Halb Deutschland ist mit gigantischen Bildern für ein neues Mobiltelefon plakatiert: „Die neueste Entwicklung aus dem Hause XY Mobile macht TV-Genuss mobil!“ Sicher habe nicht nur ich mir beim Betrachten der Werbung die Frage gestellt: Was genau hat es eigentlich mit diesem „TV“ auf sich, von dem in letzter Zeit so viel die Rede ist?
Die Macher von TV — die putzige Abkürzung steht für „Television“, der Dienst wird von vielen Usern auch liebevoll „Fernsehen“ genannt — orientierten sich bei der Entwicklung offensichtlich an Erfolgsmodellen wie Twitter, Jaiku oder Flickr: Nicht zu viel darf der Dienst bieten, Einfachheit ist Trumpf, und gerade die Beschränkung soll die User anregen.
Selbst auf eigentlich simpel erscheinende Bedienkonzepte wie den Usernamen haben die Macher konsequent verzichtet, die Bedienung von TV erfolgt über eine kleine Spezialtastatur, die ausschließlich über Zifferntasten verfügt. Was auf den ersten Blick geradezu genial erscheint, könnte sich bei genauerer Betrachtung als Pferdefuß des Dienstes erweisen. So ist eine Bewertung der Inhalte oder eine Kommentarmöglichkeiten generell nicht vorgesehen. Auch das Einstellen von eigenen Inhalten ist im Augenblick noch nicht möglich, einen zum Hochladen von Inhalten notwendigen Pro-Account gibt es bisher nur per Invitation, und eine solche zu ergattern ist sehr schwer: Nur ein paar Dutzend Pro-User gibt es in Deutschland, weltweit sind es vermutlich gerade mal ein paar Hundert. Betrachten lassen sich die Inhalte jedoch von jedermann: kein Account ist nötig, keinen AGBs muss man zustimmen, kein Passwort gilt es sich zu merken.
Die wenigen Pro-User besitzen jedoch offensichtlich eine technisch sehr anspruchsvolle Aufzeichnungstechnik. Die Bildqualität der gestreamten Inhalte ist generell sehr hoch, die Tonqualität hervorragend. Diese hohe Qualität gilt eingeschränkt auch für viele Inhalte: Über TV sind einige Inhalte wie Filme oder Serien verfügbar, die sonst nur über (teils kostenpflichtige) Dienste wie iTunes oder BitTorrent zu genießen sind. Leider schlägt auch hier eine unschöne Einschränkung des Dienstes erbarmungslos zu, denn grundsätzlich hat man keinen Einfluß darauf, welche Inhalte gestreamt werden. Ob zu dem Zeitpunkt, zu dem man TV nutzen möchte, tatsächlich interessante Inhalte verfügbar sind, ist reine Glückssache. Mitunter beschlich mich beim Testen sogar das Gefühl, die Pro-User würden sich bewusst einen Spaß daraus machen, interessante Inhalte ausschließlich in den Nachtstunden verfügbar zu machen. Dadurch ist die Signal-To-Noise-Ratio des Dienstes erschreckend niedrig, die Inhalte sind oft extrem alt und von fragwürdiger Qualität und reichen gerade tagsüber praktisch nie an selbst zusammengestellte Inhalte heran. Einige Anbieter scheinen sogar mit Techniken zu arbeiten, die man fast als betrügerisch bezeichnen möchte. Als Faustregel gilt: Angebote, die zur Benutzung eines Telefons auffordern, sollte man meiden, egal wie einfach die Beantwortung der Frage auch scheint und wie limitiert die Sammelpuppe auch sein mag. Aber auch darüber hinaus ist es sehr schwer, die Qualität der gebotenen Programme einzuschätzen: Quellen werden nur selten genannt und selbst an einfachste journalistische Standards wie die Verwendung von Links hält sich keiner der wenigen Pro-User.
