Wir waren damals in jener Übergangsphase, die nur Landkinder erleben: Wir luden uns nicht mehr abends gegenseitig in unsere Käffer, unsere Elternhäuser ein, um zusammen in einem der Kinderzimmer zu schlafen, nachdem wir einen Nachmittag lang gemeinsam Hausaufgaben gemacht, Fußball gespielt und die Simpsons gesehen hatten. Aber wir hatten noch nicht damit begonnen, wilde Sturmfrei-Partys zu feiern. Meistens sahen wir uns nachmittags, während der Mittagspause oder weil wir sonst „in der Stadt“ blieben, saßen herum und spielten rauchen.
Anders wurde es irgendwann in der siebten Klasse. Unser aller erste Party. Bei einem Lehrerkind. Sie hieß Marie, und wir dachten alle, dass sie Jochen sehr gerne mögen musste, denn ihm hatte sie zu allererst von der Party erzählt, blutdurchströmt zwar, aber immerhin. Okay, nachdem sie ihren Freundinnen davon erzählt hatte. Und nachdem ihre Freundinnen davon die gesamte Stufe in Kenntnis gesetzt hatten. Aber immerhin.
Wir waren alle eingeladen und bereiteten uns minutiös vor auf diese Party, oder, wie manche, die man dann am liebsten wieder ausgeladen hätte, es nannten: auf dieses „Feschdle“. Wir eruierten, wer auf wen stehen könnte, wer wen nicht mochte, wie man das denn macht mit sich gegenseitig ansprechen, und allein bei der Vorstellung, irgendjemand könnte was langsames auflegen, schwitzten uns die Hände so sehr, dass wir unsere Kakao-Flaschen aus der Hand legen mussten. Wir brannten CDs, wo Ärzte auf Wighfield oder wie die noch hieß folgten, man hätte aus der ganzen Geschichte auch eine Trash-90er-Musikstrecke machen können. Cotton Eye Joe, um Himmels Willen. Wenn da nicht Jochen gewesen wäre.
Wir trafen uns vorab bei Tom, der wohnte in der Stadt, in der das Gymnasium stand. Stadt ist viel gesagt, aber keine der Häuseransammlungen war größer als das Kaff, in dem das Gymnasium stand, zumindest nicht in erfahrbarer Umgebung. In unserer Erfahrung war das die Stadt. An diesem Tag regnete es, und als wir aus unseren Bussen stiegen, um zu Tom zu laufen, summten einige von uns irgendwas von wegen „Schlaf ist ungesund“ vor uns hin.
Toms Vater war Steinmetz, er besaß ein Haus in einer Art Vorstadt, die in den 50ern mal als Neubausiedlung durchgegangen war. Toms Eltern hatten keinen Garten, stattdessen vor dem Haus all die noch unabgeholten, vorbestellten Grabsteine herum, ungefähr an die 150 Stück. In manchen war das Geburtsdatum eingraviert, das jüngste Geburtsdatum war auf den 01.05.1974 datiert. Schon damals waren wir erstaunt, wie vorausschauend Schwaben sein können.
Wir trafen uns, wie immer, bei Tom. Jochen kam etwas später, er grinste. Wir kannten dieses Grinsen, wir bewunderten ihn für dieses Grinsen, so grinste er, wen er nachmittags vom müllern kam. Sein Rucksack schepperte. Er zog eine CD aus seiner Tasche und sagte: „Mach doch mal das.“ Während Pennywise aus den Boxen dröhnte, legte Jochen den Rucksack unter seinen Stuhl und grinste. Der Rucksack hatte geklimpert.
„Wasn da drin“, fragte Tom.
„Wieviel Uhr isn“, fragte Jochen.
„Fast acht.“
„Und wann fahrn wir?“
„Inner halben Stunde.“
„Gut. Ich zeigs euch, wenn wir losgefahren sind.“
Der Weg durch das Kaff, das wir damals Stadt nannten, sah in ungefähr so aus: Erst kamen Einfamilienhäuser, dann kamen noch mehr Einfamilienhäuser, ein Blumengeschäft, ein Metzger, ein Bücherladen, drei verschiedene Banken, vier oder fünf Mehrfamilienhäuser, eine Tankstelle, wieder Einfamilienhäuser. Marie wohnte nach Süd-Westen hin raus, beinah schon im Wald, nachts hörte man Füchse singen. Am Eingang der Siedlung bestand Tom darauf, den Rest zu Fuß zu gehen, und weil sein Vater sich anfangs weigerte, wäre er fast aus dem fahrenden Auto gesprungen. So war Tom: hart und rebellisch.
Es gab eine kleine Einbuchtung hinter einem Möbellager ungefähr 50 Meter von Maries Haus entfernt, dort zerrten wir Jochen hin. Der setzte sich erst einmal in aller Ruhe und zündete sich eine Gauloises an, damals rauchten ausnahmslos alle Gauloises, warum, habe ich vergessen. Dass auch er nervös war, merkten wir erst daran, dass er sich die Kippe falschrum angezündet hatte. Einige Minuten später, nachdem sich Jochens Bronchien wieder etwas beruhigt hatten, öffnete er mit großer Geste den Rucksack: tadaaaa!
