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Wenn Geld zittert

Ijoma Mangold in der SZ:

Wenn der Kapitalismus auf dieselben Methoden zurückgreift [wie der Staatssozialismus], kann es mit seiner Überlegenheit nicht weit her sein. Man kann darin aber auch eine Rehabilitierung des Individuums sehen. Bisher dachten wir, dass die Systemlogik moderner Gesellschaften so mächtig ist, dass das Innenleben ihrer Individuen dagegen nichts vermag und also vernachlässigt werden kann. Lidl sieht das anders.

Hunger mag der beste Koch sein, aber ob Angst der beste Ratgeber ist? Da müsste man mal Erich Honecker fragen. Seit Honecker samt Genossen mit einer Quote von einem Aufpasser auf 16 Bürger gescheitert ist, fragen sich die Mächtigen der Erde, wie man sich besser schützen kann. Assad hat in Syrien die Quote auf 1:3 erhöht. Im Lidl-Reich konnte dank hervorragender Technik gepaart mit menschlichem Ehrgeiz die Überwachung noch deutlich perfektioniert werden. Hat Frau K. guten Stuhl, liebt Frau M. Dieter Schwarz von ganzem Herzen oder heimlich doch ihren Ehemann mehr?

Aber nein, so sagte am vergangenen Sonntag Jürgen Kisseberth, der bei Lidl für die Mitarbeiter zuständig ist, im Interview mit Anne Will, es ginge ja nicht um Bespitzelung, sondern um Warenschwund. Ein klassischer Schwund des Wahren im Angesicht der Öffentlichkeit. Kisseberth, Freunde dürfen ihn „Mieli“ nennen, behauptete mit kaum zuckender Miene, es sei bei Lidl über Monate niemandem aufgefallen, dass die Detektive ihre Arbeitsanweisung überinterpretieren.
Sein schöner Satz, ein Betriebsrat könne bei Diebstahl durch Mitrbeiter auch nicht helfen, deshalb brauche Lidl auch keine Betriebsräte, ist ein kurzes Innehalten wert.
Man braucht keine Betriebsräte, schließlich können Betriebsräte Diebstähle nicht verhindern.
Man braucht keine Wahlen, schließlich können Wahlen Auffahrunfälle nicht verhindern.

Woanders ist ja immer schlechter, deshalb muss man sich beispielsweise als deutsches IOC-Mitglied nicht für chinesische Betriebsunfälle interessieren. Demokratie ist, wenn man trotzdem lacht.
Wenn aber die eigene Festplatte zur Festplatte für Datengourmands wird, wenn die Hersteller von Schallplatten Zugriff auf Daten haben, von denen die Staatssicherheit nur geträumt hat, dann bleibt das Lachen schonmal im Halse stecken.
Vor kurzem noch haben Gerichte in einem letzten Aufbäumen der Vernunft Auskunft über Daten vom mp3-Saugern verweigert, weil man ja schließlich auch nicht die Telefonleitungen von Kaugummidieben überwacht.
Jetzt aber soll es Gesetz werden: Jeder ist frei, solange nicht ein Anderer ein Interesse an seiner Unfreiheit hat.
Klingt gut, könnte so gleich ins Grundgesetz.

Die Stasi wusste recht genau, wann ihre Sportler gegessen haben und wann sie mit wem geschlechtlich verkehrten. Sie bekam nicht so recht mit, dass ihrem Staat die Legitimation wegbrach und das Volk sich scharte, um sie fortzuspülen.
Ihre Sammelwut war, wie im Ausgangszitat gesagt, Zeichen von Schwäche.
Gewalt – und nichts anderes ist der Zugriff auf die Privatsphäre, sei es von Lidl-Mitarbeitern oder von Computernutzern – ist immer ein Zeichen von Schwäche. Der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, frißt sich selber auf. Ihm ist die Legitimation abhanden gekommen.

Wenn der Kapitalismus (so wie er aktuell ist) nicht einer überwiegenden Mehrheit Wohlstand verschaffen kann, dann taugt er in dieser Form nichts? Geld ist per se weder unmoralisch noch moralisch. Moralischen Wert hat es nur, wenn es angemessen verteilt ist.

