In den vergangenen zehn Jahren bin ich mit vielen Politikern in Kontakt gekommen. Anfangs haben mich ihre Reden fasziniert. Irgendwann fand ich sie zynisch und schließlich widerlich. Mit Menschen, die auf Macht aus sind, stimmt etwas nicht. Sie sind regelrecht psychisch krank.
Diese Sätze stammen aus einem FR-Interview mit der iranischen Filmemacherin und Persepolis-Autorin Marjane Satrapi. Neben ihrer Abneigung gegen Machthungrige beschreibt Satrapi in dem Gespräch, wie sie ihre politischen Aktivitäten auf kulturelle verlagert hat. Das klingt hier und da etwas esoterisch, doch die grundsätzliche Frage stellt sich Frau Satrapi ja nicht als Erste oder gar Letzte: Was ist wirklich politischer? Ein Blogbeitrag gegen S21 oder ein Lied, das jemanden zum Weinen bringt?
An die letzten Wochen im deutschen Medien- und Netzland angepasst und daher etwas anders gefragt: Welche Show bewegt mehr? Die mit Wulff oder die mit ProSiebenSat1? Ich stimme für die letztgenannte.
Bei der Wulff-Show wird schließlich nur der Eindruck erweckt, als gäbe es eine Publikumsabstimmung, und gesungen wird niemals live. Ein wenig Twitter-Aufregung hier, die ein oder andere Facebook-Debatte, täglich neue Enthüllungshäpchen, wertvolle Primetime-TV-Sendezeit und immer mal wieder eine Umfrage: Wir dürfen uns so fühlen, als hätten wir etwas zu sagen und als bekämen wir Informationen.
Wirklich entscheiden tut jedoch nur die altbekannte Jury, bestehend aus Regierung, Presse und BILD. Und das ist dann auch der Grund, warum eine weitere Berufspolitiker-Pfeife am Amt festhält, obwohl es keinen einzigen Grund mehr dafür gibt, doch solange Mutter Merkel und Papa Diekmann nicht das Go! geben, tritt hier niemand zurück. Zu sehr lieben wir ja unsere täglichen Serien, zu gerne fragen wir uns, wie es wohl weiter geht. Und so werden wir wohl noch ein bisschen auf die Folter gespannt, obwohl die Artikel mit dem Titel „So viel Bezüge erhält Wulff nach seinem Rücktritt!“ sicher schon geschrieben sind, wir uns also schon jetzt auf Fortsetzungen freuen dürfen.
Bis dahin wird weiter „Salami-Taktik“ vorgeworfen, während selbige in jeder Redaktion zur Scheibchen-Berichterstattung dazu gehört (Dramaturgie!); es wird sich weiter über täglichen Alltag wie unterschiedliche Zinssätze für unterschiedliche Kunden gewundert; und es wird weiter so getan, als wären Absprachen – versuchte wie durchgesetzte – zwischen Politik und Presse ein einzigartiges Phänomen.
Die für die Jahreszeit ungewöhnlich hohen Temperaturen müssen daran schuld sein, dass jetzt schon Sommerloch ist.
Immerhin, das bleibt festzuhalten: Keinem Bundespräsidenten zuvor ist es gelungen, das deutsche Volk so zu einen, wie es Christian Wulff derzeit tut. Bild dir deine Meinung ein.
Doch bevor ich mich der Entwicklung mitschuldig mache, dass Links zur BILD plötzlich irgendwie okay zu sein scheinen und das Blatt auch noch für irgendetwas anderes als skrupellosen Sensationsjournalismus stehen soll, konzentriere ich mich lieber auf wirklich gutes Entertainment und freue mich auf die nächste Folge von The Voice of Germany und damit auf Mainstream-Unterhaltung der besseren Machart. Durch und durch beinahe perfekt inszeniert, mit einer großartigen Live-Band besetzt, die sogar Radioheads „Creep“ unpeinlich hinbekommt, und fast schon grenzwertig freundlich: Dass ich mich von einer Show aus dem Hause Endemol noch einmal gut unterhalten fühle, ohne mich zu schämen, das überrascht mich derzeit mehr als alles andere.
Denn wenn schon Theater, dann doch bitte richtig. Und mit festem Termin für die letzte Show.
„The Voice of Germany“ ist wirklich gutes Entertainment? Unpeinlich? Beim gucken nicht schämen müssen?
Ich glaube, ich habe eine andere Sendung gesehen als du. Eine (wie immer) peinlich auf jugendlich machende Nena, ein peinlich auf cooler Rocker machender Raemonn-(Softrock-)Sänger, ein peinlich nur mit Sonnenbrille auftretender Naidoo, eine peinlich ausschließlich positiv hechelnde Jury, peinlich einen auf „Coaches“ statt „Jury“ machen, aber die Kandidaten null coachen, ein peinlicher Moderator, der selbst nicht weiß, was er sagen soll, ein absolut peinlicher Off-Sprecher, peinliche Tonprobleme, peinlich zusammengebastelte Jubel-Dramaturgien in den Vorrunden, peinlicher Jingle … ich weiß gar nicht, wo ich aufhören soll.
