Ann-Lynn war wahrscheinlich das bezauberndste Kind der vierten Klasse. Nicht vom Standpunkt ihrer Mitschüler aus. Aber ein neutralerer Betrachter hätte sie wahrscheinlich als “scharfsinnig“ oder “verträumt“ bezeichnet. Ähnlich diffus verhielt es sich mit ihrem sozialen Status. Sie schwankte zwischen Außenseiter und Klassenmittelpunkt, was aber nicht unbedingt ein Widerspruch ist (das eine bedingt sogar das andere). Sie war etwas kleiner als der Klassendurchschnitt, hatte dunkles, lockiges Haar und braune Augen. Auf der Niedlichkeitsskala sprengte sie alle Kategorien. Ihre zwei Lieblingskleidungsstücke waren knallpinke Gummistiefel und ein gelbes mit Blümchen bedrucktes Kleid. Ihre Mutter konnte Ann-Lynn meistens davon abhalten, diese beiden Dinge in Kombination zu tragen. Vor allem wenn sie in die Schule ging. Das Kleid schaffte es allerdings dorthin wesentlich öfter als die Gummistiefel.
Ann-Lynn fuhr nicht gern mit dem Fahrrad zur Schule, da sie lieber gemütlich den Weg zur Schule ging. Radfahrer wirkten auf sie immer, als würden sie vor etwas fliehen. Und außerdem konnte sie den einen Kilometer zur Schule auch zu Fuß gehen. Und außerdem war es viel schöner so. Und außerdem konnte sie nicht gut Radfahren, was sie aber nicht gerne zugab. Nicht, dass sie nicht übte, allein das Talent fehlte ihr. Eltern machen sich schnell Sorgen (sofern sie es mitbekommen), wenn ihr Kind im Sportunterricht immer als letztes in eine Mannschaft gewählt wird. Aber meistens gibt es dafür gute Gründe. Zumindest solange “Gewinnen“ und “Wettkampf“ im Mittelpunkt der Veranstaltung steht, würde wohl niemand jemanden an seiner Seite haben wollen, der seinen rechten Arm koordiniert wie sein linkes Bein. Das heißt aber nicht, dass dieser jemand ähnlich gut Handball wie Fußball spielt, sondern eher ähnlich schlecht. Dafür besaß Ann-Lynn unbestreitbar andere Qualitäten: Mathe. Nicht gerade der “Soft Skill“ unter den Fächern, was sie für ihre teilweise recht dummen Mitschüler noch mehr wie eine Art außerirdische erschienen ließ. Zahlen und Rechnungen erschienen ihr sinnvolle Noten und Kompositionen zu sein, mit denen sie umgehen konnte wie ein Free Jazz Musiker mit Melodien. So ließ sich auch die vier in Sport ganz gut ausgleichen. Am Nachmittag lernte sie oft den Stoff der siebten Klasse. Heimlich.
Durch eine kleine Lüge im örtlichen Schreibwarenladen war es ihr gelungen, sich das Mathebuch für ihre große Schwester zu kaufen. Dass diese große Schwester nur in dieser Situation existierte störte die Verkäuferin nicht, da Ann-Lynn in Bar bezahlte und üppiges Trinkgeld gab. Keine weiteren Fragen euer Ehren. In die Mathetests baute sie öfter Fehler ein, damit es leider nur eine zwei plus oder eins minus wurde. Denn sie wusste, was sehr guten Schülern drohte: Noch mehr Schule! Diese wurden unter dem Deckmantel des Förderkurses für Begabte zu noch längeren Schulaufenthalten gezwungen. Teilweise bis weit in den Nachmittag hinein! Unglaublich.