Bürger wie Dieter Schwarz, die, selbst wenn sie Bulimiker wären, ihr Geld nicht fressen könnten, Geld, dass durch die brutale Ausbeutung ihrer Mitarbeiter und den brutalen Geiz ihrer Kunden erwirtschaftet wurde, sich aber gleichzeitig vor der Öffentlichkeit verstecken wie Filmbösewichte, werden irgendwann einmal angesehen werden wie wir heute auf Honecker und Konsorten sehen. Sie sind traurige Gestalten, die ängstlich den Status Quo bewahren, obwohl da schon längst nichts mehr steht.

Dasselbe bei der Plattenindustrie: kann sie wirklich glauben, alle Versäumnisse durch perfekte Überwachung wettzumachen? Oder gibt ihr nicht doch die Angst da einen ganz schlechten Rat?

37 Kommentare

  1. 01

    Sehr wahr…
    Siehe auch Der große Ausverkauf von Thomas Assheuer in der ZEIT

  2. 02

    Die Leute glauben die unglaublichsten Dinge.

  3. 03

    @#673522:

    was meinst du?

  4. 04

    wenn du so weiter schreibst Malte, kannnst du dich ja mal bei uns melden: http://www.cyborgsociety.org.
    hab schon seit jahren nicht mehr bei lidl eingekauft, aber ob Aldi oder Plus besser sind?

  5. 05

    @ Malte
    Gewalt und Macht kann auch Ausdruck von Macht sein.

    @ all
    Lidl kann es machen, und muss nur durch Zufälle befürchten, dass derlei Machenschaften an die Öffentlichkeit kommen. Der Minister findet das in der Diskussionsrunde ziemlich in Ordnung – und er meint nicht, dass hier ein ernstes Problem sichtbar wurde, denn schließlich muss sich Lidl ja vor Diebstahl schützen.

    Die Moderatorin würde da eigentlich gerne nachhaken und den Minister genauso wie den Lidl-Manager wegen ihrer dreisten Arroganz anbrüllen (das weiß nur, wer sie kennt), aber sie wurde für ihren Job ausgewählt, auch, weil sie das nicht macht – und es sich nicht einmal anmerken lässt.

    Ich glaube nicht, dass wir eine Demonstration der Schwäche erlebt haben. Ganz im Gegenteil.

    Wenn ich das Gleiche mit Lidl machen würde, um die Privatgeheimnisse von Lidl-Managern über viele Monate hinweg detailliert auszuspionieren –
    dann bekäme ich es mit der Staatsmacht und mit Lidl zu tun, gründlich und gewaltig.

    Lidl ist zwei Wochen lang in den Schlagzeilen. Das wars.

    (Im Übrigen befindet sich dieser Kommentar gerade noch so innerhalb des rechtlich erlaubten Bereiches – unter Umständen könnte hier von Lidl, wenn deren Anwälte daran interessiert wären, wegen angeblicher „Firmenrufbeschädigung“ abgemahnt werden. Ernsthaft. Meine Meinung, dass Lidl nur zwei Wochen Schlagzeilen zu erleiden hatte, zusammen mit „Das wars.“, lässt sich ggf. als rufschädigende Tatsachenbehauptung auffassen, dergestalt, dass ich behaupten würde, Lidl hätte so viel Macht, dass es trotz schwerwiegender Rechtsverstöße folgenlos agieren könne. Im Zweifel wiegen Firmeninteressen vor Gericht sehr viel. All dies ist nicht ein Zeichen der Schwäche von Firmen, sondern m.E. eine Position der Stärke. Schwach sind vielmehr: wir.)

  6. 06

    danke für den Artikel.
    was mich tatsächlich ein wenig gewundert hat – dass sogar ausführliche Lidl-Kritik bei Wikipedia zu finden ist.