Hast du mal eine Folge der letzten Staffel von X-Factor gesehen? Da würde ich all deine positiven Statements unterstreichen. Aber TVOG ist einfach nur, genau: peinlich. (Bis auf die Teilnehmer)
Ist es nicht ein Blogger-Dogma gegen die Mainstream-Presse zu schreiben und sich auf diese Weg ein Alleinstellungsmerkmal zu sichern? (Ich verurteile das nicht, finde es sogar wichtig um eine andere Denkrichtung einzuleiten – aber Dogma bleibt Dogma). Verpasst es eine derartige Blogkultur gerade durch diese Grundhaltung, einen nicht länger tragfähigen Präsidenten angemessen zu kritisieren? Ich finde: ja.
Wer glaubt, dass eine „Jury entscheidet, bestehend aus Regierung, Presse und Bild“ verkennt die eigenen Möglichkeiten und gibt sich auf.
Besser überheblich als unterwürfig.
Und: Ja, die Bezüge für einen Präsidenten der nicht eine komplette Amtszeit geschafft hat sind viel zu hoch. Sie gehören angeprangert. Sie gehören letztlich aber auch geändert.
Resignation ist keine Lösung.
Der Unterschied ist halt, dass es sich bei der einen Sendung um den Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland dreht (auch wenn der derzeitige Amtsträger sich nicht wie einer zu benehmen weiss) und bei der anderen um irgendwelche unbedeutende Gesangstalente, von denen uns irgendwann ein paar mit unbedeutender Popmusik belästigen (man möge mich korrigieren, ich habe in die Show höchstens mal kurz reingezappt, gehe aber davon aus, dass sie sich nicht wesentlich vom Rest dieser Sorte unterscheidet).
@#797956: Den Tipp mit X-Faktor nehme ich gerne an, denn ich schaue wenig TV und hatte ehrlich gesagt den Glauben aufgegeben, dass mich irgend etwas in dieser Richtung unterhalten könnte – weshalb ich von TVOG überrascht bin. Mag aber sein, dass es besseres gibt.
@#797957: Ich weiß nicht, ob es Blogger-Dogmen gibt, falls ja, interessieren sie mich nicht. Ich habe nichts gegen die klassischen Medien (schließlich beginnt der Artikel mit einem Link zur FR), aber der Zirkus mit Dompteur Diekmann geht mir auf den Keks.
Ich gebe dir aber recht, dass Blogs gerade Möglichkeiten verpassen. Z.B. die zur Debatte um den Stand des Politikers per se und die um die Aufgaben eines Bundespräsidenten im Detail (und welchen Sinn und Zweck sie heutzutage noch haben oder haben sollten). Viel mehr könnten sie (Blogs) derzeit kaum leisten, denn welcher Blogger wird schon ähnlich mit Infos gefüttert wie andere Medien? Kaum einer. Und anders als bei Guttenberg kann hier nicht einmal Fleißarbeit in der Recherche geleistet werden.
Aber Resignation? Niemals, ist nicht meine Art. Aber Selbstüberschätzung eben auch nicht (oder selten :)). Stattdessen, und das ist ein Kern des vielleicht etwas wirren Posts, der mal wieder versucht, fünf Gedanken unter einen Hut zu bringen, vielleicht der Gedanke, sich mehr um Kultur statt um Politik zu kümmern.
Warum diese Aufregung um Wulff? Er ist Bundespräsident und außer den Präsidenten a.D. Richard von Weiszäcker und Köhler hat doch eh kaum jemand von den bisherigen Amtsinhabern Notiz genommen. Es ist in meinen Augen im Moment eine Generalabrechnung mit der Politik. Herr Wulff kann sich eben nicht auf „Systemrelevanz“ oder „alternativlosigkeit“ des Tagesgeschehen herausreden. Er steht da und müßte sich stellen, macht er aber nicht. So verpufft dieser Stellvertreterprotest irgendwann und zielt an den eigentlich gemeinten vorbei.
Aber ist im Vergleich zum Wahnsinn, der allerorten weitergeht eigentlich etwas passiert. Wulff ist doch ein kleiner Fisch, nicht mehr und nicht weniger.
Und, um die Kurve zu kriegen, das Leben spielt sich woanders ab. Meinetwegen bei The Voice. Denn hier wird den menschen etwas schönes geboten. So ganz ohne kommen wir halt nicht aus ohne die Momente der Normalität, die unsere Seele einhüllen – da kann auch Herr Wulff nichts dran ändern.
Jury hin oder her. Es wird bemerkenswerterweise so getan, als hätten Rücktrittforderungen irgendeine tatsächliche Relevanz. Die haben sie nicht. Den Bundespräsidenten kann man nicht abwählen oder mal eben aus dem Amt jagen. Er ist lediglich absetzbar, wenn er das Grundgesetz verletzt. Wulff wird das wissen. Jede Diskussion darüber ist eine Phantomdiskussion.
