Wir sind in Istanbul, irgendwo in der Nähe der Blauen Moschee. Der Kerl vor uns hat es ziemlich eilig, vielleicht ist er auf der Flucht. Und so bemerkt er gar nicht, wie ihm die Schuhbürste aus der Tasche rutscht und ich sie aufhebe. Wir nähern uns dem Schuhputzer, der seinen Verlust inzwischen bemerkt hat, sich hektisch umsieht und erleichtert lächelt, als er die Bürste in meiner Hand entdeckt. Beinahe wäre er jetzt mit der Schuhbürste einfach verschwunden, doch sein Geschäftssinn erwacht gerade noch rechtzeitig. Er besteht darauf, mir die Schuhe zu putzen. Ich lehne dankend ab, dabei hätten meine Adidas eine Reinigung längst nötig. Der Kerl bleibt hartnäckig, er will seiner Dienstleistung nachgehen, also willige ich schließlich ein: «Na gut, mach mal.»
Wir suchen hinter einem kleinen Laster Deckung. Offenbar ist das kein lizenzierter Schuhputzer, der sich nun mit einer übel riechenden Paste an meinen Tretern zu schaffen macht. Ich schaue mich um, hoffentlich entdeckt uns niemand. Sie werden mich noch verhaften, ich sehe mich schon mit fünfzig anderen Männern mit düsteren Schnauzbärten in einer kleinen Zelle hocken. Ein Eimer als Toilette, Zeitungspapier als Klopapier und Abendbrot.
«Dabei wollte ich gar nicht, euer Ehren, aber er hat mich gezwungen! Hätte ich gewusst, was für Konsequenzen das haben wird, ich hätte die Bürste liegen gelassen.»
Ob mich die Bundesrepublik retten würde? Sicher nicht.
Der Schuhputzer schrubbt unbehelligt weiter und erzählt nebenher routiniert seine Geschichte: Er stamme aus einem kleinen Kaff, nicht weit von hier, er sei arm, habe drei Kinder und eine Frau, die daheim auf Geld warteten.
Ich glaube ihm kein Wort.
Der Kerl wischt und putzt, erst den einen, dann den anderen Schuh. Und sie glänzen, als er fertig ist und seine gierigen Krallen ausbreitet. Naiv hatte ich angenommen, er würde das alles umsonst tun, als Dank dafür, dass ich ihm die Bürste aufgehoben habe. Ich dachte, ich sei ein guter Mensch, der gute Mensch von Stambul, der wenigsten einmal das Richtige getan hat. Ich gebe ihm als Trinkgeld zwei Türkische Lira, was zu diesem Zeitpunkt etwa einem Euro entsprach. Davon, so meine Vorstellung, könnte er sich und seiner Familie ein neues Anwesen leisten, ein schönes Haus mit zwei Badezimmern und einem Gäste-WC. Was würden seine Nachbarn für Augen machen!
Der Schuhputzer lacht und verlangt zwanzig Lira.
Zwanzig?! Nun wirklich nicht. In meiner Hosentasche finde ich noch eine Münze, die lege ich drauf und will nun endlich weiter. Die Miene des Schuhputzers verdüstert sich, er versteht jetzt keinen Spaß mehr, er will sein Geld, zwanzig Lira! Er flucht und zetert, stellt sich uns in den Weg. Wir drehen uns um und gehen, der Schuhputzer bleibt schimpfend stehen und schleudert uns die Bürste hinterher. Sie verfehlt uns nur knapp und landet polternd auf der Straße.
Diesmal jedoch lasse ich sie liegen.