  7. 07
  8. 08

    Lidl ist doch nur – wie sagt man so schön – nur die Spitze des Eisberges. Alle anderen verstecken sich hinter der Aufmerksamkeisschwelle und haben auf die eine oder andere Art genauso viel Überwachungsdreck am Stecken… oder nicht?

  9. 09

    Laber, laber, laber.
    Die Stasi-Lidl-Olympia-Musikindustrie Kombo ist willkürlich, (Grundsätzliche) Kapitalismuskritik seid 1949 purer Sozialneid und auf das System zu schimpfen ist billig. Solche Fälle würden ja eher zeigen, dass es eben kein System ist, sondern ein systemloser Zustand, in dem sich schlicht der mächtigere (=reichere) durchsetzt.

    Ihr misstraut dem Staat grundsätzlich („die da oben“), also kommt eine zu hohe Regulierung der Wirtschaft durch ihn nicht in Frage. Ihr misstraut der Wirtschaft grundsätzlich („fiese Kapitalisten“), also kommt auch Liberalität nicht in Frage.
    Das Ganze ist nicht mehr als Sehnsucht nach Durchschnitt, nach einer Gesellschaft in der es keine Ausreißer gibt. Keine Armen, keine Reichen, aber trotzdem viel persönliche Freiheit. Ich glaube nicht dran.

  10. 10
    werther

    @#673549: Danke für den Widerspruch.

  11. 11
    werther

    PS: Erstaunlich dünn was der Stern Reporter zum Lidl Skandal faktisch zu berichten hat: Die Mitarbeiter wissen von den Kameras, die Bildschirme stehen in den Mitarbeiterräumen. Was sich Lidl von dem Wissen verspricht, darüber spekuliert er dunkel(„unter Druck setzen für Lohnkürzungen, Entlassungen“) um dann einzugestehen das man sich keinen Reim darauf machen kann.

    Deutschland hat die niedrigsten Lebensmittelpreise, die Margen sind winzig – der „Schwund“ logischerweise ein Problem. Es ist kein Brachengeheimnis das Ladendiebe fürden kleinsten Teil davon verantwortlich sind.

    Mit drei Kinder muss man gelegtlichen den „brutalen Geiz der Kunden“ an den Tag legen.

    Respekt einem der aus einer Klitsche, gegen Aldi und die anderen noch ein solchen Laden, geschaffen hat; das kann der Analyse der hiesigen Sytemkritiker zufolge eigentlich garnicht sein.

    Schön mal wieder die alte Leier von der bestechlichen Justizia (uups Bochum), den fiesen Reichen, der brutalen Ausbeutung zu hören. venceremos

  12. 12

    Christoph (9):
    1.) *hahaha*
    2.) http://seitseid.de/
    3.) und was genau wollen Sie uns nun damit sagen? Klappe halten, weiter machen, bloß über nichts nachdenken?
    Den Satz mit der „Sehnsucht nach dem Durchschnitt“ habe ich auch nicht verstanden. Ich befürchte aber aber, das soll wieder so ein weinerlich/pseudoliberales „Neider! Neider!“ werden. Auf der Ebene kann man nun aber schlechterdings debattieren…

    zum Thema zurück: Angst ist glaub ich eine treffende Diagnose. Wenn die Leute in diesem Land nämlich mal spitz kriegen, dass durch die Globalisierung u.U. nicht (beliebiges 3.-Welt-Land) wie Deutschland, sondern vermutlich eher Deutschland wie (beliebiges 3.Welt-Land) werden wird… dafür braucht man dann eben auch die Bundeswehr im Inneren und belastendes Material gegen alle, die vielleicht mal Staatsfeinde werden könnten.

  13. 13

    Huch! Ist schon wieder „Expertenrunde“?

  14. 14
    Indyaner

    Bzgl. des Zeitartikels zu Marx in Bezug auf diese Glosse:
    Wer mit dem Daumen in der Nase bohrt soll sich nicht wundern wenn er Nasenbluten bekommt.

  15. 15

    @Johnny:
    Laienkommentare zu einem Laientext. „Der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, frißt sich selber auf. Ihm ist die Legitimation abhanden gekommen.“ Würden wohl eher wenige ernstzunehmende Experten sagen.

