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Dieser Artikel ist ein Leserbeitrag im Rahmen der Open-Spreeblick-Aktion.

Wissensdurstige Zombiehorden

Es ist unklar, welche Umstände mich herführten – Zufall, Schicksal oder doch nur ein kräftiger Windstoß: Alles ist möglich. Klar ist nur, dass ich mich zwischen den Bücherregalen befinde und so tue, als würde ich mich für all das hier interessieren, für Chemie, für Biologie, für Quantenphysik. Und wenn mich auch sonst eine Begierde nach Informationen treibt, gilt mein Interesse einzig einem Gesicht und braunen Haaren, die an einem eleganten Rücken herabfielen. Der Rücken gehört zum Körper der Buchverkäuferin, die gerade irgendwas in den Computer tippt.
Ich bin nur ein Kunde, ich bin nur irgendjemand. Doch ich will nicht nur einer von hunderten sein, ich will, dass ihr Lächeln nur mir gilt.
Ich muss sie ansprechen, jetzt sofort.
Oder doch lieber morgen?
«Nein, jetzt!», brüllt mir Charles Darwin von einem der Buchcover entgegen. Und in diesem Augenblick taucht am Regalende plötzlich diese bezaubernde Person auf. Ich erschrecke, mit dieser plötzlichen Nähe hatte ich nicht gerechnet. Wie viel Zeit war nur vergangen, wie lange hatte ich vor den Büchern verbracht?
Mein Kopf ist leer, denn mein Gehirn hat sich prompt aus dem Staub gemacht. Ich bin auf mich alleine gestellt.
«Kann ich Ihnen helfen?», fragt sie mich.
«Ich suche nur was zu lesen», sage ich. Und das ist schon eine äußerst originelle Erklärung, wenn man bedenkt, dass ich mich in einem Buchladen befinde. «Eins habe ich schon», ergänze ich stolz und halte tatsächlich ein Buch hoch, – kann mich mal bitte jemand stoppen?
«Okay», sagt sie, vielleicht aber auch etwas anderes, vielleicht gar nichts. Sie kehrt zu ihrem Computer zurück. Das hier ist eben keine Bar, in der sie dauerhaft angebaggert wird, das ist die verdammte Fachbuchabteilung, wo man sich höchstens der intellektuellen Lust nach Wissen hingibt.

So sollte das nicht laufen, so kann ich das nicht enden lassen. Zaghaft folge ich ihr und gebe meine Deckung auf. In diesem Moment taucht von rechts ein dürrer Zombie auf, er trägt Halbglatze, sein Resthaar ist blutgetränkt. Er will ebenfalls zu ihr, er ist ein echter Kunde, der sich wirklich für die dicken Wälzer interessiert, ganz besonders für Täterbiografien.
«Sagen Sie mal, haben Sie auch die Himmler-Biografie von Peter Longerich?», fragt er röchelnd und schiebt sich die eckige Brille auf der zerfetzten Nase zurecht. «Die Biografie über Heinrich Himmler – haben Sie die?»

Ein zweiter Zombie kommt rein, auch er hat eine Frage und schon einen Zettel in der Hand. Es passiert alles sehr schnell, ein dritter Greis rempelt mich an, ein vierter niest, ein fünfter justiert seine linke Gesichtshälfte. Und sie alle haben mindestens zwei Fragen, sie alle wollen zu ihr, sie alle wollen ihre Aufmerksamkeit. Der Zustrom an stöhnenden Zombies reißt nicht ab, sie kommen von allen Seiten, hustend und übel riechend. Es ist eine Horde, eine stöhnende Unendlichkeit an Glatzen und Brillen, so viel Fleisch und so viele graue Jacken …

Und ich komme einfach morgen wieder.