Wer sich davon nicht abschrecken lässt und TV in der rein passiven Demoversion antesten möchte, wird auf den Webseiten von einigen Pro-Usern fündig. Einige Inhalte können über Dienste wie zattoo.com oder OnlineTVRecorder genutzt werden, mitunter finden sich kurze Ausschnitte auch auf YouTube. Wer TV jedoch regelmäßig nutzen will, kommt um die Anschaffung von Spezialhardware nicht herum. Das Angebot reicht hier von recht preiswerten USB-Sticks über kleinere, teilweise portable Geräte bis hin zu gigantischen Standalone-Einheiten, die das zeitgleiche Betrachten im größeren Community-Kreis zulassen. Im Funktionsumfang unterscheiden sich all diese Lösungen kaum, lediglich die Abbildungsfläche des dargestellten Streams variiert bei den unterschiedlichen Geräten. Auch das teuerste, stationäre Standalone-TV-Gerät ermöglicht es nicht, Inhalte zu einem selbstbestimmten Zeitpunkt zu genießen.
Viele Anbieter haben solche Einschränkungen von TV erkannt und bieten eine Reihe von innovativen Zusatzdienstleistungen rund um den Dienst an. Eine geradezu unüberschaubare Zahl von „Programmzeitschriften“ versucht vorherzusagen, welcher Anbieter wann genau seine interessanten Inhalte anbieten wird. Zusatzgeräte wie „Videorekorder“ rüsten eigentlich selbstverständliche On-Demand-Funktionen oder auch nur eine simple Pausenfunktion nach. Diese Dienste sind im Allgemeinen jedoch nur nach Studium langer Bedienungsanleitungen zu nutzen, erfordern oft den Gang zu „Kiosk“-Verkaufseinrichtungen und sind praktisch immer kostenpflichtig. Gerade „Programmzeitschrift“ nervt durch regelmäßig entstehende Updatekosten, jedoch muss auch bei einigen Videorekordern regelmäßig kostenpflichtiges Verbrauchsmaterial (DVD) nachgefüllt werden.
Noch nicht ganz geklärt scheint das Geschäftsmodell des Dienstes zu sein. Die Angebote einiger User sind kostenpflichtig, die Zahlart reicht von Pay-per-view (@premiere) bis hin zu Pay-per-life (@ard, @zdf). Viele Pro-User blenden auch in regelmäßigen Abständen bildschirmfüllende Layer-Ads mit Sound ein, eine Werbeform, die bei praktisch allen seriöseren Web 2.0 Anbietern zurecht verpönt ist, macht sie doch den Genuß der Inhalte praktisch unmöglich.
Hat man sich jedoch erst mal mit all diesen Einschränkungen abgefunden, so kann man durchaus Gefallen finden an den Skurrilitäten und Macken der kleinen TV-Community. So sperren sich die User oft gegenseitig in Container oder Urwälder oder zwingen sich gegenseitig zum Singen. Auch das „Witze erzählen, die nicht komisch sind“ ist offenbar sehr beliebt. Besonders charmant erfolgt die Präsentation von fremdsprachigen Inhalten: Diese werden nie im Original gestreamt, sondern nur in einer auf deutsch nachgesprochenen Version, die aber nicht mehr gut sein darf.
Selbst die rein passive Nutzung des Dienstes führt zu merkwürdigen Ritualen: Will man interessante Inhalte nicht verpassen, muss man z.B. Toilentengänge so lange hinauszögern, bis wieder ein Werbebanner eingeblendet wird.
Für Surfer, die sich mit der Eigenverantwortung bei der Zusammenstellung des Abendprogramms überfordert fühlen und die hohen Einstiegskosten nicht scheuen, könnte das Prinzip des Sich-von-anderen-vorschreiben-lassen-was-man-sehen-muss durchaus einen gewissen Reiz haben.
Am Massenmarkt geht diese Entwicklung jedoch komplett vorbei und wird vermutlich ein ähnliches Schicksal erleiden wie der Pauschaltourismus oder das Im-Stau-stehen.
zattoo heißt es… ;)
@#676581: Korrigiert, merci!
Sehr schöner Beitrag, bravo!
Ach, diese ganzseitigen Layer-Ads sind tatsächlich Feature? Ich wechsel immer den Anbieter, wenn sowas wieder auftaucht. Wollte schon mein
teuer erworbenesgeborgtes Empfangsgerät umtauschen, weil ich dachte, es sei defekt,Was mich auch interessieren würde: Immer mal wieder ist von etwas die Rede, dass sich News/Nachrichten o.ä. nennt in diesem TV. Zumeist sind die Meldungen dort aber schon mehrere Stunden alt und in meinem RSS Reader schon nicht mehr auf der ersten Seite. Ist das evtl. ein Premium Modell, mit dem man User „zwingen“ will für TV zu zahlen, um wirklich aktuelle „News“ zu erhalten? Oder ist das wenigstens ein Bug?
