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Micha ist nicht mehr mein Freund

(Ein Gastbeitrag von Ingo Neumayer.)

Ich kenne Micha* seit der fünften Klasse, also seit über 35 Jahren. Wir haben viel erlebt. Ich habe ihn gestützt und zum Sanitäter geschleppt, als er sich im Zeltlager beim Holzkleinmachen in den Fuß gehackt hat. Wir waren in derselben Handballmannschaft, ich im Tor, er als Spielmacher in der Mitte. Als wir Meister wurden, haben wir im Sportheim die mit Sanwald-Weizen gefüllten Stiefel kreisen lassen, so lange, bis auch alles andere kreiste. Wir haben zusammen bei Karstadt geklaut, einer stand Schmiere, der andere hat eingesackt: Comics von Walter Moers, die „Nevermind“ von Nirvana. Einen Sommer, als Michas Eltern im Urlaub waren, hing ich ständig bei ihm ab. Wir haben „Bachelor Party“, eine echt flache Tom-Hanks-Komödie, in Dauerschleife gesehen, wir haben Fliegen gefangen, ihnen Bindfäden ans Bein gebunden und sind dann mit ihnen Gassi gegangen. Dienstags sind wir ins „Musicland“ gefahren, da war Mark-Tag: Bier, Wodka-Lemon, Batida-Kirsch, alles für eine Mark. Und samstags sind wir die 100 Kilometer nach Stuttgart, zum Fußball. Erst nur ab und zu, später mit Dauerkarte zu jedem Spiel. 

Read on my dear…
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Vreitagsvers, der einundfünfzigste

this song kills fascists

das rad, das feuer, klettverschluss
das auto, chips, die windel
die toleranz, den zungenkuss
das jod, die tür, den kindle

der mensch erfindet tag und nacht
er klopft, er schraubt, er lötet
doch eines ist noch nicht erdacht:
ein lied, das nazis tötet

ich sänge es von wien bis kiel
nach passau würd ich sausen
dann weiter: über bonn und wiehl
nach königs wusterhausen

ich trällerte die melodie
der nazi: *würg* und *reiher*
zerfällt zu brauner sülze. iihh!
nun seht mal, wie ich feier

Zuhause, auf Zwölf Zeilen zur Zeit, zockt Ingo Neumayer tagtäglich so lange mit der deutschen Sprache, bis sie ihm einen sinnigen Reim spendiert.
Vreitags gibt er auf Spreeblick einen aus.

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Vreitagsvers, der neunundvierzigste


eine eigene ampel

sie sieht mich schon von weitem kommen
sie zögert kurz, dann wird sie rot
die bremsen quietschen unbenommen
ich habe zeit. ich schlag sie tot

die straße ist mein wartezimmer
wann wird sie grün? ich wär bereit
doch nichts. sie ignoriert mich immer
vernichtet sinnlos lebenszeit

geduld ist eine schöne tugend
für auftragskiller, renter, hacker
mein motto: vorwärts wie die jugend?
wird ausgebremst vom rotlichtmacker

ich könnt acht jahre älter sein
mit restlos abgehakten plänen
die ampel will das nicht, sagt nein
die wut spritzt nun schon in fontänen

drum ist jetzt schluss mit dem gehampel
zu lange litt ich stumm und still
ich bau mir eine eigne ampel
dann kann ich fahren, wann ich will

Zuhause, auf Zwölf Zeilen zur Zeit, zockt Ingo Neumayer tagtäglich so lange mit der deutschen Sprache, bis sie ihm einen sinnigen Reim spendiert.
Vreitags gibt er auf Spreeblick einen aus.