    @Der Aktendeckel:
    Stimmt, dies ist ein grausamer Rechtschreib-Fauxpas. Ich bitte um Verzeihung.

    Globalisierung drückt Deutschland in Richtung 3te Welt, nicht die 3te Welt in Richtung Deutschland? die VAE, Brasilien, Indien und Mexiko sind prima Beispiele dafür, dass zusammen mit dem Geld auch westliche Werte und stabile Demokratien durchgesetzt werden – wenn auch langsam. Natürlich gibt es Teile der Globalisierung, die eher suboptimal sind: 20 Millionen Sklavenarbeiter zum Beispiel.

    Du scheinst gar keine Debatte zu wollen. Es sieht mehr so aus, als wolltest du dich einfach beschweren; auf unangenehm paranoide Art und Weise.
    „wenn die Leute hier spitz kriegen“ Jaja, die Verblenden, die alle von den Gleichgeschalteten Massenmedien manipuliert worden! Nur ein toter Fisch schwimmt mit dem Strom! Morgen, aber spätestens Samstag kommt die Revolution.
    Kann ich alles nicht so ernst nehmen, irgendwie.

  16. 16
    Frédéric Valin

    @#673579:

    VAE, Brasilien, Indien und Mexiko sind prima Beispiele dafür, dass zusammen mit dem Geld auch westliche Werte und stabile Demokratien durchgesetzt werden – wenn auch langsam.

    Steile These. Gibts da für Indien oder Brasilien sowas wie Belege?

  17. 17

    Insbesondere Brasilien kann man glaub ich kaum als Positivbeispiel bezeichnen. Mag ja sein,dass mein Bild von dem Land zu sehr durch City of God und Tropa de Elite geprägt ist,aber: die Favelas sind real. Und die Polizei,die da jährlich 1000 Leute erschiesst auch. Ich bin mir ziemlich sicher,dass das mit Armut und sozialer Schieflage zu tun hat,oder nicht? So möchte ich Deutschland nicht sehen.

  18. 18

    Ach so,und: Brasilien ist kein armes Land. Es wird nur von einer Menge armer Leute bewohnt. In einigen Städten auch von einer Menge Armer und einer kleinen Gruppe sehr Reicher,die sich nur noch mit Bodyguards auf die Straße trauen,weil es eben keine öffentliche Ordnung mehr gibt. Gleicher Schlußsatz wie oben: ich will nicht,dass Deutschland auch so aussieht.

  19. 19
    Maltefan

    @#673579: China ist ja wohl das beste Beispiel dagegen.
    Zu Indien kann ich nur sagen dass ich sehr viel Kontakt mit Indern habe, und von dem ganzen Wohlstand, den der Diensleistungsboom ins Land gebracht hat, profitieren ein paar Prozent der Bevölkerung. In Mumbai haben die Immobilienpreise in manchen Vierteln schon Londoner Niveau erreicht, und derweil begehen Bauern auf dem Land Massenselbstmorde, weil sie ihren Lebensunterhalt nicht mehr verdienen können. Zu glauben, Geld würde wirklich alles richten, ist gefährlicher Bullshit.

  20. 20

    Das aktuelle Datenschutzgesetz bietet die Möglichkeit, derartige Verstöße wie bei Lidl mit teils empfindlichen Geldstrafen zu ahnden.

    Das Vorgehen von Lidl ist ethisch indiskutabel, doch Jammern hilft nicht. Hier geht es um Geld. Warum liest man nichts über NGOs oder andere Instiutionen, die Lidl auf Grundlage des Datenschutzgesetzes verklagen? Die Geldstrafen pro Einzelfall liegen zwischen € 50.000.- und € 250.000.-. Hochgerechnet auf die betroffene Anzahl der Lidl-Mitarbeiter ergäbe das eine Summe, die Lidl nicht ignorieren könnte.