Danke Max. Völllig großartig und die Superlative spar ich mir einfach mal. Es ist selten, dass jemand Futurismus so geschickt in so gekonnte Worte packt. Ohne Scheiß: schreib öfter.
Wow,beim diesem Artikel wollte ich wirklich nicht aufhören zu lesen. Danke dafür.
So viel Text von Max auf Spreeblick? Und dann noch so großartig? Danke! Bitte mehr davon.
hahaha hihihi hohoho lol doppellol rofl rofl
Klasse Text. Riesen Kompliment. Mehr davon. Oder wie es in den eBay-Bewertungen oft heißt: „Gerne wieder.“
Großartig!
Große Klasse, Max!
@#676595: Ganz meiner Meinung!
Hach ist das großartig. Toller Artikel! Toll.
ein absoluter traum der beitrag :D danke
Kann man das Zeug, welches Du gestern Abend geraucht oder geschluckt hast, irgendwo legal erwerben?
Hey, endlich mal wieder ein richtig guter Artikel bei Spreeblick!
„Kein Account“ ist gut, im Gegenteil… offenbar wird man automatisch mit dem Kauf eines der Empfangsgeräte in ein Vertragsverhältnis gezwungen. Zwar gilt dieses Vertragsverhältnis nur für eine bestimmte Sparte von (schlechten) Premiumstreams mit reduzierten Layerads, trotzdem muß man zahlen wenn man diese nicht einmal nutzt sondern nur theoretisch empfangen kann. Mehr noch, das dabei verwendete Inkassounternehmen geht teilweise mit datenschutzrechtlich fragwürdigen Methoden vor um User ausfindig zu machen die sich gegen diesen Accountzwang stellen. Ich finde ein solcher automatischer Vertrag ist Betrug am Kunden!
Was auch auffällt sind die starken regionalen Beschränkungen die dieser Dienst noch heute zu seinen Mankos zählt, die Auswahl an Streams ist, zumindest hier in Deutschland, auf die hiesigen qualitativ schlechten Streams aus dieser Gegend limitiert. Wahrscheinlich um in abwandern in qualitativ bessere Streams anderer Länder zu vermeiden. Ein solches Geschäftskonzept finde ich in dieser heutigen Welt etwas eigen. Um niht zu sagen: mist.
Und noch was: der Quelltext heißt hier konsequenterweise „Videotext“ und ist in der Regel über einen eigenen Knopf auf der Fernbedienung zu erreichen, was eigentlich ganz kuhl ist. Allerdings sieht das da zwar ziemlich nerdig aus, aber irgendwie nicht wie eine W3C-konforme Markup-Language. Der Doctype fehlt auch.
Ach. Und. Ein anderes neues Startup in dem Bereich hat auch so seine Anlaufschwierigkeiten.
Dieser OnlineTVrecorder ist ja toll. Kennt jemand sowas für andere Länder (Frankreich, Spanien)???
richtig, richtig geil :)
Meinereiner überlegt sich seit Wochen, wie er ähnliche Gedanken gut in Worte fassen soll. Ist damit hinfällig. Danke dafür! :)
Sehr schöner Text!
Wow! Danke für das ganze Lob! Und danke an Twitter, dass sie extra ihren Dienst runtergefahren haben, als dieser Artikel online ging, damit ihr überhaupt zum Lesen kommt.
Wirklich klasse formuliert, musste grad sehr lachen und fand es echt schade, dass ich außer meiner Mutter grad keinen in der Nähe hatte – sie hätte den Witz leider nicht verstanden, fürchte ich ;)
@15 Sven.
Er hat die Drogen „Ironie“ in Verbindung mit „Humor“ genommen. Vor allem „Ironie“ ist in Deutschland eher schwer zu bekommen. Hier schmeissen sich die meisten Leute immer noch „Kinder“ i.Vb. mit „Fasching“. Kombinieren von Drogen will eben gekonnt sein.
TOP ARTIKEL!
Bestes Posting ever auf Spreeblick! Ausgezeichnet!