Drin waren ungefähr 15 kleine Flaschen an Apfelkorn und Saurer Apfel und was man sonst noch so mit Apfelaromen in Verbindung mit Alkohol widerliches anstellen kann, ein Sixpack Bier und – uiuiui – eine Flasche Jägermeister. Eine große. Ein ganzer Liter Jägermeister. Wir waren durchaus schwer beeindruckt.
Und wussten nicht so recht, was tun. Jochen reichte jedem von uns ein Bier, dass wir vier Feuerzeuge später einigermaßen unfallfrei aufbekommen hatten, nur Toma hatte seins zu Boden fallen lassen. Wir standen da und machten unsere ersten Erfahrungen darin, wie man ein Bier hält, ohne dabei auszusehen wie ein Neandertaler auf dem Golfplatz. Irgendwann meinte Tom: „Wetten, dass Du’s nicht schaffst, den Jägermeister leerzutrinken. Auf ex.“
Jochens Augen funkelten.
„Doch“, sagte er, „das schaff ich.“
Menchmal sehe ich mir die alten Fotos an aus der Zeit. Viele sind das ja nicht mehr, ein paar Bilder vom Schullandaufenthalt auf Sylt, ein Schnapschuss von Toms Vater zwischen den ganzen Grabsteinen, und ein Klassenfoto, das ist mein Lieblingsbild. Wir bekamen vorab Briefe nach Hause, die unsere Lehrerin eigenhändig unterzeichnete, in denen unseren Eltern, die alle noch verheiratet waren, und zwar das erste Mal, (ich komme aus einem Land, wos noch Dinosaurier gab), in denen jedenfalls unseren Eltern mitgeteilt wurde, der Schulfotograf komme und wir müssten entsprechend eingekleidet sein. Und wie adrett wir alle aussahen! Die Mädchen im Blümchenrock, die Herren mindestens im Poloshirt, viele auch im Hemd. Dass keiner Smoking getragen hat, eines der Mysterien unserer Eltern, die noch Bauern genug waren, um einen Trachtenanzug für vornehmer zu halten, aber schon ausreichend Kleinbürger, um einzusehen, dass das nicht geht: ein Trachtenanzug auf einem Klassenfoto.
Da hinten rechts, das ist Jochen. Ja, genau der, der sich da lässig mit den Armen zwischen uns abstützt, in seinem lilanen, zerrissenen T-Shirt, den ausgewaschenen Hosen. Damals waren wir verwundert darüber, dass er bei den Klassenfototerminen so abgeranzt (wir sagten „abgeranzt“, die Eltern „verratzt“) daherkam, aber wir stellten keine Fragen. So war der Jochen eben. So war der. Inzwischen weiß ich, dass sich seine Mutter keine Hemden für die Blagen geleistet hat.
Jochen setzte die Flasche an und trank sie in einem Zug aus, bis auf einen kleinen Rest, den er in einer weltmännischen Geste herumzeigte: „Mal probieren?“ Auf dem Weg ins Haus begann er leicht zu schwanken, und im Hausflur legte er sich unter den Glastisch. Als ihm schlecht wurde, versuchte er – dong – drei Mal – dong – aufzustehen, – dong – bis ihn einer am Arm nahm. Er coventrisierte den kompletten Flur und das Bad, legte sich vor der Toilette auf den Rücken und begann, blau anzulaufen. Wir standen daneben und trauten uns nicht, die Feuerwehr zu rufen.
Irgendwer hat ihn dann doch auf die Seite gedreht und die ganze Kotze aus seinem Hals geholt, sonst wäre er wohl erstickt. Sechs Stunden lag er im Koma, und die Legende will, dass, als er aufwachte, seine ersten Worte waren: „Wo kann man hier rauchen?“
Nach dem Vorfall kam er drei Wochen später auf ein Internat, wir sahen uns lange nicht. Vor zwei Jahren trafen wir uns zufällig im kleinsten, im größten, im einzigen Café der Stadt, wir waren beide auf Besuch, er nannte es „Fronturlaub“. Wir tranken drei vier Biere auf die Vergangenheit, und drei vier Schnäpse auf die Zukunft. Er Jägermeister. Ich Magenbitter.
Inzwischen ist er Unternehmensberater, er hat ein Praktikum bei McKinnsey oder wie die heißen gemacht und wollte nach Peking fahren, Chinesisch lernen. Das sei gut für die Karriere. Ich hab ihm viel Glück gewünscht.
Tatsächlich war ich verwundert, wie gut sein gestärktes Hemd ihm stand. Gegenüber hörten drei Jungs auf den Stufen des Rathauses Billy Talent. Einer hatte ein lilanes T-Shirt an.
Ich kannte damals einen, der hat Punkparties bei seinen Eltern in der garage veranstaltet. Ich war einmal eingeladen, weil ich eine Normahl-Platte(!) im Lokalradio gewonnen hatte und die mitbringen sollte.
Der Typ legte auch Die Prinzen auf auf dieser seiner Punkparty.