    Nochmal: Hier geht es um Geld und damit um die Sprache des Geldes. Diese Sprache versteht Lidl. Erst wenn es finanziell weh tut, wird Lidl handeln.

    Gruß,
    mv

  21. 21

    Ich möchte mich anstatt mich in die Diskussion einzuklinken diesmal nur verlauten lassen, dass ich finde, dass der Artikel sehr gut geschrieben ist. Bei solchen Themen hilft oft nur noch ne Prise Sarkasmus.

    Ausnahmsweise mal was nettes zu dem Thema:

    http://www.heise.de/security/CCC-publiziert-die-Fingerabdruecke-von-Wolfgang-Schaeuble-Update–/news/meldung/105701

    Gruß Christoph

  22. 22

    „Sie [die Stasi] bekam nicht so recht mit, dass ihrem Staat die Legitimation wegbrach und das Volk sich scharte, um sie fortzuspülen.“

    Das ist sicherlich Geschichts-Romantizismus. Erstens bekam die Stasi natürlich auch mit, welchen Grad der Legitimation (vielleicht eher Akzeptanz) der Staat immer gerade hatte. Zweitens war während der gesammten DDR-Zeit sowohl die Legitimation als auch die Akzeptanz wahrscheinlich ungefähr konstant, sie ist auch nicht 1988/89 „weggebrochen“ – weggebrochen ist die Stützung durch den „großen Bruder“ Sowjetunion und außerdem waren alle Resourcen, mit denen der Schein gewahrt werden konnte, schlicht aufgebraucht. Drittens scharte sich kein Volk, die meisten waren bis zum Schluss ganz brav, erst als der Staat schon geschwächt war, trauten sie sich auf die Straße, einige sind weggelaufen und ein paar ganz wenige (die es immer gab) haben wirklich den Mut zur Opposition gehabt.

    Es gab keine friedliche Revolution, es gab nur einen Zusammenbruch eines morschen Systems, dem man die letzten Stützen wegzog. Und auch das wusste man bei der Stasi sehr genau.

  23. 23
  24. 24

    Zu Markus Väth:

    „Das aktuelle Datenschutzgesetz bietet die Möglichkeit, derartige Verstöße wie bei Lidl mit teils empfindlichen Geldstrafen zu ahnden.“

    Empfindlich. Aha. Offensichtlich sind einige Unternehmen stark genug, dass sie dieses Gesetz kaum fürchten. Was passiert denn genau bei Gesetzesüberschreitung? Ermahnende Gespräche mit Exekutivbehörden? Jedenfalls nicht viel.

    Ganz anders sieht es aus, wenn Du Dich in einer weniger mächtigen Position befindest.

    Der Mitarbeiter, der bei Lidl auf Gesetzeseinhaltung klagen würde, der würde mit hoher Sicherheit seinen Job verlieren — und vielleicht dann sogar jegliche Möglichkeit, jemals wieder in seiner Branche arbeiten zu können.

    Soviel zur Lidl-Macht.

    Du würdest hingegen ganz erhebliche Probleme bekommen, mit Justiz, Exekutive und Lidl, wenn Du z.B. Lidl-Manager über viele Monate hinweg ausspionieren würdest – und ähnlich detaillierte Expertisen — wie bei Lidl – über Monate hinweg über die Lidl-Manager verfassen lassen würdest.

    Zweierlei Maß: Lidl kann es tun (und: hat es getan), ohne nennenswerte „žStrafen“ seitens der Exekutive und Judikative befürchten zu müssen. In wenigen Tagen/Wochen sind sie raus aus den Schlagzeilen. Im Gegenteil, die ausgeforschten Verkäuferinnen können Stoßgebete zum Himmel richten, falls sie von Lidl nicht entlassen werden.