4

Vreitagsvers, der achtundvierzigste

das würde des menschen ist unantastbar

ich will ein bessrer mensch gern sein
was gäb ich, wenn ichs würde
moralisch, klug, sensibel, fein
doch da ist eine hürde

zwölf meter hoch ragt sie empor
ich springe doll und doller
doch ich bin, sieht mein schicksal vor
kein seiner, nur ein woller

trotz scheitern bleibt die zuversicht
der vorsatz ist ein hehrer
ich schwöre dir, ich ende nicht
als hättekönntewärer

Zuhause, auf Zwölf Zeilen zur Zeit, zockt Ingo Neumayer tagtäglich so lange mit der deutschen Sprache, bis sie ihm einen sinnigen Reim spendiert.
Vreitags gibt er auf Spreeblick einen aus.

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Vreitagsvers, der siebenundvierzigste

früher

es gab mal ne zeit, als die beatles noch lebten
nicht einer. nicht zwei. auch nicht drei. alle vier!
als die drogen noch wirkten und die tesas noch klebten
und man zahlte einsfuffzich* für den halbliter bier

es gab mal ne zeit, als ein kind noch ein kind war:
spielte draußen. mit freunden. kein handy. kein mac
der kanzler ging stündlich zu seiner absinthbar
und fast niemanden störte die luft voller dreck

es gab mal ne zeit, da war wohlstand verpflichtung
ich war doch dabei, also muss ich es wissen
pessimismus verboten. nur nach vorn ging die richtung
diese zeit, die war furchtbar, einfach öd und beschissen

*dm nicht euro

Zuhause, auf Zwölf Zeilen zur Zeit, zockt Ingo Neumayer tagtäglich so lange mit der deutschen Sprache, bis sie ihm einen sinnigen Reim spendiert.
Vreitags gibt er auf Spreeblick einen aus.

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Vreitagsvers, der sechsundvierzigste


fliegen mit dem bräsidenten

der präsident fliegt gern und viel
das bringt das amt nun mit sich
mal malle, mal ist sylt das ziel:
“auf platz 1a, da sitz ich!”

ganz vorne in der business class
mit freiheit für die beine
“betttinchen, willst du auch ein glas
vom sekt aus der ukraine?”

wer das bezahlt? wulff wutentbrannt:
“na, ich!” – war wohl gelogen
nun ist der mann der offnen hand
aus seinem schloss geflogen

Zuhause, auf Zwölf Zeilen zur Zeit, zockt Ingo Neumayer tagtäglich so lange mit der deutschen Sprache, bis sie ihm einen sinnigen Reim spendiert.
Vreitags gibt er auf Spreeblick einen aus.

3

Vreitagsvers, der fünfundvierzigste

kapitän geht, präsident bleibt

der präsident war angezählt
von vorne wind, im rücken wand
zur demission schon fast gequält
da ging ein kapitän an land

die zeitung freut sich: neue sau!
sie wird wie wild getrieben
der wulff frohlockt in seinem bau
das amt scheint ihm geblieben

denn journalisten, wie man weiß
sind nicht nur faul und hässlich
verlogen, käuflich (je nach preis)
dazu kommt: sehr vergesslich

das multitasking nicht ihr spiel
die hirne weich vom vino
zwei bösewichte sind zu viel
der wulff heißt jetzt schettino

Zuhause, auf Zwölf Zeilen zur Zeit, zockt Ingo Neumayer tagtäglich so lange mit der deutschen Sprache, bis sie ihm einen sinnigen Reim spendiert.
Vreitags gibt er auf Spreeblick einen aus.