Danke für diesen wunderbaren Spiegel meiner Jugend. Der Artikel hätte auch eins zu eins von mir sein können. Das einzige was bei diesen großartigen Musikvideos noch fehlen könnte ist DOWNSET – ANGER. Ich trinke jetzt ein Bier. Prost!
Wieso ist WIZO doppelt?
@#722699: Ui, da sollte noch ein anderes rein. Danke für den Hinweis.
So wars. Toll wars.
Allerdings hat der letze Bus um 22:42 Uhr schon genervt.
Heute ist mir der Bus egal und ich weiß wie man Mc. Kinsey schreibt und kann noch nicht einmal mehr damit koketieren, dass ich es nicht wüsste.
Schade eigentlich.
„… und mit ihr stirbt ein kleines Stück Geschichte unserer Stadt (…) nur die Erinnerung besteht“ – WIZO war aber auch gut!
inzwischen haben die bands andere namen aber der sound & das balzverhalten der alb ist immer noch der gleiche… ganz abgesehen davon & um klischees zu bestätigen, mckinnsey-leutz sind doch immer aus dem gleichen holz. auffallen & dann umfallen, in etwa das gleiche wie die prinzen auf ner „punk“ party.
(Schöne) Traurige Geschichte…
ich muss sagen sehr schön geschrieben. Da kommen einem gleich eigene schöne Erinnerungen aus den Tagen der siebten / achten Klasse hoch.
ich schließe mich mal der nummer 2 an, ein prosit auf die Jugend ;)
@#722699: Wizo nicht? xD
Aber sonst toll geschrieben und wie schon bei teil 1 in jedem Jahrgang gibts so einen aber bei uns gabs keinen der 1 Flasche Jägermeister ge-ext hat…wow
hach. ich fühle mich plötzlich so zugehörig ;)
merci für diesen glorreichen teil II!
Großartig!
Bin wohl etwas jünger als der Autor aber da errinert man sich an seine eigenen Geschichten.
Ist das titelbild eine anspielung auf http://www.youtube.com/watch?v=OXicRdThoE4 ? > helge schneider (1987/88) über punks – in jedem fall eine bereicherung zum thema!
hätte gar nicht gedacht das wir fast zehn jahre auseinander sind vom alter her „¦ tolle schreibe. die sache mit dem punk sah bei mir indem alter ähnlich aus nur das es in der stuttgarter gegend anfang mitte der achziger der erste, wenn auch kaum bessere, aufguß war. aber ich konnte mit punk eh nie besonders viel anfangen.
„Wir brannten CDs …“ Naja, sooooo lange ist deine Zeit als Landei ja dann noch nicht her für die große Menge an „damals“ und „früher“ in deinem Text. ;-)
Coventrieren ist toll, musste lachen.
Schöner Text.
Bin vermutlich etwas jünger, aber die verlinkte Videos spiegeln meine Jugend recht gut wieder. Und einige Gefährten aus dieser Zeit sind schon auf dem selben Weg wie Jochen – ziemlich erschreckend wie sehr Menschen sich in ein paar Jahren verändern können.
Ich musste gerade wirklich lachen als ich die ganzen alten WIZO Sachen mal wieder gehört habe, Quadrat im Kreis ist bis heute noch einer Lieblingslieder. Bin jetzt 21 aber so unterschiedlich waren unsere Jugenden garnicht, nunja alles wiederholt sich.
Ah, die Erinnerungen.
Obwohl mir die Gnade der frühe(re)n Geburt zuteil wurde, und wir mit der Grunge-Welle aufwuchsen. Von Wighfield und Cotton Eye Joe blieben wir glücklicherweise verschont, und unser größtes Zugeständnis an den Mainstream war Rio Reiser.
Mit Wizo habe ich abgeschlossen, nachdem sie an unserer Schule aufgetreten sind, und wir feststellten, daß ihr Punk doch nur aufgesetzt war.
„Wir brannten CDs…“
an dieser Stelle habe ich aufgehört zu lesen, denn das war viel später und passt nicht in die Zeit der genannten Musik. Damals machte man sich noch gemischte Kassetten.
*Handheb für Downset – Anger*… oder angry days von Lagwagon..?
Das ist wirklich unabhängiger von Zeit und Ort, als ich gedacht habe. In meinem Heimatdorf im Saarland war es so dermaßen ähnlich, dass ich gerade mit einem irren Grinsen diesen Text verschlungen hab, der auch von mir hätte stammen können.
Nur viele unserer Freundschaften haben gehalten. Bis heute.
Wir sind Familienväter, wohnen in den unterschiedlichsten Bundesländern, haben die Welt bereist oder waren noch nie weiter als 25 Kilometer von Muttis Herd entfernt, aber wir haben alle unsere Lagwagon-CDs noch – entweder im Wechsler vom Mercedes Kombi, digitalisiert auf dem iPod im Flieger nach Berlin oder im Küchenradio daheim, falls Mutti abends mal nicht kocht weil sie doch bei der Krabbelgruppe im Pfarrheim aushilft…
Schöner Text, Danke!
@#738696: Verdammt Lagwagon. Stimmt. Lagwagon, dazu habe ich das erste Mal geküsst.