    Und nun vergleiche:

    Beispiel: Nehmen wir an, ein Kleingewerbler macht bei seinem Hobby, einer Reportage für sein Firmenblog, einen Fehler und ein von ihm geführtes Interviews enthält einen kaum hörbaren, aber für Fachleute erkennbaren kleinen Fetzen eines geschütztes Musikstücks, weil während des Interviews ein Radio lief. Was dann? Dann kann er, ganz im Unterschied zu einer mächtigen Firma, Riesenprobleme bekommen, zum Beispiel, wenn ihm ein GEMA-Fahnder auf die Schliche kommt und gegen ihn vorgeht mit Strafanzeigen und Zivilklagen. Der Kleingewerbler hat erstaunlich gute Chancen, dass die Polizei, in Reaktion auf die Strafanzeige, ihm die Computer seines Kleingewerbes komplett beschlagnahmt, inkl. aller Datensicherungen, was seinem Kleingewerbe garnicht gut tun wird. Schließlich ist er ja ein böser Urheberrechtsverletzer — und das sogar gewerblich und höchst eindeutig.

    Lidl hat bei gravierenderen Rechtsverstößen weitaus weniger zu befürchten.

    Zweierlei Maß.

    Es gibt für viele Unternehmen so gut wie keinen realen Grund das Datenschutzgesetz ernst zu nehmen. Sie lassen, sehr häufig sogar, bei Büroangestellten im Hintergrund Tools mitlaufen, mit denen jede einzelne Unterbrechung, jeder Internetbesuch und die Geschwindigkeit des Tippens genau festgestellt wird. Natürlich „zum Schutz von Firmengeheimnissen“ oder was auch immer. Das macht es einfacher, wenn man den Mitarbeiter ggf. einmal loswerden will, zum Beispiel, falls dieser eine rechtswidrige Mitarbeiterüberwachung für keine gute Idee hält.

    Wer diese Macht-Assymetrie verkennt, wer wirklich daran glaubt, dass Firmen große Furcht vor dem Datenschutzgesetz haben, der träumt sich an der Realität vorbei.

  25. 25

    @Maltefan:
    Das heutige China ist Schlaraffenland meets Kuschelverein verglichen zu dem China vor der Öffnung gen Westen die mit Nixons Ping-Pong-Politik begann (Forest Gump, wir erinnern uns). Sonderwirtschaftzonen statt Kulturrevolution. Das Tian’anmen Massaker war weniger chic, aber diese Proteste waren durch die Öffnung Chinas erst möglich geworden; und die Chinesen konnten mit sowas noch nicht umgehen. (Was natürlich nix entschuldigt). Es gibt kaum ein besseres Beispiel als China, denn der Mehrzahl der (Han-) Chinesen geht es nun besser als je zuvor und auch die persönliche Freiheit nimmt ganz langsam zu. Und das mit den Minderheiten werden die Chinesen auch noch lernen.

    @Frédéric:
    Brasilien hat 1889 erst die Sklaverei abgeschafft und hatte bis in die 60’er unstabile, wechselnde Regierungen (Kaiserreich, Demokratie, Militärregierung). Und hier zitier ich mal Wikipedia:
    „1974 wurde General Ernesto Geisel, nach seiner Militärkarriere Präsident der Petrobras, der staatlichen Ölmonopolgesellschaft, zum brasilianischen Präsidenten gewählt. Aufgrund der relativen politischen Stabilität und gezielter Förderung der Industrie war die Zeit der Militärmachthaber zugleich eine Zeit des Wirtschaftsbooms; viele Investoren — auch aus Deutschland — haben in den 70er Jahren in Brasilien investiert. So avancierte Sao Paulo zur „žgrößten deutschen Industriestadt außerhalb Deutschlands“, was sicherlich auch heute noch zutrifft. {Anmerkung meinerseits: Soviel zu „durch die Globalisierung (…) [wird] nicht (beliebiges 3.-Welt-Land) wie Deutschland, sondern vermutlich eher Deutschland wie (beliebiges 3.Welt-Land)“}

    Anfang der 80er Jahre schwächte die Militärregierung die Repression deutlich ab, bis schließlich 1985, auch aus Mangel an eigenen Optionen aus dem Militärkader und bereits inmitten einer Wirtschaftskrise mit galoppierender Inflation, freie Wahlen zugelassen wurden.“
    Erst Wohlstand, später, als dieser in Gefahr gerät, Demokratie.