5

Vreitagsvers, der vierundvierzigste

hiding

klagelied einer duckmaus

wer bmw und porsche fährt
der frisst auch kleine kinder
die brut wird skrupellos verzehrt
wie curryhuhn beim inder

wer diesel und ed hardy trägt
von dem ist es erwiesen
dass er sehr gerne katzen schlägt
fies grinst wie liam neeson

wer nickelback und coldplay mag
der soll das land verlassen
so ist mein leben tag für tag
ich kann nix außer hassen

wenn jemand anders denkt als ich
geschmacklich oder ethisch
dann werde ich zum wüterich
zumindest theoretisch

denn wahr ist das: ich komm gut aus
mit allen jungs und damen
konflikt und streit sind mir ein graus
ich sag stets ja und amen

nach außen grins ich. innen flammt
die wut. ich hör sie schmatzen
und irgendwann wird sie mitsamt
der stummen hülle platzen

Zuhause, auf Zwölf Zeilen zur Zeit, zockt Ingo Neumayer tagtäglich so lange mit der deutschen Sprache, bis sie ihm einen sinnigen Reim spendiert.
Vreitags gibt er auf Spreeblick einen aus.

3

Vreitagsvers, der dreiundvierzigste

wir scheißen auf den mindestlohn

verrecken solln die kranken
die unterschicht kriegt nichts, nur hohn
wir retten lieber banken

alleinerziehend, kinder: drei
kaum brot, kein geld zum tanken
die umwelt stirbt? uns einerlei
was zählt, sind unsre banken

die würde steht im grundgesetz
na toll, wem kann ich danken?
wie fische zappeln wir im netz
und wer kassiert? die banken

Zuhause, auf Zwölf Zeilen zur Zeit, zockt Ingo Neumayer tagtäglich so lange mit der deutschen Sprache, bis sie ihm einen sinnigen Reim spendiert.
Vreitags gibt er auf Spreeblick einen aus.

5

Vreitagsvers, der zweiundvierzigste

bye-bye bunga-bunga-boy!

es jubeln merkel, schäuble, schmidt
sarkozy und obama
madonna, clooney, gates und pitt
selbst fry von futurama

es feiern attac, bnd
james blunt und alice schwarzer
mercedes, gottschalk, vfb
die bonzen und die hartzer

es applaudieren monsieur gung
der aufsichtsrat von sony
die welt hüpft vor begeisterung:
ciao-ciao sagt berlusconi

Zuhause, auf Zwölf Zeilen zur Zeit, zockt Ingo Neumayer tagtäglich so lange mit der deutschen Sprache, bis sie ihm einen sinnigen Reim spendiert.
Vreitags gibt er auf Spreeblick einen aus.

3

Vreitagsvers, der einundvierzigste

wie tim bendzko seinem zukünftigen manager im bad begegnete

der deutsche mann, er hat es schwer
wohin mit den gefühlen?
sie müssen raus. es drückt so sehr
beim abendlichen spülen

er geht ins bad. er sucht sich rat
von wasch- zu jammerlappen:
„mach doch musik!“ – „das klingt probat!
nur welche? soll ich rappen?“

„iwo“, der frotteementor spricht
„da kann doch keiner kuscheln.“
„dann rock?“ – „du depp! wohl nicht ganz dicht!
mach schnulzpop mit viel puscheln

und texten, die dich in den spalt
der schlagerhölle reißen!“
der deutsche mann (so ist er halt)
tut, was man ihm geheißen

Zuhause, auf Zwölf Zeilen zur Zeit, zockt Ingo Neumayer tagtäglich so lange mit der deutschen Sprache, bis sie ihm einen sinnigen Reim spendiert.
Vreitags gibt er auf Spreeblick einen aus.

2

Vreitagsvers, der vierzigste

der weiße apfel fällt vom stamm

am anfang war er pariah
dann gründer einer ethik
bill gates bekämpft malaria
steve jobs die unästhetik

er hat funktion mit stil vereint
sein motto: weiter laufen
und eine weiße welt designt
die nicht nur hipster kaufen

nun steht er still, sein lebenslauf
ach tod, du dummer fucker
jetzt warten wir vergebens auf
nen schön- und guten drucker

Zuhause, auf Zwölf Zeilen zur Zeit, zockt Ingo Neumayer tagtäglich so lange mit der deutschen Sprache, bis sie ihm einen sinnigen Reim spendiert.
Vreitags gibt er auf Spreeblick einen aus.