Das zwölfte U2-Album ist, um das Fazit vorweg zu nehmen, ein „klassisches“ U2-Album, wie es beinahe auch in der 80ern hätte erscheinen können. Diesmal: Keine großen Experimente, keine Ausflüge in artfremde Musik-Genres. Dieser U2-Release ist ein U2-Rock-Album mit vielen Ohoos und Ahaaas, mit Echo-Gitarrenggeschrabbel von The Edge, gewohnt sauberer Basisarbeit von Clayton und Mullen, mindestens zwei Instant Classics und einem überraschenderweise überraschenden Bono.
Ich bin noch unsicher, ob ich mich über das einfache „U2-sein“ der Band freuen oder ob ich die Enttäuschung der fehlenden Wagnisse siegen lassen soll. Ich scheine zu den eher wenigen Leuten zu gehören, welche Ausflüge wie „Pop“ oder „Achtung Baby“ mochten, gleichzeitig ist es aber durchaus verständlich, wenn eine so oft kopierte Truppe wie U2 auch mal wieder das macht, was sie vermutlich am besten kann.
Nach den zwei eher harmlosen, Schlagzeug-getriebenen Eröffnungen durch den Titel-Track und „Magnificent“ folgt „Moment Of Surrender“, eines dieser getragenen, beseelten Stücke, wie sie nur U2 zustande bringen. Es benötigt keine besondere Vorstellungskraft, um der Nummer sofort den Status eines Live-Klassikers zu attestieren. Es bleibt die Frage, wer das furchtbare, glücklicherweise sehr kurze Gitarrensolo spielt und die Hoffnung, dass es vielleicht doch nicht The Edge war.
Denn es folgt mit „Unknown Caller“ The Edge, wie er The-Edge-iger nicht spielen kann, charakteristisches Plingplang mit viel Echo, wie man es kennt und liebt, wenn man es liebt. Und: Erste Überraschungen beim Gesang mischen sich unter die üblichen Stadion-tauglichen Chöre. Leicht ungewohnte Phrasierungen lassen hoffen, und tatsächlich: Das Duchhalten soll sich noch lohnen.
„I’ll Go Crazy If I Don’t Go Crazy Tonight“ ist wunderbar entspannt, unaufgeregt, muss nichts beweisen und hätte so auch auf einem der frühen U2-Alben erscheinen können. Die erste Single-Auskopplung „Get On Your Boots“, die mich bisher etwas ratlos zurückließ, da sie die Strophen bei Elvis Costellos „Pump It Up“ klaut (der wiederum bei Dylans „Subterranean Homesick Blues“ abgekupfert hatte) und sich ansonsten bei den Queens Of The Stone Age bedient, fügt sich im Album-Kontext gut ein und wirkt nicht mehr so verkrampft.
„Stand Up Comedy“, eine weitere saubere, aber wenig überraschende Nummer aus dem U2-Buch der Songvarianten, danach „FEZ — Being Born“, ein Stück, das garantiert als Spielwiese für Hauptproduzent Brian Eno auf dem Album gelandet ist. Meiner Meinung nach etwas überflüssig, aber was soll’s.
Schließlich folgt mit „White Snow“ ein Song, den man sich in einer Johnny-Cash-Version wünscht. Was leider höchst unwahrscheinlich bleibt, und so nimmt man mit dem Original vorlieb, sieht die Feuerzeuge Handy-Displays aufleuchten und erinnert sich daran, warum man diese Band so gut hasslieben kann.
„Breathe“, vorletzter Song, freut mich sehr, und das, obwohl der Song so rückwärtsgerichtet ist wie kein anderer auf „No Line On The Horizon“. Über fast schweinerockartiger Gitarrenarbeit phrasiert Bono irgendwo zwischen Bob Dylan und Phil Lynott von Thin Lizzy und das steht ihm erstaunlich gut! Als Abschluss dann nochmal Ruhe und gesangliche Entspanntheit — doch, ja, das will man alles nochmal hören.
