fragt, wo eigentlich seine freundin hingekommen ist. DAS ist nicht fein, das geb ich zu.