Heute lag die Sache allerdings etwas anders. Es gab kein Entrinnen. Da sie ihre Eltern nicht davon überzeugen konnte, dass auch vom diesjährigen Ausflug in die Eissporthalle keine Steigerung ihrer Fähigkeiten zu erwarten war, sich auf zwei dünnen Beinen auf zwei dünnen Kufen auf ganz dünnen (und vor allem ganz glatten) Eis zu bewegen, musste sie mit. Ihre Eltern machten Ann-Lynn wiederrum darauf aufmerksam, dass sie sich auch gerade auf sehr dünnen Eis (und glatten!) bewegte, wenn sie noch weiter lamentierte. Also wurden die Trinkpäcken ruckzuck in den Rucksack zu den belegten Broten gepackt und auf ging es. „Die Schlittschuhe kannst du dir vor Ort ausleihen. Vergiss nicht deine Schuhgröße!“, sagte ihre Mutter. Das Verb “können“ umfasst nicht zwingend die Ausführung der Möglichkeit. Deshalb investierte sie das Geld lieber in eine große blinkende Maschine. Nach 15 Minuten kam allerdings der übellaunige Gastwirt des Eiscafés, der ihr erklärte, dass es Kindern nicht erlaubt sei, dieses ominöse Gerät zu bedienen. Das war also der Grund, weshalb es ihr durch einen wackeligen, sehr hohen Stuhl so schwierig gemacht wurde, das Gerät überhaupt erreichen zu können. Da Ann-Lynn ihr Geld aber bereits vereineinhalbfacht hatte protestierte sie nicht und überlegte sich, wie sie die letzten fünf Stunden und 30 Minuten ihrer Zeit füllen konnte. Geld auszugeben für Schlittschuhe erschien ihr widersinnig.
Sie verbrachte einige Zeit damit, den anderen Kindern auf dem Eis beim Fahren zuzusehen. Doch auch das wurde irgendwann langweilig. Immer diese unregelmäßigen Kreise und das ständige Hinfallen. Wozu es überhaupt probieren, wenn man doch immer wieder hinfällt? Diesem Gedanken hing sie etwas nach, bis auch er seinen Reiz verlor. Es folgte der schrecklichste Zustand, den ein Kind erreichen kann: Absolute Langeweile. In diesem Zustand vereinigt sich Antriebslosigkeit hemmungslos mit Nichtstun. Diese beiden Laufen dann Hand in Hand, mit bunten Hüten auf dem Kopf und runden Lutschern in der Hand über das weite Feld geistiger Teilnahmslosigkeit. Der Körper fährt auf die wichtigsten vegetativen Funktionen herunter, während der Geist langsam im unendlich tiefen Meer der Trägheit versinkt. Doch dieser Zustand ist höchst instabil. Das Kind weiß instinktiv, dass es gegen die elementaren Naturgesetze verstößt, indem es sich selbst dem Nichtstun aussetzt. Ein Kind tut nie nichts. Deshalb gleicht der Zustand immer mehr einem langsam schwelenden Bürgerkriegskonflikt, einem rauchenden Vulkan, einer sich anbahnenden Supernova. Physiker können den Zeitpunkt einer Supernova ziemlich genau vorausberechnen. In diesem Fall waren es 45 Minuten. Danach sprang Ann-Lynn auf und lief dreimal ohne anzuhalten um die gesamte Eisfläche. Das blieb auch den Lehrern, die den Ausflug betreuten, nicht verborgen und sie fragten sich, warum Eltern generell eigentlich immer an solchen Tagen ihren Kindern nicht die tägliche Dosis Ritalin verpassten. War es reine Bosheit oder doch nur…? Nein, es musste reine Bosheit sein! Auf solche Notfälle waren die Lehrer natürlich vorbereitet und mit einem ausgeklügelten Arsenal an Beschäftigungsmethoden bewaffnet. Sie nahmen sich des Kindes an und unterbreiteten Ann-Lynn den Vorschlag, sich wieder auf die Tribüne zu setzen und mit der netten Kunstlehrerin etwas zu malen. Als Ann-Lynn am Nachmittag nach Hause kam war sie doch recht versöhnlich gestimmt. Das malen hatte einigermaßen Spaß gemacht und sie hatte wenigstens etwas Produktives vorzuweisen. Sie packte ihre Tasche aus und legte alles auf den Küchentisch. Als ihre Mutter ein wenig später die Küche betrat, fand sie ein hübsches Bild von einem kleinen Häuschen mit rauchendem Schornstein im Grünen, auf dem die Sonne bis über beide Ohren strahlte, etwas zerknüllte Alufolie sowie 15 Euro in Münzen. Aber sie hatte ihr doch nur 10 Euro mitgegeben? Ann-Lynn war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.