Etwas ärgerlich bleibt, dass U2 die zuerst in Angriff genommene Arbeit mit Rick Rubin abgebrochen haben und zu Brian Eno, Daniel (hier nur „Danny“ genannt) Lanois und Steve Lillywhite zurückgekehrt sind. Hätte man doch wenigstens Lillywhite allein gelassen, aber nein, es muss der teilweise arg vermatschte Soundbrei von Rock-hasser Eno sein, denn wir haben ja schließlich auch Kunst. Schade. Die guten Songs in der kargen Bestückung eines Rick Rubin zu hören, wäre garantiert ein Erlebnis gewesen.
Mehr Mut hätte „No Line On The Horizon“ also extrem gut getan, die Nummer Sicher braucht eine Bande von Millionären eigentlich nicht zu fahren. Genau deswegen werden U2-Fans zwar nicht enttäuscht sein und für ab-und-zu-Hörer gibt es schließlich ein paar Hits. Neue Hörer aber werden sich U2 mit diesem Album nicht erspielen. Muss man ja aber in dem Alter vielleicht auch nicht mehr …
Update: Die Geschichte rund ums Cover habe ich jetzt erst mitbekommen, offensichtlich hat der Fotograf des Bildes U2 nicht als erster Band sein Foto zur Verfügung gestellt, was dazu geführt hat, dass es dieses Cover schon einmal in äußerst ähnlicher Form gab. Ein Aufreger ist das m.E. nicht: Ein Foto, zweimal benutzt. Blöd, kann aber passieren.
Und dann gibt es noch die Geschichte, das Cover würde (speziell mit den beiden Strichen auf dem Case, die man oben nicht sieht) aussehen wie ein Negativeland-Cover. Warum das erwähnenswert ist, kann man hier nachlesen.
Das schöne Foto „¦
Wie, schon raus?
Gleich mal kaufen gehen.
…leider werden auch diesmal Millionen Fliegen nicht irren, denn
sich selbst kopierender Millardärs-Pop mit Pseudo-Wir-Helfen-Der-Welt-Und-Wem-Auch-Immer-Gutmenschen-Touch wird in der heutigen Zeit
mehr gebraucht denn je…Und auf der nächsten Tour brauchen U2
bestimmt auch wieder eure 150 Euronen, denn von nix kommt ja
bekanntlich nix, gelle? Also losjerannt und jekooft. Aber erst nach dem
Original spanischen U2-Anzähler UN DOS TRES QUATORZE….
(ich kann gar nicht so viel essen….)
„Ausflüge wie „žAchtung Baby““?!
achtung baby ist meiner meinung nach das beste, was u2 jemals aufgenommen haben. alleine „one“ schafft es unter die top 3 der besten songs aller zeiten.
Na kein Wunder, dass die Plattenindustrie jammert, wenn neben dem Geld der Kunden auch noch deren Geduld fehlt…
Finde ansonsten, stefanx hat recht, Achtung Baby gehört für mich ins Zentrum des U2-Schaffens.
Interessant. Das klingt nach der gleichen Form von „Back to the roots“ das mich gestern überraschenderweise bei der Oscar-Verleihung überrascht hat :)
Muss wohl doch mal reinhören.
Oblique Strategies meint dazu: Distorting Time … hm …
Ups, wo kommt denn dieser der Balken her?
Hehe Okay, verstanden. Sorry, bin ein noob…
„Neue Hörer aber werden sich U2 mit diesem Album nicht erspielen.“
Warum das denn nicht? Neue Hörer kann sich jede Band mit jedem Album erspielen, weil es eben neue Hörer sind. Und im Falle von „No Line On The Horizon“ werden neue Hörer, denen das Album gefällt, auch die ganz alten U2 Sachen lieben lernen, was ja eine tolle Sache ist.
Was U2 sich allerdings bei der Singleauskopplung gedacht haben,…tse tse tse. „Get On Your Boots“ klingt wie ein hässlicher Fremdkörper auf diesem überraschenderweise gar nicht soooo schlechten Album. Man fühlt sich fast ein wenig verarscht, vielleicht wird man das sogar.
Der stärkste Song ist für mich das von Dir unerwähnte Stück „Cedars Of Lebanon“. Solche Songs sind und waren für mich immer die große U2 Momente.
