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Dieser Artikel ist ein Leserbeitrag im Rahmen der Open-Spreeblick-Aktion.

Supernova aus Champagner

„Walking slowly down the hall, faster than a cannonball“ (Oasis)

Ich kenne jemanden, der mag Umwege. Umwege seien nicht immer negativ, sagt er dann, sondern vielmehr eine andere, interessantere Art ans Ziel zu kommen. Man sieht Dinge, die man auf den festgefahrenen Wegen nicht hätte sehen können, man bekommt ein neues Gefühl für Zeit, Entfernung, für die Umgebung. Leute die immer den kürzesten Weg wählten, kennten sich häufig in ihrer eigenen Stadt nicht aus, weil sie so viele Straßen dort noch niemals betreten hätten.

Falls eine solche Sichtweise heute noch als verrückt oder schräg angesehen würde, täte mich das wundern. Es ist doch tatsächlich viel Wahrheit darin. Wer sich umschaut sieht immer nur gehetzte Menschen. Doch häufig ist es nicht echter Streß, fehlende Zeit, die sie antreibt, sondern eine Art Pseudo-Druck, eine Hetze, die zwar auf den ersten Blick real erscheint, auf den zweiten aber plötzlich völlig überflüssig.

Was ich tagtäglich erlebe, ist, daß…

  • … Leute bei Rot über die Fußgängerampel laufen, weil kein Auto kommt. Auf der anderen Seite stellen sie sich dann an die Bushaltestelle und warten zehn Minuten auf den nächsten Bus.
  • … ich mit erlaubten 70 auf irgendeiner Landstraße daherfahre, und irgendwer von hinten anrauscht und mich waghalsig überholt. An der nächsten Ampel hole ich ihn dann immer wieder ein. Zeitersparnis: eine Autolänge – meine.
  • … Leute sich in Straßen- und S-Bahnen hineindrängen, während die Personen von drinnen noch nach draußen strömen, als hätten sie Angst, die Bahn fahre ohne sie ab. Man kann diesen Leuten auch unterstellen, daß sie wissen, daß es konzeptuell einfacher ist, einen Raum mit sich selbst zu füllen, wenn er vorher geleert wurde. Dabei ist ein rarer Sitzplatz nicht einmal die oberste Direktive vieler Einstiegsdrängler, denn sie bleiben gleich an der Tür stehen (damit sie natürlich auch wieder als erste rauskommen).
  • … Trampelpfade über Grünflächen häufig Wege markieren, die kürzer sind, als die Betonwege drumherum. Manchmal sind sie es nur um wenige Meter.

Woher kommt das? Was ist da an uns, um uns, das uns dazu bringt, alles als Wettrennen zu sehen? Was macht man wirklich bewußt mit diesen gesparten Bruchteilen von Sekunden? Was ist in dieser Kultur falsch gelaufen, wenn sie jedem das Gefühl gibt, sich beeilen zu müssen, auch wenn es faktisch keinen Vorteil hat?

Seit ich über sowas nachdenke, nehme ich manchmal nach der Arbeit den längeren Weg nach Hause. Statt Schnellzug Straßenbahn. Ich brauche doppelt solange, habe aber Orte kennengelernt, von denen ich gar nicht wußte, daß sie zwischen den beiden Orten, an denen ich die meiste Zeit physisch präsent bin, existieren. Außerdem habe ich mehr Zeit zum Lesen. Und das fühlt sich gut an. Abends komme ich dann ganz entspannt zu Hause an. Habe Abstand gewonnen von der Arbeit und nebenbei etwas gemacht, das ich liebe. Ich habe mehr Zeit verbraucht und fühle mich trotzdem weniger gehetzt. Seltsam.