    Klar ist Brasilien nicht gerade auf EU-Niveau, ich hab City of God auch gesehen. Aber zu behaupten, dass ihnen die Verwestlichung (Was etwas anderes ist als die Hegemonie der USA. Deren Südamerikapolitik war schon immer Kacke.) geschadet hat, stimmt nicht.

    Indiens Probleme sind ziemlich mächtig-gewaltig: Religionsstreitigkeiten, Unberührbare, AIDS, das Verhätlnis zu Pakistan, die Behandlung der Frauen (Witwenverbrennung feat weibliche Fötenabtreibung), Pakistan, Überbevölkerung, Umweltverschmutzung, Slums, Kinderarbeit, usw.
    Aber: Sowas wie die Erstürmung des Golden Tempels in Amritsar würde heute nicht wieder passieren. Witwenverbrennungen sind seltener und Unberührbare werden vermehrt in die Gesellschaft integriert (1996 erster Präsi, Quoten an Unis). Die Abtreibung weiblicher Föten ist -Ultraschall bedingt- allerdings ein Nachteil der Technisierung. Ich habe aber gehört, dass Ärzte dazu übergehen, den Eltern nicht mehr zu sagen, welches Geschlecht ihr Kind hat. Die Spannungen mit den Moslems sind auch nicht gerade weniger geworden. Das Verhältnis zu Pakistan sieht immerhin nicht mehr ganz so nach Atom-Krieg aus.
    But „all in all“: Höchste Lebenserwartung der Geschichte, höchste Analphabetisierungsrate (dennoch weniger als 2/3), staatliches Gesundheitssystem (zumindestens in den Städten).

    Langfristig, vor allem durch Bildung, werden die das da schon in den Griff kriegen. Ich bin da Optimist.

  26. 26

    Christoph:

    Ihr Kommentar Nr.24 gefällt mir erheblich besser als der erste. Ich entschuldige mich für den gehässigen Ton von gestern Abend.

    Das wir an der Globalisierung nicht vorbei kommen, dass ist mir auch klar. Die verknüpfte Weltwirtschaft wird nicht wieder weggehen. Aber über die Art und Weise, wie der Welthandel passiert, darüber kann und muss man diskutieren.
    (mir ist auch nicht klar, wie jemand, der in seinem eigenen Blog The Clash erwähnt, sämtliche Kritik am Kapitalismus grundsätzlich ablehnen kann. Aber vielleicht hab ich das auch nur falsch verstanden.)

    Sogar der IWF sagt, dass es bei der weiteren Entwicklung definitiv Verlierer geben wird, und zwar auch in den Ländern der ersten Welt. Die Grundidee ist, dass durch die bessere Arbeitsteilung und den gestiegenen Reichtum aufgrund effizienterer Märkte (hey, deren Reden, nicht meins) genügend Geld da ist, um diese Effekte abzupolstern. Davon habe ich allerdings noch nicht besonders viel mitbekommen. In der wirklichen Welt erschöpft sich das dann wohl in Abfindungen und Auffanggesellschaften wie in Bochum jetzt.

  27. 27

    @aktendeckel: Kein Problem.
    Zu The Clash: Ich hör auch Wagner und hab trotzdem nichts gegen Juden.