Überraschend an diesem Album finde ich, was Bono gesanglich noch so alles heraus geholt hat. Denn gesanglich gehört „No Line On The Horizon“ auf jeden Fall zu den guten bis sehr guten U2 Alben.
Das es überhaupt noch Menschen gibt, die sich für U2 interessieren, finde ich bemerkenswert. Und ihnen dann auch noch einen Blogeintrag widmen… Ich muss sagen, auf SB hätte ich das nicht erwartet.
@#709860: „Cedars“ ist nicht namentlich erwähnt, aber der Satz „Als Abschluss dann „¦“ meint das letzte Stück.
@Darc
Was war das genau bei den Oscarverleihungen? Ich habe sie nicht gesehen, es war viel zu spät für mich. ;o)
@stefan & stefanx.: Gebe Euch 100 % Recht.. Achtung Baby ist auch für mich eines der besten Alben der letzten 20 Jahre… Mit Abstrichen auch die Fortsetzung „Zooropa“… Ansonsten finde ich das restliche Werk mit Abstand manchmal etwas merkwürdig… (aber nicht umbedingt die Songs)…
@#709862:
Na ja, Spreeblick ist halt eben Avantgarde. Wie Du selber sagst, es ueberrascht Dich dass es noch Menschen gibt die sich fuer U2 interessieren. Johnny muss dann einer der wenigen sein die dies tun, und damit etwas besonderes sein.
@#709863: ja, das weiß ich doch. Es muss dann „der stärkste Song ist für mich das von Dir namentlich unerwähnte Stück“ heißen. :-)
@Gunnar
Ich hab mich gestern Nacht in den Kommentaren des Fernsehblogs ausführlicher zu dem Thema ausgelassen:
http://www.fernsehlexikon.de/5303/hugh-ich-habe-frei/#comments
Grammatik:
mit … überraschenderweise überraschendem Bono – aber: mit … einem überraschenderweise überraschenden Bono.
Mit besserwisserischem Gruß
Ich weiss nicht so recht, wo man so allgemeine kommentare hinterlassen kann… da dachte ich, bono würde es mir vielleicht am ehesten verzeihen.
Ich bin nach langer zeit mal wieder ein wenig auf spreeblick unterwegs und muss zu meiner freude festellen, dass johnny offensichtlich wieder ein bisschen mehr schreibt und ein bisschen weniger administriert.
nun noch meine thematisch passende, sehr profunde, differenzierte, höchst wichtige und nonnihilistische meinung: U2 sind langweilig und egal!
danke, johnny. „boots“ ist einfach lachhaft, keine melodei, nada, rien, zero, nur peinlich. hätte mir gewünscht, wennse wieder howie b angeheuert hätten. „pop“ find ich bis heute grandios. der grund ist einfach. the edge beschrieb das album als „about as far away from u2 as it is possible to be.“ so soll es sein. „pop“ war zudem ´ne mogelpackung. der titel suggeriert mainstream, in wahrheit handelt es sich um das bis dato experimentellste und stimmungsmäßig dunkelste album der band. interessant: „the vocals to ´last night on earth´ were reportedly recorded at the mixing desk the day ´pop´ was to be sent for pressing“ (wiki). um die kurve zur oscar-verleihung zu kriegen:
best sequencing in an u2 song:
http://www.youtube.com/watch?v=kXbsARrVjfg
(rein ab 3:15, höhepunkt ab 4:40, have fun)
Hmm….wurde hier eigentlich auch mal thematisiert, woher das Cover kommt? Angesichts des nicht gerade rühmlichen Streits mit Negativland ja nicht ganz uninteressant.
Um mal sachlich das Thema zu behandeln: Das Album ist blöd!
@#709903: Danke, ist korrigiert!
Habe die Cover-Geschichten, auf die ich erst durch euch aufmerksam geworden bin, nachgetragen!
musikalisch gehen mir u2 nach „the unforgettable fire“ nur noch auf die nerven. daran ändert dieser neuerliche versuch nichts…
ich hab u2 noch nie gemocht. ich glaub das ändert sich auch nicht mehr.
Wieder ein klasse Album von U2. Danke für den guten Tipp, Johnny!