Ich hatte diesen Dienst vor 3 Jahren auch mal getestet und mich aus oben genannten Gründen dagegen entschieden.
groß. einfach groß. nicht bloß großartig. sondern groß.
Dieses Medium kann ja gar keine Zukunft haben. Diese animierten Banner, nennen wir sie mal Werbespots, sind ja gar nicht klickbar. Das wird kein Mediaplaner begreifen. Die wollen doch Response-Möglichkeiten und möglichst keinen TKP, sondern eher CPC. Wie wollen sich da die Macher refinanzieren? Ich sag mal: Viel Lärm um nichts. Hoffentlich gibt das nur keine Blase, hoffentlich spricht jetzt keiner vom Web 3.0…
Toller Artikel!
Im Web sind wir Schon schneller als das TV, welches sich nach erreichen des Farbstadiums nicht weiter entwickelt hat.
Da fragt man sich ob es ein TV 2.0 geben wird?
Da geht heut jemand aber mit einem sehr breiten Grinsen und ziemlich wunden – weil heftigst gepinselten – Bauch schlafen. :)
Es gibt Beiträge, die sind mir zu lang, und Beiträge, bei denen ich trotz gleicher Länge gar nicht erst aufhören will zu lesen. Das war einer davon. Danke!
Ich halte den Dienst für grandios. Kein klicken, keine Eigenbeteiligung, große Auswahl, zum gespannt gucken und Nägelknabbern bis zur Hintergrundberieselung: Fernsehen kann alles.
ich geb zu, daß ich uns mal so“™n Gerät gekauft hab. Steht bei mir im Wohnzimmer und wird hauptsächlich von meiner Frau und meinem Sohn genutzt.
Ich kann Max nur zustimmen.
Zusätzlich nervt, daß wirkliche jede Webseite mit Sound herkommt und diese Seiten ohne laut eingestellter Soundkarte nicht funktionieren. Nebenher Gespräche führen oder gar telefonieren geht überhauptnicht. Als das Teil neulich für’n paar Tage kaputt war, hat unser soziales Miteinander wieder ganz neu funtioniert. Wir haben Bücher gelesen, gemeinsam Spiele am Computer gespielt und uns anschließend auch noch richtig nett unterhalten. Eigentlich waren wir etwas traurig, als das Gerät repariert wieder an seinem Platz stand.
Herrlicher Beitrag.
Spreeblick landet wieder im Feedreader. Scheint sich ja was getan zu haben. Weiter so!
sk
Lieber Max,
sollten wir hier über die Diversen Technischen Möglichkeiten informieren?
DVB-H
DVB-T
…und den Rest des vermeintlichen Digitalen Schrotts.
Interaktion ist genauso möglich wie auf Spreeblick selbst.
Will hiermit nur ein persönliches Statement abgeben. ;-)
P.s.: http://www.myspass.de
genial geschrieben!
Wahnsinng guter Beitrag!
Blogbeitrag der Woche :)
Na das klingt ja sehr interessant. Endlich mal ein Dienst, den man nutzen kann, ohne sich selber zu beteiligen. Einfach einschalten, auf die Couch legen und „TV“ nutzen. Ein Traum!
ähhh ja sorry damit konnt ich jetzt nichts anfangen, schon bei der Einleitung hab ich mich ausgeklinkt….
lol, und zwar wirklich…
auch als fernsolosergelegenheitsuser: toller text!
Grossartig, Max! :)
Aber was soll denn die Killerapplication sein bei diesem TV?
Ich hab so ein Teil schon länger… eins aus der ersten Serie, als die noch dicker warn. Aber ich hab meinen gehackt! Dann kann man Plugins wie z.B. Wii oder PS3 installieren… dann kann man sogar das Programm selbst spielen!!! Total futuristisch!
Und mit ein paar Extrakabeln kann man es sogar als zweiten Monitor nutzen… für den Preis bekommt man also einiges!
Hammertext! Ich mußte (!) lachen! Schafft sonst keiner bei mir zur Zeit! Danke, Danke, Danke!
Mittlerweile kann man wohl sagen, dass „TV“ ein ziemlicher Flop war. Das zeigt sich gerade auch daran, dass es nur noch in Zielgruppen von 50+ beliebt ist.