Er ist zwar das Ziel einer gewissen Grundunzufriedenheit mit der Politik, aber auch nur das. Das Problem ist offenbar, dass das diffuse Gefühl der Unzufriedenheit keinen anderen Ausdruck findet.
Ich finde das Konzept toll, Künstler im Zweikampf gegeneinander antreten zu lassen. Ist wie in Rom nur ohne Blut.
Auf das sich diese Leistungs- und Rivalitätsmentalität auch dem letzten ins Hirn brennt. Es wird gesungen um zu Siegen!
Wenn ich auf die Tautologie „täglicher Alltag“ hinweise, kann mir das natürlich die Frage einhandeln, ob ich mal von meinem weißen Schimmel runterkommen könne.
@berlinerbaer: Du sagst es.
Wieso, das Theater der Niedertracht, dass Herr Diekmann da zur Aufführung bringt, ist doch durchaus unterhaltsam? Was für ein Einblick in die schleimigen Abgründe des BILD/Politikbetriebs! Herr Wulff ist eher mittelmäßig besetzt, aber der Diekmann: Medienprofi Hilfsausdruck!
Aber im Ernst, mir wären Mallorca-Urlaube mit schrecklichen Leuten und spießige Häuser und geschenkte Klamotten total schnurz – aber zu behaupten, dass es dafür nie nie nie, ich schwör auf Koran, Alter! die kleinste Gegenleistung gegeben hat, beleidigt meine Intelligenz mehr als die BILD das je könnte. In vielen Firmen und auch unter Beamten sind sogar kleinste Kundengeschenke verboten, warum bloß?
Als Hajo Schumacher gestern bei Hart aber fair meinte, wie unangemessen, die Demonstranten am Schloss Bellevue mit ihren Schuhen in der Hand doch wären (weil Wullff sei ja schließlich kein arabischer Despot), fiel mir auf, wie unterschiedlich unsere Assoziationen dieser Szenerie waren.
Ob Wulff den Grüßaugust macht, interessiert mich eigentlich kaum. Das halte ich allenfalls relevant für den Kaffeklatsch am Sonntagnachmittag, zusammen mit den Planungen der Royal-Hochzeit. Nein, ich dachte daran, wie toll es ist, wenn die westliche Welt auch mal Brauchtümer aus dem islamischen Kulturkreis übernimmt. Ein weiteres, winzig-kleines Indiz, wie die Welt zusammenwächst.
@#797969: Kann passieren. Das mit der Doppelung. :)
@#797974:
>Kaffeklatsch am Sonntagnachmittag
>westliche Welt auch mal Brauchtümer aus dem islamischen Kulturkreis übernimmt
>1683
;)
Die Kritik an der Presse kann ich nicht so recht nachvollziehen. BILD ist jedenfalls nicht schlechter als sonst, eher im Gegenteil. SPIEGEL ist so gut oder schlecht wie immer, mit dem unangenehmen Beigeschmack dass sie einer Meinung sind mit BILD – aber das ist jetzt auch kein Jahrhundertereignis.
Wulff benimmt sich allerdings für einen Präsidenten außergewöhnlich daneben: Er vertuscht seine fragwürdigen Geschäfte, versucht völlig naiv die Story zu verhindern und droht mit Krieg. Und wir wundern uns, dass die Presse ihm daraufhin ihre volle Aufmerksamkeit widmet?
Wenn wir von einem Medienkrieg sprechen wollen, ist es doch was Herr Wulff herausgefordert hat. Hier die Presse zu kritisieren ist in etwa so weltfremd, wie der Schwerkraft die Schuld für das eigene Übergewicht zu geben…
Nachher alles besser wissen wollen.
Ihr mögt es mir glauben, oder auch
nicht. Der „junge“ Politiker namens
Wulff trifft (s-/k-) eine Entscheidung,
ein Staatsamt zu übernehmen, welches
ansonst „ältere“ Herren innehatten,
um danach in den Ruhestand zu gehen.
Das war von Beginn an undenkbar.
Mein ja nur
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Johnny, du bist nicht alleine.
Ich finde die Talente, die tvog da aufgetrieben hat, sehr beachtlich. „Creep“ von Michael Schulte hat es mir angetan und „Drops of Jupiter“ von Percival. Bei „Roxanne“ von Rüdiger Skoczowsky sind mir die Synapsen durchgegangen. Und es gab noch viele andere gute Sachen. Moderatoren, Coaches, das ganze Drama und Geschluchze, na gut. Wenn es hilft, dem ein oder anderen eine menschliche Regung zu entlocken, dann ist auch das gut. So gesehen hätte ich auch nichts gegen eine reine Hugshow, 90 Minuten jederdrücktjeden, na und? Und Wulff? Wird nicht singen.
Etwas mehr Gelassenheit und Konzentration auf die wirklich wichtigen Probleme würde uns allen gut tun. Die jetzige Politikergeneration geht gerade genauso unter wie die Plattenfirmen, die Zeitungen und bald die Buchverlage.
Das wird schon. Persönlich finde ich Musik tatsächlich mächtiger als Politik. Und sehr schön, dass man mit dieser Macht nicht viel anstellen kann. Ausser Menschen zu berühren.