Am nächsten Tag folgte der normale Schulalltag: Sachkunde, Kunst, Englisch, Mathe (Juhu!), Sport. Ein sich stetig steigender Spaßbogen, der den Höhepunkt unausweichlich bei Mathematik erreichte, nur um dann anschließend bei Sport abzustürzen wie ein Dachdecker bei Windstärke neun. In der zweiten Stunde bei Frau Hagemann wurden eifrig Kastanientiere gebaut. Je nach Steckposition der Zahnstocher war ein bunter Zoo aus Hunden, Kühen, Eulen und sogar Elefanten zu sehen. Ein gewisser Interpretationsspielraum ermöglichte nicht immer die einwandfreie Zuordnung der Spezies. Ann-Lynn hatte eher den Eindruck, dass sie gestern in der Eissporthallte genug Kunst betrieben habe und baute völlig unmotiviert einen Kugelfisch. Der sah aus wie eine Kastanie ohne Zahnstocher, wurde aber auch weiterhin auf Nachfrage der Lehrerin hartnäckig von Ann-Lynn als Kugelfisch bezeichnet. Kuka der Kugelfisch um genau zu sein. Ann-Lynn freute sich langsam doch auf 15 Minuten Pause. Im Englischunterricht wurden mal wieder die einzelnen Begriffe der Haushaltsgegenstände abgeklappert. Desk, Chair, Spoon, Knife. Kein großes Problem. Business as usual. Dann: Mathe! Schriftliches subtrahieren und dividieren mit bis zu vierstelligen Zahlen und Umrechenaufgaben von verschiedenen Größeneinheiten waren natürlich für jemanden kein Problem, der eigentlich schon Bruchrechnen konnte. Diese jemand war natürlich auch mal wieder als erste fertig und rechnete mit den Ergebnissen auf einem Schmierzettel weiter, um nicht weiter aufzufallen. Dann ging sie dazu über, ihre große Pause zu zerrechnen. In 15 Minuten hatte sie 900 Sekunden Zeit. Ann-Lynn dachte nach, was man alles in 900 Sekunden machen könnte. Sie hatte vor einigen Wochen mit ihrem Vater zusammen Leichtathletik im Fernsehen gesehen und sich einige Zahlen eingeprägt. Denn die Zahlen und nicht der Sport waren das Interessante daran. Man könnte 92,03 mal 100 Meter laufen. Man könnte 18,75 mal 100 Meter schwimmen. Man könnte 1,19 mal 5 Kilometer laufen. Man könnte 14,71 mal 1 Kilometer radfahren. Wie hat sie hingegen die große Pause verbracht? Sie hatte mit ihrer Freundin Sophie geredet. Für Morgen musste sie sich was anderes einfallen lassen, soviel war klar. Nie wieder 15 Minuten verschwenden! Dann doch lieber 69,23 mal 110 Meter hürdenlaufen. Das erinnerte sie dann doch langsam alles an den folgenden Sportunterricht. Herr Knopp fragt sicherheitshalber noch mal nach: „Hatte ihr denn gestern auch alle Spaß in der Eissporthalle?“ Ein leicht melodisches “Jahaaa“ aus 23 Kehlen ertönte. Zum Glück schrien die anderen so laut, dass Ann-Lynn Schweigen überhört wurde. Brennball und Turnen hießen Ann-Lynns Feinde für diese Stunde. Aber immerhin waren es bekannte Feinde. Die unbekannten Feinde mit all ihren neuen Regeln und unnatürlichen Bewegungsabläufen waren viel gefährlicher. Deshalb waren diese Feinde hier gute Feinde, denn Ann-Lynn wusste wie man sie besiegt: Möglichst wenig bewegen, möglichst viel trödeln. Wenn man beim Turnen fast an der Reihe ist, wieder unauffällig hinten anstellen. Die Schuhe viel öfter zubinden als nötig. Beim Brennball hinten in der Ecke stellen oder direkt neben jemand anderen. Beim Turnen viel Hilfestellung leisten. Beim Brennball auf Toilette gehen. Beim Turnen auf Toilette gehen. Generell öfter auls nötig auf Toilette gehen. Und schon ist so eine Sportstunde inklusive Schultag schnell vorbei.
Wieder zuhause angekommen gab es Mittagessen. Ann-Lynn war heute relativ müde nach der Schule und legte sich zusammen mit ihrer Mutter auf die Couch. Nach einigem hin- und herschalten blieb ihre Mutter bei Arte hängen. Ann-Lynn überlegte noch kurz, was sie heute Nachmittag noch machen könnte. Sich mit Sophie treffen oder doch etwas Lesen. Draußen spielen oder drinnen. All die Möglichkeiten verschwommen langsam zu einem Nebel. Sie kuschelte sich an ihre Mutter heran und schlief ein. Im Fernsehen lief eine Dokumentation über Andy Warhol.