    Tut mir Leid, wenn ich hier wie ein potentieller FDP-Wähler klinge. Globalisierung ist eine Herausforderung, und unkontrollierter Kapitalismus läuft auf Neo-Feudalismus heraus, mit JP Morgan, Rockefeller und Bill Gates anstatt Medici und Fugger. Aber Panikmache wird daran nichts ändern. Der fröhliche Brandt’sche Sozialstaat ist tot, meiner Meinung nach. Aber dennoch ist Kuschelkapitalismus die einzige Möglichkeit, hier hat man den perfekten Mix von Freiheit und Sicherheit- auch wenn unser sitzpinkelnder Innenminster am Rad dreht. In der Anarchie mag erstes höher sein, kann aber nicht erhalten werden, weil Menschen fies sind. Im Kommunismus ist zweiteres höher, kann aber nicht erhalten werden, weil Menschen gierig sind (Freiheit my Ass; auf Kuba und in China geht es den jungen Leuten um Teilhabe am materiellen Reichtum, nicht um Demokratie).
    Ich halte sowas wie NOKIA für unangenehme Nebenefffekte. Aber sieh es mal weniger nationalistisch: Die gehen nach Ungarn, Rumänien usw; also in andere Regionen Europas und sorgen dafür, dass die uns näher kommen. Find ich gut.
    Ich glaube, dass hier viele nur Angst haben ihre Herrenmenschenposition zu verlieren. Auf Augenhöhe mit Indern und Chinesen wollen sich viele nicht bewegen, selbst wenn es nicht bedeutet zu ihnen runter zu rutschen, sondern sie hochkommen zu lassen.

  28. 28
    Lord of Karma

    „Herrenmenschenposition“ etc: So ein Schmarrn!
    Als Familienvater mit kleinem Einkommen gehts mir primär um meinen Lebensstandard. Ich hätte gerne mal was von meinem monatlichen Einkommen übrig, um es auf die hohe Kante zu legen – so wie noch im Jahre 2000! Heute geht das schon lange nicht mehr. Und nein – ich lebe nicht auf großem Fuß – ich gehe nicht aus, ich kaufe nicht teuere Klamotten etc.
    Das ist Realität.

    Von mir aus kann reich sein wer will – mir und der breiten Masse reichen auch ein kleiner Schnipsel Wohlstand und damit Sicherheit.

  29. 29
    Frédéric Valin

    @#673644: Schwierig. Ich bin da weniger optimistisch. Die Globalisierung hat meines Erachtens dazu geführt, dass der Unterschied zwischen den Wirtschaftszentren und der Peripherie stark gewachsen ist: dass es also den strukturell und wirtschaftlich schwächeren Zonen immer schlechter geht. Was Du über Brasilien sagst, stimmt einerseits: andererseits glaube ich nicht, dass die Prozesse, die wir unter dem Namen Globalisierung zusammenfassen, notwendigerweise eine Stabilisierung mit sich bringen. Einzige Ausnahme: die Verfügbarkeit von Wissen.

    Die Wirtschaftskrise in den 80ern ist übrigens eine direkte Folge dieser globalen Prozesse gewesen; ähnlich ging es in anderen südamerikanischen Ländern, krassestes Beispiel: Argentinien.

    Zu Indien: Ich gestehe, in Indien kenn ich mich mal so gar nicht aus. Aber Amritsar würde meiner Meinung nach heute nicht mehr passieren, weil es keine Kolonialmacht mehr gibt in Indien.

  30. 30

    @Frédéric:
    Ich glaub wir reden aneinander vorbei :D
    Die Erstürmung Amritsars war 1980, was haben die Kolonialmächte damit zu tun?

  31. 31
    Florian

    @#673655:
    Meine Güte, was für eine Gleichung: Sozialstatt ist tot = Kuschelkapitalismus ist das einzige, was bleibt. Hurrah!
    Wie kuschellig, sicher und frei Kapitalismus ist, sehen wir ja gerade in den letzten Jahren immer deutlicher, gelle?
    Die Schattenseiten von Ausbeutung nach System werden jetzt vor unserer Haustür immer deutlicher, eben WEIL der Sozialstaat am Ende ist. Und Nokia sind keine Nebeneffekte, sondern das System per se.
    Aber das man eben das System als so schlecht empfindet, tja, will sich eben auch keiner auf Augenhöhe mit Amerikanern begeben, nicht wahr? Selbst wenn das heißt, das wir zu denen runterrutschen.

  32. 32

    Sozialstaat ist eine Form von Kuschelkapitalismus, Digger. Weil er eben nicht zu extrem werden kann und es ein Auffangbecken für die Verlierer gibt. Aber so ganz funktioniert das alles nicht mehr, also sollten wir uns eine neue Form von Kuschelkapitalismus ausdenken.